Aus der Berliner Zeitung. Dat um: 25.01. 2003 Ressort: Magazin Autorin: Anja Reich
Mister Mailer, Sie werden in ein paar Tagen 80 Jahre alt und es erscheint
ein neues Buch von Ihnen.
Ja, genau an meinem Geburtstag. Am 31. Januar. Ich dachte, das ist lustig. Man
wird ja nur einmal 80. Wahrscheinlich jedenfalls. Es sei denn, es gibt Reinkarnation.
Aber auch das ist keine Garantie, dass ich ein zweites Mal so alt werde. Es
ist Ihr 32. Buch, und das erste übers Schreiben. Das klingt, als wäre es ein
Abschluss. Das ist es hoffentlich nicht. Ich schreibe noch an einem Roman, der
hat bisher 200 Seiten und wird mich wahrscheinlich den Rest meines Lebens beschäftigen.
Worum geht es in diesem Roman?
Darüber möchte ich nicht sprechen. Gut, dann reden wir über das Buch, das schon
fertig ist. Warum schreiben Sie gerade jetzt übers Schreiben? Ein Kunstprofessor
namens Michael Lennon sagte vor etwa einem Jahr zu mir: Wissen Sie eigentlich,
wie viel Sie über das Schreiben zu sagen haben? Seit 40 Jahren reden Sie über
das Schreiben. Er hat mir alles gezeigt, was er gesammelt hatte. Das waren mehr
als 900 Bemerkungen aus Interviews, Essays und Büchern. Es war ein Buch. Ein
Lehrbuch? Ja, aber keins für Anfänger. Es geht um all diese Sachen, die du beachten
musst, wenn du Romane schreibst oder Essays. Ob man besser in der dritten oder
in der ersten Person schreibt. Was man gegen eine Schreibblockade macht.
Was machen Sie, wenn Sie eine Schreibblockade haben?
Du musst erst einmal verstehen, was los ist. Ich glaube, dass ein großer Teil
der schriftstellerischen Arbeit im Unterbewusstsein abläuft. Das Unterbewusstsein
bereitet ganze Kapitel für dich vor. Es dient dir. Es ist so etwas, was ein
griechischer Sklave für die Römer war. Und du musst diesen Sklaven mit großer
Höflichkeit behandeln, damit er nicht bockig wird und auch liefert. Wenn du
eine Schreibblockade hast, heißt das, dass das Unterbewusstsein Krieg mit dir
führt, weil du es auf irgendeine Art und Weise missbraucht hast. Können Sie
dafür mal ein Beispiel nennen? Junge Schreiber denken oft, dass es hilft, den
nächsten Tag abzuwarten, wenn es nicht gut vorangeht. Aber dann kommt vielleicht
ein Freund vorbei und erzählt dir von einem Mädchen, das er kennen gelernt hat
und er fragt dich, ob du Lust hast, zu einem Doppeldate mitzukommen. Und du
sagst ja, weil du denkst, ein bisschen Ablenkung ist gut. Aber in Wirklichkeit
kannst du danach überhaupt nicht mehr schreiben. Du erlaubst dir, dich zu amüsieren,
und das Unterbewusstsein spielt verrückt. Es hat das Gefühl, als würdest du
es alleine im Regen stehen lassen.
Früher haben Sie in New York gelebt. Jetzt wohnen Sie hier in Provincetown
auf einer ruhigen Insel. Ist dieser Umzug ein Zugeständnis ans Schreiben gewesen?
Ich liebe New York, insbesondere Brooklyn. Ich bin viel rumgezogen, jahrelang.
Ich bin fünf Nächte pro Woche weggegangen. Das kann ich jetzt einfach nicht
mehr. Ich kann nicht mehr die ganze Nacht trinken und reden, mich amüsieren
und dann am nächsten Tag arbeiten. Die Arbeit ist mir wichtiger geworden.
Wann haben Sie das gemerkt?
Es ist einfach passiert. Ich habe keine Entscheidung getroffen. Erst bin ich
nur im Sommer hergekommen. Das Haus war ja erst ein richtiges Sommerhaus, ganz
weiß und sehr kühl. Im Winter allerdings war es ungemütlich. Wie eine Kunstgalerie
im Schnee. So vor 15 Jahren hat meine Frau das Haus dann neu gestaltet. Jetzt
ist es im Sommer manchmal ein bisschen zu heiß. Aber insgesamt hat sich der
Handel gelohnt. Ich schlafe sehr gut. Die Luft hier draußen ist wunderbar.
