Richard Sivél:

Wohl stand ich Wörter

Wasser liegt auf den Steinen; viel Wasser. Wir sitzen am Rand und sahen hinüber. Unser Blick ging weit geradeaus und flach. Nach dort drüben, wo sie stehen, bewegungslos, metallgepanzert, standen sie auf dürr gewinkelten Beinen, die Köpfe in den Rumpf geduckt und wie aufgefädelt auf einer Leine, auf einer Schnur. Nach einem Plan stehen sie: auf der anderen Seite. Am Rand. Auf spröden Beinen, breitgegrätscht mit Riesentorax, stocksteif zerbrechlich und satt, diese… diese… Gottesanbeterinnen… ja, das ist das Wort: Gottesanbeterinnen.
Vier standen in einer Gruppe uns beiden direkt gegenüber. Klein sahen sie aus in unseren Augen, die mit ihren Blicken so weit übers Wasser springen mußten. Sie standen dort und warteten: um die Bäume postiert, die Fangarme in den Himmel geklappt, im Rücken die Wiese, die ruhig über Bodenwellen ausrollte, um an einer brüchigen Mauer – wenigstens glaube ich, daß die Mauer brüchig war – steil wegzufallen. Sie aber warteten (worauf?) und hielten ihre Köpfe hoch über den Baumkronen.
Neben ihnen schob sich ein Häuserblock massig bis an den Grüngürtel und trennte sie von ihren Artgenossen. Große braune Schiebetüren verschlossen den weißen Putz, blinde Fenster und obendrauf: eine geschwungene Dachform. Alt war das Haus. Und groß. Aber selbst über dieses konnten die Gottesanbeterinnen hinwegspähen. Trotz ihrer in den Rumpf geduckten Köpfe.
Wasser liegt auf den Steinen, viel Wasser, und wir standen am Rand, wo wir sitzen, und blickten hinüber. Kein Knistern kam von dort. Vor uns Wasser und wir standen drüber, wohl standen wir, was hätten wir auch sonst tun sollen auf diesen rundgewaschenen Steinen, wo sich hinter uns die Böschung herabsenkte, bröselndes Gestein (; weiße Bröckchen kullerten uns unter den vorsichtig gesetzten Schuhen weg als wir hinunterstiegen und nur an wenigen trockenen Grashalmen Halt fanden; Staub puderte auf und zeichnete unsere Kleidung mit bleichen Bögen und krähenfüßigen Linien).
Wo dieses Wasser liegt, wo standen wir wohl – du warst neben mir und ich roch deine Stimme, wortlos, aus den geschlossenen Lippen kriechen. Ganz nah am Rand – sprachen wir nicht, sahen hinüber. Dann gab es einige Minuten, da nahm ich einen Stein, einen flachen und immer wieder, um ihn auf dem Wasser springen zu lassen. Daumen und Zeigefinger waren eine Klammer; der Arm schwang seitlich aus und die Knie schön eingeknickt, um den Stein im spitzen Winkel auf die Oberfläche zu setzen – dabei sah ich dieses Glitzern vor mir und war nicht sicher, ob es ein Spiegel oder ein blaues Band zu nennen wäre – oder ob nicht gar beide Namen völlig an der Sache vorbeizielten ;; aber was war es dann, was da vor mir -- dräute? ;; sah ich das Glitzern, unentschlossen, so daß jeder Wurf schon bei der zweiten Berührung laute Spritzer aufklatschte und untertauchte und hinuntertrudelte, von einer Strömung getrieben, die man nicht wahrnehmen konnte, aber die doch da sein mußte – und selbst das schaukelnde Absinken des sorgfältig ausgescharrten Steins konnte ich nicht sehen, natürlich nicht, aber in mir sah ich es doch. Schließlich war der Stein unten angelangt. Und Wasser liegt auf ihm.
Zurückgelehnt beobachtetest du mich. Es mußte in dir summen, denn als ich mich umdrehte, von den flachen Steinen enttäuscht, und für dich, Dace, meine Augen öffnete, bewegten sich deine Hände und Arme auf den angewinkelten und zusammengepreßten Knien, und zeichneten Figuren vor deinem Körper. Und auf deinem linken Backenknochen, leuchtete es rot und aufgequollen, eine kleine Pustel, vielleicht… Aber es war ein Mückenstich aus der vergangenenen Nacht: immer dieses Zirren und Surren im Ohr, daß man kein Auge zu tun kann, daß man mit der klatschenden Hand den Störenfried – und sich selbst in den Schlaf – zu ohrfeigen beginnt, und daß man vorher schon mit Besen und Zeitung die vergilbten Wände und die bröckelnde Zimmerdecke abklopft, bis einige schwarze Flecken frisch dazugequetscht sind. Ich sah auf diesen rot herausgespitzten Mückenstich und auf deine weit auseinanderstehenden Füße – und mir wurde klar, daß es nicht die Steine waren, von denen ich enttäuscht war und die mich spröde machten.
Du lächeltest.
