Herbert Braun:

Das Menschliche hinter der Wand

Franz Jung – Eine deutsche Revolution

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Bitte um Aufmerksamkeit.
Wenn man den Gründen der überheblichen Unfähigkeit deutscher Schriftsteller nachgehen will, so kann man bei einer solchen Untersuchung die letzten 70 Jahre unberücksichtigt lassen.1

Man ist versucht, diese Worte vom heutigen Standpunkt aus zu lesen und unter Umgehung von einem Lebensalter literarischer Zweitklassigkeit in Deutschland den kulturkritischen Hebel in der ausgehenden Weimarer Republik anzusetzen. Doch die mit dieser kämpferischen Geste eingeleitete Schrift, Gott verschläft die Zeit, stammt aus dem Jahr 1920. Jung geht zurück bis zu den Wahlverwandtschaften, um die Misere bloßzustellen. Der Punkt, an dem er das von Goethe unerreicht vorgeführte Verlogene, Heuchlerische, Unfertige, Anmaßende, Gewalttätige, weil Feige im deutschen Wesen angreift, ist die unerhört ekelhafte Beziehungssituation zwischen Mann und Frau. Der Geist von Klassik und Romantik ist nicht zu trennen von dem Mief einer verkrüppelten Kultur, die blaue Blume kann auf dem Misthaufen nicht gedeihen. Die literaturkritische Vorrede gipfelt in einem leidenschaftlichen Aufruf zur Revolution:

Denn in diesem Deutschland kann man trotz alledem noch immer nicht atmen. Es ist eine verpestete Luft. In diesem Deutschland kann nicht ein Buch geschrieben werden, das den Menschen organisch nimmt, das aus Liebe zu den Menschen die Welt weiter schafft, leuchtender den Horizont. Ein solches Buch kann in Deutschland nicht geschrieben werden, das glücklich macht, weil es rein ist. Ein solches einfaches schmuckloses Buch, das nur die Wahrheit sagt, anspruchslos zu den Massen der Verschüchterten und Vergewaltigten – von dem Geschmeiß deutscher Lehrer und Besserwisser, von dem Gesindel der Literaturbeflissenen, der Leser schlechthin in Deutschland, ein gutes und schönes Buch duldet die deutsche Atmosphäre nicht. Solange das deutsche Gemüt nicht ausgerottet, solange die deutsche Gemeinde nicht zerstört ist.

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Wer war der Mensch, der das geschrieben hat? Ein Autor expressionistischer Prosa, Mitbegründer von Dada Berlin. Kriegsfreiwilliger, Deserteur, linksradikaler Aktivist. Terrorist und Häftling – fünfmal im Gefängnis, einmal im KZ, einmal zum Tod verurteilt. Promovierter Wirtschaftswissenschaftler, Fabrikdirektor in der Sowjetunion, Börsenkorrespondent, Unternehmer, Mäzen Brechts. Säufer; gelegentlich schwere Depressionen. Dreimal verheiratet. Lebte u.a. in Schlesien, München, Berlin, Petrograd, Wien, Genf, Budapest, Italien, San Francisco, Paris. Starb 1963 in einem Stuttgarter Krankenhausbett, 74 Jahre alt.

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Die Skandale beginnen früh. Mit Alkoholexzessen und Glücksspielen blamiert der Schüler seinen Vater, einen Uhrmachermeister und späteren Stadtrat in der schlesischen Kleinstadt Neisse. Im Studium wird es nur noch schlimmer. Aus Leipzig flüchtet er verschuldet, in Jena wird er exmatrikuliert. Anstatt in Breslau abzuschließen, reist er einer Tänzerin bis nach Rußland hinterher und heiratet sie. Im fernen München beendet er endlich sein Studium der Nationalökonomie, wird aber von der Promotion ausgeschlossen, weil er seine Dissertation frühzeitig an eine Zeitung verkauft. Hier findet er Anschluß an die künstlerische, politische und kulturelle Avantgarde: Erich Mühsams anarchistischer Tat-Kreis prägt ihn politisch in einer linken, visionären Fundamentalopposition. Der charismatische, drogensüchtige Psychoanalytiker Otto Gross, verstoßener Musterschüler Freuds, wird sein engster Freund. Mit ihm entwirft er Zeitschriften, in denen sich Anarchismus und Psychoanalyse vereinigen – Sprengstoff für die politische, die soziale und die sexuelle Revolution im ausgehenden Kaiserreich. Auf Betreiben seines Vaters und seiner Kollegen landet Gross selbst in einer Irrenanstalt. Jung befreit ihn mit einer groß aufgezogenen Zeitschriftenkampagne. Zu dieser Zeit arbeitet er bereits in Berlin als Wirtschaftsjournalist und hat zwei Bücher veröffentlicht. Trottelbuch hat er 1912 sein Debüt genannt. Der Trottel, das ist der, der geladen und entsichert ist und nicht weiß wohin damit. Der Stammler, dem die Worte nicht reichen.