Leben Sie gesund?
Ich trinke nur noch eine Tasse Kaffee am Tag. Ich trinke immer noch gerne Alkohol,
aber nicht mehr so oft, weil meine Knie nicht mehr mitspielen. Ich habe Arthritis.
Und ich höre auch nicht mehr so gut, wie Sie sicher gemerkt haben.
Ihr Haus steht direkt am Meer. Stehen Sie früh auf und sehen sich den Sonnenaufgang
an, bevor Sie anfangen zu schreiben?
Ich bin nicht mehr früh aufgestanden, seit ich bei der Armee war. Stimmt es,
dass Sie Kreuzworträtsel raten, um sich aufs Schreiben einzustimmen? Ja, aber
ich bin nicht besonders gut darin.
Was brauchen Sie noch zum Schreiben?
Es darf nicht hell sein. Ich mag dunkle Räume. Ansonsten reichen mir ein Blatt
Papier und ein Stift.
Sie schreiben mit der Hand?
Ich werde wohl einer der letzten Mohikaner sein. Ich würde einen Computer nicht
einmal anschalten. An meiner Handschrift kann ich ablesen, in welcher Stimmung
ich gerade bin. Für mein erstes Buch "Die Nackten und die Toten" habe ich eine
Schreibmaschine benutzt. Aber schon mein zweites habe ich mit der Hand geschrieben.
Als ich fertig war, habe ich es abgetippt und zum Verlag geschickt. Ein paar
Bücher sind auf diese Art entstanden. Ich mag Schreibmaschinen. Du kannst am
Anschlag hören, wie es dir gerade geht. Die Journalisten, die heute in einer
Nachrichtenredaktion arbeiten, tun mir Leid. Da hörst du nichts mehr. Da ist
es so ruhig wie in der Kirche. Früher, wenn du in eine Nachrichtenredaktion
gegangen bist, mein Gott, war das laut. Das hat das Blut zum Rauschen gebracht.
Es scheint aber ziemlich aufwändig, Manuskripte mit der Hand zu redigieren,
vor allem wenn sie mehrere hundert Seiten dick sind wie Ihre. Ich bin verwöhnt.
Ich faxe alle meine Sachen zu meiner Schwester Judith. Sie schreibt sie am Computer
ab und schickt sie zu mir zurück. Judith arbeitet seit 24 Jahren für mich. Sie
ist einer der wenigen Menschen, die meine Handschrift lesen können.
Sie haben 32 Bücher geschrieben, so viel wie kaum ein anderer Schriftsteller.
Müssen Sie immer schreiben?
Ich bin auch sehr glücklich, wenn ich nicht schreibe. Aber ich muss auf jeden
Fall immer wieder damit anfangen. Und wenn ich arbeite, dann arbeite ich. Ich
mache dann fast nichts Anderes mehr als Schreiben. Ich gehe nicht einmal mehr
ans Telefon, weil es mich ablenkt. Ich kenne nicht viele erfolgreiche Schriftsteller,
die immer nur dann schreiben, wenn sie gerade Lust dazu haben. Schreiben ist
Schuften. Harte Arbeit. Sie schreiben Romane, Essays, Reportagen, Drehbücher.
Was fällt Ihnen am schwersten? Am schwierigsten ist der Roman, weil du sehr
wichtige Entscheidungen zu treffen hast. An einem bestimmten Punkt ist das,
was deine Hauptfiguren machen, so bedeutend wie ein Wechsel in der Karriere
deines eigenen Lebens. Im Laufe der Jahre entwickelst du aber eine gewisse Routine,
wie ein Bauer, der weiß, ob es morgen regnet oder nicht. Du bekommst einen Sinn
dafür, wo dein Buch hingeht. Bei einem Gedicht ist es ganz anders. Das kommt
über dich wie ein Geschenk. Du schläfst, wirst wach und hast plötzlich ein Gedicht
im Kopf. Eine Reportage zu schreiben, ist auch wieder etwas ganz Anderes. Es
ist sehr intensive Arbeit, du arbeitest rund um die Uhr, du hast Druck, Aufmerksamkeit,
bist aufgeregt, hast das Gefühl, nicht alles unterzubekommen. Das dauert aber
höchstens eine Woche oder einen Monat. Es ist lockerer, angenehmer. Du wirst
nicht mitten in der Nacht wach, weil dir ein wichtiger Absatz eingefallen ist.