Ich setzte mich neben dich und wir sahen hinüber. Bis mir dieses Wort einfiel: Gottesanbeterinnen, das du natürlich nicht verstehen konntest und das ich dir erklären mußte. Du nicktest. Und weiter saßen wir im weißen Staub der Steine, wo wir sitzen, vor uns lag Wasser. Bewegungslos in unseren Augen. Glitzernd.
Dein Arm bewegte sich, die Hand zog sich zusammen und spitzte sich in den gestreckten Zeigefinger. Ich hörte Worte: „Ist das Wasser bereits gestiegen?“
Ich schwieg.
„Wird es noch steigen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Aber gerade du! Du solltest das doch wissen!“
Ach Dace… „Es kann Ebbe sein. Oder Flut. Was weiß denn ich!“
Du beugtest den Kopf nach vorn, deine Haare hatten sich schon längst vom Ohr her freigependelt. Ich sah deinen Nacken mit angespannten Sehnen in die Schulter laufen, als ich dich seufzen hörte, die Lippen leicht geöffnet und die Zähne festgekniffen. Grau war deine Stirn gerunzelt, die Augen schwammen schwarz, bis sich ein Lächeln gewaltsam freifror: „Wieso steigt das Wasser? Es regnet doch nicht! Gerade du, du solltest das doch wissen!“, wandte sich dein Kopf ab von mir.
Natürlich regnet es nicht, denn der Himmel ist völlig kahlgeleckt und klar wie Lack. Und ich sollte es wissen!? Was ich wissen werde, in einigen Monaten vielleicht, wenn ich an den weißen Resopaltischen, zwischen den brummenden Geräten, sitze, sind Zahlen… Zahlenreihen… die sich dunkel auf viel, viel Papier schwemmen werden – und was werden die schon sagen können.
Ich schluckte diesen Gedanken hinab und wollte dich berühren, wollte meine Fingerspitze auf deinen Nasenflügel legen, seine Form nachschwingen, wollte neben dir sitzen und summen, Dace…
Wir sitzen am Rand, und Wasser liegt auf den Steinen, viel Wasser. Einer steht abseits und lacht, eine rotglühende Zigarette in der Hand. Ich höre euch sprechen. Drei von euch beginnen ein Lied zu singen, ein pulsender Rhythmus, und du springst auf, an der Hand geführt. Ihr tanzt. Dein Oberkörper biegt sich zurück, von seinen Muskeln gehalten. Deine knochigen Arme, sehe ich den eingehakten Griff deiner Hände, die Sehnen aus dem Fleisch springen. Ein zweites Paar setzt neben euch Tanzschritte auf die rundgewaschenen Steine. Christaps reicht mir eine Flasche Wodka, wortlos, aber ich weiß doch: snabs! snabs! wie sie auf dem Markt in die Luft schreien, die Hände in den Hosentaschen, wirr in die Luft mit ihren Rufen stochern, da es ja verboten ist, und jedem der vorbeihuscht lesen sie sein Desinteresse an den Lippen ab. Snabs ar apelsinu sulu ist es, das würd’ ich schon verstehen, und greife lächelnd, aber stumm, nach der Flasche, die einen Schluck durch meine Lippen brennt.
Und du klappst deinen Körper um, schnellst hoch, halb hochgezogen, drehst du dich in seinen Armen. Ich seh dich lachen, höre platzende Töne von deinen Zähnen fallen. Ihr tanzt, ihr beiden – die anderen auch, oder lachen. Und ich sitze, sehe: Glitzern.
Aber eure Finger deuten übermütig drauf los, nach drüben, auf diese steifgegrätschten Ungetüme, stahlverkrustet auf versproßten Beinen, flachgeschädelt, fangbearmt und demutssatt, stehen sie da und warten, warten auf Nahrung, auf Ladung, damit es weiter geht, warten sie starr am Wasser, zwischen Bäumen und vor großen Lagerhallen und ihr deutet mit leuchtendrunden Augen und eure Hände fächeln Freude in die Luft und natürlich: Wörter sind zwischen euch, fremd, sprudeln bunt und vokalbeladen, Wörter Pingpong…
…aber das da drüben, das sind… Gottesanbe-terinnen! Das sieht man doch: Gottesanbeterinnen! Die ganze Stadt ist voll damit. Diese, diese… Stadt… ein wimmelndes Insektenloch. Ihr aber… Wörter stachlig aus der Kehle geworfen, klirren die Flaschen und werden in den Mund gestopft. Und wenn die leer sind, wenn die Sonne das eigene Licht erdrosselt und Sterne in den schwarzen Himmel spießt, wenn die Steine mit weißen Strichen in unsere Kleider greifen… werden wir gehen, zur großen Brücke und auf die andere Seite. Der Verkehr ist stumm dann, kein Bus, keine Tram, nur ab und zu vorüberdröhnende Reifen. Wir gehen zusammen über das viele Wasser, und drüben trennen wir uns, jeder vom eigenen Weg geführt… unser Weg ist durch die Altstadt, am Bahnhof vorbei, zur Moskauer Vorstadt… und spätestens dort stehen sie… in einer aufgefädelten Reihe am Straßenrand: die Trolejs. Mit geschlossenen Türen weigern sie sich unser Billet zu kompostieren. Die Trolejs. Dürre Stromabnehmer herunter und an den Wagenrumpf geklappt: schlafende Heuschrecken, die Sprungbeine nach hinten gestreckt…, Dace.