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Die aufgestauten Energien entladen sich – aber nicht in einer Revolution, sondern im Ersten Weltkrieg. Von einer Friedensdemonstration geht sein Weg direkt zur Rekrutierungsstelle, wo er sich als Freiwilliger meldet. Ausgerechnet eine Verwundung durch burschenschaftliches Mensurfechten macht ihn untauglich. Erst ein Brief an den Kaiser bewirkt seine Überstellung vom Landsturm in ein Freiwilligenregiment. Für uns Heutige ist die Kriegsbegeisterung unverständlich2. Kaum ein anderer Punkt in der kollektiven Psyche läßt die Distanz zur damaligen Zeit so sehr spüren. Seite an Seite mit Aristokraten, jungen Spießern und patriotischen Langemarck-Abiturienten drängten sich die Linken, die Anarchisten, die Antimilitaristen an die Front; untauglich zu sein, war eine persönliche Katastrophe. Doch Krieg bedeutete auch: Veränderung, kollektive Aktion. Die Blutbäder sah niemand voraus. Es freute mich, [...] daß die Bahn fast aller Menschen unterbrochen wurde, daß Konventionen und Materialismus wenigstens bis zu einem gewissen Grade ihre Macht verloren hatten3, schreibt der 18jährige Freiwillige Wieland Herzfelde, Kommunist und 1917 Gründer des Malik-Verlages. Ein Kampf für Kaiser und Vaterland? In einer Hinsicht hatten die jungen Intellektuellen von damals recht: Nichts war danach so wie zuvor.
Jung selbst freilich verschweigt diesen Punkt in seiner Autobiographie ebenso wie die persönlichen Motive für seinen nur zwei Monate später größtenteils allein gemachten Rückzug der 3. Garde-Reserve-Division nach der heimatlichen Grenze [...] als Mitglied der Grünen Armee4, seiner Desertion also. Von Anfang an muß Jungs Ehe mit Margot Qual und Abhängigkeit, Anziehung und Abstoßung gewesen sein. Wüsten, in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Szenen stand zerstörerische Leidenschaft gegenüber. Die Ehekrise trieb ihn zur Flucht ins Feld und wieder zurück – nach Wien, zu Gross. Der hat jetzt Gelegenheit, sich bei seinem völlig heruntergekommenen, verwirrten und verstörten Retter zu revanchieren und ihn vor Gefängnis wie Irrenhaus zu bewahren. Tatsächlich kommt Jung nach kurzer Haft frei.

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Seine zweite Frau Cläre, selbst Schriftstellerin, wird ihm keine solchen Scherereien machen. Zusammen mit ihr schließt er sich 1917 dem Spartakus-Bund an. Noch im Krieg beteiligt er sich an illegalen Aktionen und Versammlungen. Aber noch liegt Jungs Schwerpunkt auf der Literatur. Er stößt zu George Grosz, Hausmann, Huelsenbeck und den Herzfelde-Brüdern. Helmut, dem jüngeren, gibt er Kokain und das Pseudonym John Heartfield. Aus Zürich borgt man sich den Namen Dada. Als die Dinge in Bewegung kommen, zieht Jung sich zurück. Hugo Ball, 1916 in Zürich Gründer der Dada-Bewegung, macht es genauso. Der Krieg geht zu Ende, das alte Reich liegt in Trümmern. Alles, was Dada war – Anarchie, Umsturz, Befreiung – kann jetzt wirklich werden. Für Kunst ist keine Zeit mehr.
Am 9. November 1918, dem Tag der Kapitulation, bringt Jung eine Abteilung heimgekehrter Soldaten – Landsturm, müde, desorientierte Männer in fortgeschrittenem Alter – dazu, ein Nachrichtenbüro zu besetzen. Nach einer kurzen Abwesenheit