Ich habe immer gerne Essays und Reportagen geschrieben, weil ich die Geschichte
praktisch schon geliefert bekommen habe und mir keine Sorgen machen musste,
was meine Figuren tun. Sie leben ja wirklich, sie tun Dinge und ich muss das
nur beschreiben.
In Ihrem Buch "American Dream" gibt es eine Szene gleich am Anfang, wo ein
Mann - Der Psychoanalytiker, der gerade auf einem Doppeldate mit Jack Kennedy
war? - Genau. Dieser Mann steht auf der Balkonbrüstung und will sich umbringen,
aber dann fällt ihm ein, dass er noch zu viel Arbeit erledigen muss. Sind Sie
das? Hält Sie das Schreiben am Leben?
Wissen Sie, man fühlt sich sicherer, wenn das Leben einen Sinn hat. Und das
Schreiben hat mir immer diesen Sinn im Leben gegeben. Manchmal ist es wunderschön,
manchmal ist es deprimierend. Du schreibst nicht so gut, wie du schreiben willst.
Dann wird dein Lebenssinn mit Füßen getreten. Ich habe eigentlich Glück gehabt.
Auf dem College habe ich einige der besten amerikanischen Schriftsteller gelesen.
Da war ich 17 und wusste, dass ich Bücher schreiben wollte. Später, als die
Zeiten härter waren, wollte ich Psychoanalytiker werden oder Feuerwehrmann.
Ich habe gemerkt, dass Schreiben zu anstrengend ist und ich dachte, wenn ich
nicht gut genug bin, sollte ich was Anderes machen.
Viele Ihrer Hauptfiguren scheinen Ähnlichkeit mit Ihnen und Ihrem Leben
zu haben. Es sind Männer, die ein sehr exzessives Leben führen, in New York
und in Provincetown wohnen, Affären haben .
Oh, ich würde nicht sagen, dass sie mir ähnlich sind. Das tut weh. Sie haben
sicher mit mir etwas gemein, aber sie sind doch ziemlich anders als ich.
Wie viel von Ihnen steckt in den Figuren, über die Sie schreiben?
Vor zehn Jahren habe ich einmal Warren Beatty für "Vanity Fair" interviewt.
Er hatte gerade einen Film beendet, der "Bugsy" hieß. Er war sehr gewalttätig
in dem Film. Ich habe ihn gefragt, Warren, sind die Leute jetzt anders zu dir?
Haben deine Freunde Angst vor dir? Er sagte, nein, die meisten meiner Freunde
sind Schauspieler. Sie verstehen, dass ich nur eine Rolle spiele. So ähnlich
ist das mit dem Schreiben. Du brauchst nicht die Person zu sein, über die du
schreibst. Du brauchst nur fünf Prozent mit dieser Person gemein zu haben. 50
Prozent wäre einfacher, aber fünf Prozent reichen.
Vielleicht entsteht auch der Eindruck, Sie schreiben über sich selbst, weil
Sie oft in der Ich-Form erzählen. Warum machen Sie das?
Es ist eine Herausforderung. Vor allem, wenn man über Menschen schreibt, die
besser sind als man selbst. Mutiger, schöner, größer, was auch immer. Wenn du
immer nur Charaktere in deinen Büchern hast, die so sind wie du, und nicht besser,
dann stoßen deine Bücher an Grenzen.
Haben Sie deswegen über Jesus Christus geschrieben?
Der französische Schriftsteller Jean Malaquais hat einmal zu mir gesagt, ein
Schriftsteller kann über jeden schreiben, über einen General, einen Kinostar,
aber über einen darf er nicht schreiben, über einen Schriftsteller, der besser
ist als er selbst. Ich habe gesagt, in Ordnung. Ich werde über Jesus schreiben.
Er ist nobler und moralischer als ich. Aber er ist ja kein Schriftsteller, und
die Geschichte ist so gut, ich werde es versuchen. Aber dann kam das Problem,
schreibe ich in der ersten oder dritten Person? Viele haben damals gedacht,
was ist los mit diesem Mann? Er ist ein Verrückter! Er denkt, er ist Jesus Christus!
Ich habe das nicht gedacht. Ich musste es in der ersten Person schreiben. Ich
wollte Stellen aus dem Evangelium benutzen. Wenn du das in der dritten Person
machst und die Leute schlagen nach, und da steht es dann ganz anders, das ist
irritierend. Außerdem wollte ich auch provozieren. Ich wusste, sie würden alle
sauer auf mich sein und außer sich. Das hat mich sehr gereizt.
