lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
Florian Voß
 
 
lauter niemand 5
 
Abendgebet
 
Die Nacht schon sitz ich
und schlag ein Eisenstück auf´s Herz
damit es weiterschlägt

Die Nacht ist klein und grau

Richte mir ein Bett aus Schlamm
Deck mich zu mit Dreck
Der Herrgott gibt´s den Seinen

 
All hollows eye
 

Die Koffer und die Kisten
gepackt mit alten Tagen
gezählt und abgewogen
Und draußen vor den Fenstern
die Nacht in vielen Teilen
zerschnitten und gefärbt
mit blauen Durchschlagbögen

Die Lebenden die Toten
verharren eng beisammen
und was sie trennt ist weiter
nichts als größte Kälte
und dünne Schichten Nacht

 
 
Interzone / Zwischenreich
 
An den Autobahnen saßen die Eulen
Zwischen den Nebelländern glitten
die riesenhaften Flügel der Windräder
in das weiche Grau der Nebelbänke
die über die Straßengräben drängten

In die Nebelschwaden fuhren wir ein
im japanischen Wagen eines Toten
dessen Wohnung langsam auskühlte
nahe der Stadt Castrop-Rauxel

Als wir ankamen, hatte die Stadt sich
in ihr bestes Rupfenkleid geworfen
und empfing uns mit einer Symphonie
aus blauweiß beleuchteten Gyros-Buden

In der Wohnung des Toten war niemand
nur die Familie stand im diffusen Licht
der Deckenlampen und las versunken
was auf den Rücken der Bücher stand
vermaß dann die Länge der Schränke
die Länge der Bänke, die Kisten
Der Teppich war weich und weiß und kalt

(für Henning Frederichs)

 
 
lauter niemand 3
 
Pathologie
 
Die Waschbecken
aufgebrochene Brustkörbe
in den rotesten Ecken
des mittaglichen Damenklos
totstarr die Fliegen
auf lackiertem Fensterbrett
Im Dunst der Flüssigkeiten
ein Rundumschlag der Sonne

Die Zeichen an der Kachelwand
singen von den Illusionen
des unverfälschten Augenblicks

Rote Schatten unter Schüsseln
voll von feuchtem Klopapier
 
 
literaturlabor 26.05.02
 
(13.04.02)
Morgenandacht
 
Dieses gelbe Fenster hinter den Kastanien
zwischen den ersten hellgrünen Blättern
Dieser Geschmack zwischen den Zähnen und Zahnfleisch
nachdem du die U-Bahn verlassen hast
Diese Fahrt dieses Neon diese Nerven
Und dann am Morgen entlang
Der Himmel hat seine schwarzen Bänder
von den Stufen der Nacht gelöst
Dieser verschossene Tag
der Himmel ist eine Palette
mit falsch gemischten Farben
Und diese Sehnsucht nach warmen Brot
Dieses Sehnen zwischen den Zähnen und Zahnfleisch
nach einem Stück Weißbrot
belegt mit einer dünnen Schicht Nacht
schwarz und glänzend und süß
 
 
literaturlabor 14.04.2002
 
Kierling bei Klosterneuburg, Sommer 1924
(Franz Kafka)
 
Der Blutauswurf in großen Flecken
auf dem Schnee des Taschentuchs
Wer hat mir diesen Rorschachtest
als tägliches Rezept verschrieben?
Der Doktor in dem weißen Kittel
unter dem sich seine Rippen wölben?
Ein Traumdeuter aus Wien
oder einer anderen dunklen Stadt
hinter einem anderen hellen Fluß
auf dem der Doktor seinen Nachen
gemächlich an das Ufer stakt

Das Blut steigt langsam an
in den Chitinflügeln der Lunge
Insekten kratzen meinen Rachen
mit träge-steifen Beinen auf
Die Schriftzeichen der Käfer stehen
in den Höhlen meiner Bronchen

und draußen tanzt die Sonne
zwischen den Geländerstreben des Balkons
Die Sommervögel schreien
Die Kurkapelle walzt ihr Blechgestöhn
durch die Lungenflügel meines Fensters

Ich schau mit stillen Augen
auf diesen Rorschachtest
Das Feldbett wiegt schwer
 
 
Wien, Winter 1828
(Franz Schubert)
 
Weiße Birken die hinter den schwarzen Latten
meiner Erinnerung hervorwachsen
Hinter dem Klavier das achtgeteilte Fenster
das Sonnenlicht bricht gischtig durch die Scheiben
Glas - Reflexe auf der Brille
Im Hof fingern die Birken - Weiße Tasten Schwarze Tasten
Tonflecken zwischen den Strahlen der Sonne

Eiskratzer auf den Laken meines Bettes
Und Schneehügel - gefrorenen Schlieren die tanzen
zwischen den Falten des Leinens
Warmer Speichel an meinem Kinn
Und ein Fetzen Musik der auf meinem Trommelfell federt
Die Laken schmiegen sich an die Wölbungen des Körpers
Meine Knochen pochen fiebrig - Die Muskeln Die Haut
schwammigweich - so weich als könnte ich
einen Finger geräuschlos zu den Knochen stechen

Das achtgeteilte Fenster - Das Licht
das durch die Staubluft wirbelt
Der Drehorgelspieler auf der Gasse
leiert Fetzen von Musik in die Kammer
Barfuß auf dem Eise / wankt er hin und her
 
 
Paris-Montparnasse, Winter 1920
(Amadeo Modigliani)
 
Ölige Sardinendosen
auf fleckigem Zeitungspapier
Ein Meer aus Bleisatz
das durch mein Atelier wogt
Staub in den Winkeln
der mir grau entgegenleuchtet
uns sich vervielfacht
wächst und wächst
Dünen aus Staub
Und Sardinenköpfe
die aus Dosen hervorquellen

Das leise Singen meiner Frau
am Waschtisch
der Wasserkrug
und ihr Gesicht
wie es im Spiegelglas zerfließt

Ich habe Staubflocken im Mund
und meine Augen sind getönt
Bleiweiß und Kobaltblau
Ich habe all die Fische gegessen
Ich höre seit Tagen schon
das Kreischen dieser Möwen
das unter der fleckigen Decke
entlangfließt - vor und zurück
- vor und zurück

Ob die Knochen meiner Frau
genauso bleiweiß sind
wie die Haut - nachdem
das Fleisch zerfallen ist?

Meine Haut spannt trocken
- nicht grundierte Leinwand
mit Kohlekreuzen
auf Händen Brust und Bauch

Und das Flimmern der Wellen
an der fleckigen Decke
Die gewölbten Gräten Fischerboote
abgesunken in die Dielen
Und ölige Sardinendosen
Särge aus gestanztem Blech