bot sich mir ein idyllisches Bild. Die Frauen hatten aus den angrenzenden Zimmern Stühle herbeigeschleppt. Um den Tisch saßen meine Landser in Strickjacken und Wollwesten, der Uniformrock hing über der Stuhllehne, die Gewehre waren in den Telefonzellen abgestellt. Die beiden Aufwartefrauen erschienen mit großen Kannen Kaffee, die Mädchen brachten Tassen. Die Herren Redakteure sahen schmunzelnd zu. Es wurde gemütlich warm. Die beiden Öfen im Saal waren gut geheizt.
Die deutsche Revolution hatte begonnen.5

Die Idylle dauert nur kurz. Die Arbeiteraufstände werden überall blutig niedergeschlagen. Kommunisten und Sozialdemokraten finden sich an feindlichen Fronten wieder. Aus dem Spartakusbund formt sich die KPD, das Geld dafür kommt aus Moskau. Noch 1919 wird Jung aus der neuen Partei ausgeschlossen und gründet die Kommunistische Arbeiterpartei KAPD. Linke Kinderkrankheiten des Kommunismus nannte Lenin sowas. Den lernt Jung 1920 kennen, um über den Beitritt der KAPD zur Kommunistischen Internationale, der Komintern, zu verhandeln. Die Reise dorthin bestreitet er als blinder Passagier auf einem Fischerboot. Als die Sache auffliegt, wird Jung wider Willen zum Schiffsentführer – was ihm einigen Desperadoruhm einbringt.
Klar, daß man ihn nach seiner Rückkehr verhaftet. Im Gefängnis schreibt er Erzählungen, Theaterstücke, Essays und Kurzromane für Herzfeldes Malik-Verlag. Jung ist auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Man demonstriert für ihn. Er kommt frei, beteiligt sich an der verglimmenden Revolution und wird wieder eingesperrt. Seine letzte Aktion ist ein Sprengstoffanschlag im Auftrag von Ernst Reuter, damals KPD-Funktionär, später West-Berlins Regierender Bürgermeister. Die Sowjets kaufen Jung frei. Zwei Jahre lebt er in Nowgorod und Petrograd, organisiert die Hungerhilfe und baut zwei Fabriken auf. Es ist der Höhepunkt seines Lebens. Er gibt alles – und scheitert. Innerlich gebrochen und zu Tode erschöpft flüchtet er nach Deutschland zurück.

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Noch manche Geschichte aus diesem Leben ließe sich erzählen. Aber das tut nichts zur Sache. Kaum einer, der heute diesen Franz Jung kennt, den Gewaltmenschen, Anstifter und Verführer, der so viele enttäuscht hat. Keine Straße heißt nach ihm, kein Deutschlehrer quält die Schüler mit seinen Büchern6. In der DDR war er verdächtig als zwielichtiger Individualanarchist, der mit dem Sozialismus der deutschen Mittelmäßigkeit nichts zu tun haben wollte. Das DDR-Schriftstellerlexikon kennt seinen Namen nicht7. Im Westen wurde er geduldet und vergessen. Die Geschichtsschreibung hat geurteilt und für nicht überliefernswert befunden. Was soll also die Beschäftigung mit einem notorischen Außenseiter, mit einem, der immer nur angefangen und angestoßen hat? Was kann man von so einem lernen?