Sie provozieren gerne. Im Internet stehen Sie auf der Liste der 20 schlimmsten
Liberalen des Landes, weil Sie nach dem 11. September gesagt haben, dass die
Amerikaner begreifen mussten, dass die Terroristen keine blinden Fanatiker waren,
sondern brillant. Jetzt werfen Sie Ihrer Regierung vor, mit dem Krieg gegen
Irak die Welt erobern zu wollen.
Ich will die Amerikaner schockieren. Sie sollen sehen, was aus uns geworden
ist. Für mich gleicht dieses Land derzeit einem Mann, der sieben Fuß groß ist,
300 Pfund wiegt, nur aus Muskeln besteht, sehr gut aussieht und sich alle drei
Minuten versichern lassen muss, dass er nicht unter den Achseln riecht.
Also jemand, der seine Kraft nur zur Schau stellt und in Wirklichkeit schwach
ist?
Sehr schwach. Unsere Probleme nach dem 11. September sind immens geworden. Die
Wirtschaft liegt brach. Dann diese ganzen Enthüllungen in der katholischen Kirche.
Das hat das Land sehr erschüttert. Die Katholiken waren immer ein stabiler Faktor.
Ein Grund, warum in diesem Land nie die Arbeiterklasse eine Revolution angeführt
hat, ist, dass es in der Arbeiterklasse zu viele Katholiken gibt.
Sie haben neulich in einem Interview die derzeitige Situation in Amerika
mit der in Deutschland nach der Inflation in den 20er-Jahren verglichen.
Die Inflation in den 20ern in Deutschland hat eine Stimmung von Desorientierung
und einen Mangel an Selbstwertgefühl geschaffen. Das hat Hitlers Erfolg vorbereitet.
Es war ein Element, nur eines von vielen. Den Schock vom 11. September kann
man damit vergleichen, in dem Sinn, dass er eine Schleuse geöffnet hat für sehr
schlechte Dinge.
Glauben Sie wirklich, die Amerikaner wollen die Welt erobern?
Ich glaube, dass es eine Tendenz in den mächtigsten rechtskonservativen Kreisen
Amerikas gibt, die Weltmacht zu beherrschen. Nicht nur ökonomisch, es geht vor
allem darum, die Welt militärisch zu kontrollieren. Seitdem der Kalte Krieg
vorbei ist, gibt es Leute in Amerika, die die Welt erobern wollen. Sie sind
sehr arrogant. Sie sagen, wir sind die einzigen, die wissen, wie man Dinge in
die Hand nimmt. In den letzten Tagen sinkt die Zustimmung für Bush. Aber es
sind immerhin noch mehr als die Hälfte aller Amerikaner für den Krieg.
Wie erklären Sie das?
Es gibt schon viele Menschen hier, die eigentlich gegen Bush sind. Vor allem
demokratische Wähler. Das Problem ist nur, sie sind hilflos. Die Demokratische
Partei bietet keine Alternativen, sie hat fast völlig ihren Charakter verloren
verglichen mit dem, was sie noch vor zehn Jahren war. Die Republikaner sind
viel tougher. Deshalb hat Bush ja auch die Wahlen gewonnen. Ein anderer Grund
ist, die Leute freuen sich auf den Krieg. Er ist ja weit weg. Und für sie ist
das Unterhaltung. Dieses Land ist so abhängig von der schnellen Konsumbefriedigung,
dass der Krieg im Irak eine Unterhaltungssendung für sie sein wird.
Das klingt ziemlich fatalistisch.
Wir werden diesen Krieg führen, weil Bush nicht mehr zurück kann. Er kann sich
das nicht erlauben. Das würde zu peinlich für ihn werden. Er hat zu viele Probleme,
von denen er ablenken muss. Der Aktienmarkt ist nicht gut. Mit der Moral ist
es auch nicht mehr weit her. Homosexuelle dürfen heiraten, sie sitzen in hohen
Positionen, ganz legal befördert. Die Unterhaltungsindustrie verdirbt die Sitten,
die Schulen sind schlecht. Das ist in Europa auch nicht viel anders. Aber der
Unterschied ist, die Europäer gehen viel gelassener mit ihren Krisen um. Sie
haben eine viel längere Geschichte. Da ist dieses passiert und jenes, das ging
vom 12. bis zum 13. Jahrhundert und das vom 17. bis zum 18. Bei uns gibt es
das nicht. Für uns ist alles sehr brisant. Die Konservativen denken, das Land
gerät außer Rand und Band und hoffen, wenn es vom Militär bestimmt wird, wird
es wieder auf einen richtigen Weg kommen. Also, was immer passieren wird, ist
gut für Bush. Wenn der Krieg schnell vorbei ist, ist er in einer guten Position.