Wir stehen, und Wasser liegt auf den Steinen, viel, viel Wasser, und wohl standen wir auch; du aber wirbelst auf der Stelle, Körper geschleudert, knickst mit Knien unter gegrätschen Schritt, die Haare nach hinten und ausgelassen, während die drei immer noch singen; und ich sitze, sitze, die Kleider vom Kreidestaub krähenfüßig gezeichnet; diese Monate zuvor: dachte immer: ich wache auf und hänge mit den Füßen in der Luft, hänge ich und kann mich bewegen und zappeln, die Zehen spreizen, bei klarstem Bewußtsein, aber der Boden kommt nicht näher; ich hänge und denke und bewege und habe Wörter – aber wozu? da ja alles… beendet ist? Nun also ist diese Zeit vorbei und ich bin hier: und es ist wirklich wie meine Schrift, mit der ich meine Gedanken durch diese Stadt und in ein schmales Heft trage; die Buchstaben ohne Arme ohne Füße, nachgemachte Buchstaben, die sich in die Seiten fressen, aus Knoten in lose Enden auseinanderfallen: gefrorenes Rückgrat, das meinen Kopf wie eine Nuß umklammert, bröckelnde Fassade ohne Treppenhaus – und habe keinen Schlüssel auf der Zunge.
Wie ich sie hasse!
SIE, die da ist und durch meine Ritzen schlüpft, die alles bedeckt, und tief liegen sie unten, diese diese… Aber wie denn. Wie denn, wenn man draußen steht. Mit Augen und Ohren, aber man ist doch da, ist Chitin und kann sich nicht, kann sie nicht / ich meine, es gab doch eine Zeit, in der ich, wie ein Kreidestrich ;;; Wie ich sie hasse, euch deuten und klangumrauscht -- wendet sich gegen mich, unter den Füßen weg, gab es immerhin eine Zeit, da hatte ich, ohne Anspruch, wie gesagt: Gottesanbeterinnen – feilt euch nur die Lippen blank, kennt ihr nicht, und ich soll es, ausgerechnet ich! an den Rand genietet durch den Fall der Worte, mückenzerstochen kann nichts mehr pflücken, weil, obwohl alles voll, doch vorbeigegriffen, schon falsch vorbei! deuten tanzen namenschleudernd --- und wie denn, wenn man draußen steht und der aufgeklappte Schlund ist rachenverpfropft: zu ;; nur Klumpen von den Zähnen fallen: Lehm in der Luft.
Lehm, den man dann lieber nicht benutzt; vielleicht ist das besser so: sich abwenden, mit schiefem Mund, langsam weggehen, und die ersten Menschen, die man trifft, die werden einen anstarren, trotzdem: schiefmäulig geh ich an ihnen vorbei und weiß nicht, wo mein Mund ist: das Gesicht gerät ins Rutschen. Geröllgefeldert.
Und ich beschweige und die andern: tanzen schwitzen, Lippen hecheln aufgelüstert und ich sitze am Rand. Dort ist Wasser, auf den Steinen, viel, viel Wasser und wohl stand ich hier, aber jetzt: Wasser steigt. Ohne Regen: der Himmel kahlgefressen. Wasser, morastigschwarz, steigt, umteert Füße, tanzend tretend taumeln wir – und bin ich aufgestanden – krallt um Schenkel Hoden – auf den Steinen, rundgewaschen – kreideweiß und Krähen-Linien frißt Wasser, die Kleider schwer, lachen schreien hören wir uns laut, in uns, um uns, Wasser, Wörter Namen Klänge-Flut, vollgesogen, vorbeigezielt und deuten wild auf starr gepanzerte, dort drüben, satt herausgekantet: Gottesanbeterinnen: bewegungslos warten sie, auf Nahrung auf… Wasser am Hals, hör ich eine Winde knistern, Töne vom Wind geritzt im Trommelfell, während drüben etwas Frachter heißt und Strömung pfählt, während drüben geduckter Kopf an klirrendem Faden Ladung zu sich zieht. Natürlich steigt es – weiß ich ohne Zahlen…Zahlenreihen: schwarzfleckig, stumm, auf Papier zerquetscht; weil wir saßen wo wir standen, wohl stand ich hier, über den Steinen auf den Steinen, Wasser angesetzt in Lippen einzubrechen: Wasser in Rachen Säure schrammt treibt krankes Gas Schorf und Schwefel brennt in Lungen Kohle Blech und Rost pellt sich Kunststoff Schlick in Venen ätzt; gurgeln hustend Wörter ausgerotzt ersaufen Leichen zwischen brüllen amputiert und blaß: werden wir Kadaver ;; keuchen schwimmen wo wir saßen standen, ausgeschwätzt, würgt und fangbearmt Wasser Kleidung schwer Krakengriff: Kadaver ;; und hier war ich nun und wohl stand ich…
viel Wasser liegt.

 

Theodora präsentiert

Zurück zur Startseite