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Das Besondere [am Torpedokäfer] ist die Kraft, mit der er das Ziel anfliegt, vorwärtsgetrieben wird, wie ein Torpedo. [...] Der Käfer hebt sich vom Boden, scheints schwerfällig und ungeschickt und beinahe, würde man sagen, mit einigem Widerwillen. Und dann setzt die Triebkraft ein. [...]
Ablauf der Zeit in einer panikgeladenen Spannung, die Augen geschlossen. Stoß gegen den Widerstand – und dann der Sturz.
Das Ziel ist groß genug. Das Ziel ist geradezu drohend, in abschreckender Klarheit, überdimensionale Präzision. [...]
Ein sehr schmaler Eingang, der Durchgang zum Ziel, der verdeckt ist und sich wahrscheinlich verschiebt, in der Blitzsekunde des Anpralls; daher der Sturz. Dieser Sturz wird sich wiederholen. Es ist die biologische Eigenschaft des Torpedokäfers, daß er das Ziel anfliegt und stürzt.
Einmal am Boden, ist dann alle Kraft gewichen. Es ist Schaden entstanden. Der weiche Rücken ist im Sturz verletzt. [...] Am Boden klaubt sich der Käfer zusammen, bewegt, was sich noch bewegen läßt, schleppt sich zurück und kriecht – für den Beobachter steht es bereits fest: der Käfer wird es nicht schaffen. Aber er schafft es. Wieder zurück zu dem Punkt, von wo aus er startete. [...]
Die Wand, gegen die der Käfer anfliegt, ist solide gebaut. Generationen von Menschheit stehen dahinter. Möglicherweise ist die schmale Öffnung, die angepeilt wird und die noch von Zeit zu Zeit aufleuchtet, vorher wie nachher, nur ein Trugbild und sie besteht in Wirklichkeit nicht. In der Folge von Generationen wird sie erst geschaffen, in Opfern herausgemeißelt und aufgesprengt werden –
Es ist nicht die Frage der Zweckmäßigkeit, der besseren Vorbereitung, der Erfahrung, aus der etwas zu lernen wäre – es ist das Ziel, und das Ziel wird immer das gleiche sein: nichts zu verbessern, nichts zu lernen.8

70-jährig hat Jung sich an seine Autobiographie gesetzt. Der Zeitpunkt, alles zusammenzufassen, zu deuten, zu illustrieren. Seine Metapher, nach der er das Buch nennt, ist der Torpedokäfer. Der Torpedokäfer: das ist der Einzelne, der selbstzerstörerisch ankämpft gegen – ja, wogegen? Das Bild spricht von einer soliden Wand, hinter der Generationen von Menschheit stehen. Erst hinter dieser Wand beginnt das Menschliche. Dahinterstehen, das heißt auch: stützen, festhalten. Aber nicht nur der Bau der Wand ist ein Werk von Generationen, auch das Aufmeißeln. Der Torpedokäfer fliegt solange gegen die Wand, bis er stumpf geworden ist oder sich den Hals bricht.

Eine demütige Idee. Mehr als einmal wurde Jung mit einem Mönch verglichen. Nicht mit einem weltfremden Frömmler, eher mit einem der sich selbst geißelnden, in der Buße fast verreckenden Mönche aus Hugo Balls Byzantinisches Christentum. Sophie. Der Kreuzweg der Demut und Opferung heißen sein drittes und viertes Buch. Trotzdem nichts für den Beichtstuhl. Nietzsches Zarathustra macht es nicht viel anders.
Es liegt in der Natur der Sache, daß jeder Flug des Torpedokäfers kurz dauert. Manch einer mag davon mitgerissen und plötzlich alleingelassen worden sein. Gegen die Wand anzurennen heißt erst einmal: selber keine Wände bauen. Sobald die Vereinssatzungen geschrieben waren, hat Jung sich zurückgezogen. Manch einer von den Anarchisten, Kommunisten, Dadaisten und sonstigen -isten hat ihm das übelgenommen. Ich habe den Ehrgeiz überwunden, als Schriftsteller anerkannt zu werden, als Geschäftsmann, als Liebhaber – und, wenn man das so will in dieser verrotteten Gesellschaft, selbst als anständiger Mensch; ich bin nicht anständig.9 Der kurze Moment des Fluges ist es, der zählt, wo die Dinge in Bewegung kommen, wo alles möglich ist, wo uns riesige Kräfte unbekannter Herkunft hochheben – und gegen die Wand schleudern.


Lesetipps:

Franz Jungs Autobiographie Der Weg nach unten ist ebenso bei Nautilus erschienen wie die (z.Z. bei 2001 billig erhältliche) Werkausgabe und die vorzügliche Biographie Das Verschwinden von Franz Jung. Stationen einer Biographie von Fritz Mierau (1998). Von Jungs Erzählungen empfehle ich Die Erlebnisse der Emma Schnalke, ein sprachlich dichtes Porträt mit den Zügen seiner ersten Frau, und Der Fall Groß, die Geschichte eines wegen Verfolgungswahn internierten, zu dem Jung eine enge geistige Verwandtschaft fühlte.


© Herbert Braun 2001 · Kommentare? -> Wortwart@Woerter.de