Wenn es nicht schnell geht und es viele Opfer gibt, kann das auch gut für ihn
sein.
Wieso denn das?
Weil er dann all diese wunderbaren Reden halten kann über unsere armen amerikanischen
Jungs, die dort sterben, und wie wir um sie trauern. Wir sind ein sehr sentimentales
Land. Wenn es etwas gibt, was wir mit Deutschland gemein haben, dann ist es
die Neigung, sentimental zu sein. Bush sagt, er will im Irak ein demokratisches
System aufbauen.
Glauben Sie ihm?
Er will das Öl, und er will eine zentrale Position im Mittleren Osten. Damit
könnte er eine Menge Probleme auf einmal lösen. Das einzige, was er nicht kann,
ist, Demokratie dorthin zu exportieren. Demokratie ist für mich wie Liebe. Viele
Leute denken, ach, wenn ich nur ein bisschen Liebe finde, wird alles gut werden.
Aber die Wahrheit ist, du verliebst dich nicht, bevor du nicht deine Probleme
gelöst hast. Genauso ist es mit der Demokratie. Du bekommst sie nicht, bevor
du sie nicht verdient hast. Es muss einen Kampf dafür geben, einen langen Kampf.
Demokratie ist ein Endprodukt, aber du kannst Demokratie nicht in ein Reagenzglas
stopfen und einimpfen.
In Westdeutschland hat es nach 1945 funktioniert.
Gelegentlich klappt es. Deutschland ist das beste Beispiel. Aber in diesem Fall
wird es nicht so sein. Wir haben es mit Terrorismus zu tun. Je mehr Amerika
die Welt kontrollieren wird, desto größer wird das Problem des Terrorismus für
uns werden.
In den 60ern wollten Sie mal Politiker werden und haben für das Amt des
Bürgermeisters von New York kandidiert.
Ich war nie ein begnadeter Politiker. Ich habe viele Fehler gemacht.
Angenommen, Sie wären jetzt Politiker. Was hätten Sie nach dem 11. September
gemacht?
Ich glaube, dass Giuliani sehr weise gehandelt hat. Er hat den Leuten die Wahrheit
gesagt und er hat nicht gezögert. Das war sehr wirkungsvoll. Ich weiß nicht,
was ich gemacht hätte. Als Politiker ist man ja eine ganz andere Person. Aber
ich hätte auf jeden Fall zu verhindern versucht, das Wort "böse" zu benutzen.
George Bush hat das Land nach dem 11. September erobert, in dem er 15-mal in
fünf Minuten "evil" gesagt hat. Evil, evil, evil. Er hat die dümmsten und niedrigsten
Instinkte der Amerikaner angesprochen, statt sie daran zu erinnern, wie komplex
die Welt ist und dass auch unser Feind denkt, dass er im Recht ist und dass
wir für ihn die Bösen sind.
Es gibt nicht viele Amerikaner, die öffentlich ihr Land so kritisieren wie
Sie. Fühlen Sie sich alleine mit Ihrer Position?
Wissen Sie, ich war mein ganzes Leben lang in einer besonderen Situation. Mein
erstes Buch war gleich ein Bestseller. Ich hatte Erfolg und im Gegensatz zu
vielen anderen Leuten musste ich es dadurch nie irgendjemandem Recht machen.
Ich konnte immer machen und sagen, was ich wollte, was ein großes Glück für
mich war. Ich bin sicher nicht ein großer Philosoph, aber ich hatte die Möglichkeit,
so viel nachzudenken, wie ich wollte.
Aber gedruckt werden Ihre Ansichten vor allem in den europäischen Medien.
Stimmt, die Medien hier schenken mir weniger Aufmerksamkeit. Aber es gibt ein
paar Ausnahmen. Die New York Times zum Beispiel ist viel besser geworden in
der letzten Zeit. Besser als sie je war.
Machen Sie sich Sorgen um ihr Land?
Ich bin so alt, bei mir ist es sowieso egal. Aber für meine Kinder mache ich
mir Sorgen, dass wir ein totalitäres Land werden.
Sie haben neun Kinder. Wie viele davon sind Schriftsteller geworden?
Meine Tochter Betsy ist Schriftstellerin, mein Sohn John schreibt Theaterstücke.
Kate, Matthew und Steven sind Schauspieler, Marco ist Filmproduzent, Maggie
ist Bildhauerin. Danielle malt und meine älteste Tochter ist Psychoanalytikerin.
Werden Sie Ihren Geburtstag mit Ihren Kindern feiern?
Wir treffen uns mit ein paar Freunden in meinem Haus in Brooklyn Heights. Sie
sind in Brooklyn aufgewachsen. Ja, in der Ground Street, vier Blöcke vom Eastern
Parkway entfernt. Das ist ein jüdisches Viertel, eine schöne, verschlafene Gegend.
Wir haben Rollerhockey auf der Straße gespielt und Football und so wenig Autos
sind vorbeigekommen, dass uns ein einziges schon genervt hat, weil es unser
Spiel unterbrochen hat. Brooklyn ist wunderbar. Du kannst da wirklich die Vergangenheit
sehen. Es gibt kaum ein Gebäude, das nach 1930 gebaut wurde. Im Gegensatz zu
Manhattan.
Wann waren Sie das erste Mal in Manhattan?
Erst mit 16. Aber ich kann mich daran erinnern, dass ich von Brooklyn aus das
Empire State Building gesehen habe, als ich zehn Jahre alt war. Ein wunderschönes
Haus. Diese alten Wolkenkratzer mit den Verzierungen gefallen mir überhaupt
sehr gut. In der Beziehung bin ich sehr konservativ. Es gibt wenig moderne Häuser,
die ich interessant finde. Am schlimmsten sind diese Sozialbauten, die sie am
East River gebaut haben. Diese 40-Geschosser. Sie sind so interessant wie Pappkartons.
Sind Sie sentimental?
Nein. Wissen Sie, eigentlich ist es gar nicht so schlecht, alt zu werden. Ich
bin weniger depressiv, weniger ärgerlich, weniger extrem. Ich habe weniger Stress
und weniger Sorgen. Ich kann mehr arbeiten, Arbeit ist für mich ein Vergnügen
geworden, während es früher eine Plage war. Ich bin netter zu Menschen, bin
sicher viel netter zu meinen Kindern. Wenn man jung ist, denkt man immer nur
daran, was man sein könnte und was man nicht ist. Du hast so viele Möglichkeiten.
Und das macht dich verrückt.
Denken Sie, Sie haben die richtigen Entscheidungen in Ihrem Leben getroffen?
Ich verschwende nicht mehr viel Zeit darüber nachzudenken. Ich war in manchen
Sachen gut und in anderen nicht. Ich habe Erfolg gehabt und ich habe versagt.
Es macht keinen Sinn, zurückzuschauen. Es gibt immer noch eine Menge Arbeit
für mich. Solange ich diese Arbeit habe, wird es mir gut gehen. Wir sollten
jetzt aber besser Schluss machen. Ich muss gleich noch ein Telefoninterview
geben, was ich hasse. Es gibt nichts Schlimmeres mit meinen schlechten Ohren.
Zur Person: NORMAN KINGSLEY MAILER wurde am 31. Januar 1923 in Long Branch/New Jersey als Sohn einer aus Litauen eingewanderten jüdischen Bücherrevisor-Familie geboren. Er wuchs in Brookly auf,, studierte in Harvard und kämpfte während des II. Weltkriegs im Südpazifik für die US-Armee. Seine Erlebnisse verarbeitete er 1948 in seinem Roman "Die Nackten und die Toten", sein erstes und erfolgreichstes Buch. Seitdem hat er 32 Bücher und zehn Drehbücher geschrieben. Er führte für vier Filme Regie, erhielt zwei Pulitzerpreise, gründete die Zeitschrift "Village Voice" und kandidierte zweimal erfolglos für das Amt des Bürgermeisters in New York. Mailer wurde zweimal verhaftet, das erste Mal, weil er mit einem Taschenmesser auf seine Frau eingestochen hatte, das zweite Mal als Friedensdemonstrant gegen den Vietnamkrieg vor dem Weißen Haus. Er war sechsmal verheiratet, hat neun Kinder und lebt heute mit dem ehemaligen Fotomodell Norris Church in Provincetown, Cape Cod.