Xóchil A. Schütz:

Ermutigung zur freiwilligen Aufrechterhaltung der eigenen Vitalfunktion und auch der anderer, wenn ein attraktiver Mensch nicht umgehend anruft, sobald er Deine Telefonnummer hätte herausfinden können

Gewidmet meiner lieben Selbsthilfegruppe für Menschen mit narzistischer Persönlichkeitsstörung

Peer ruft nicht an. Ich überprüfe seit heute Mittag stündlich, ob mein Telefon eventuell nicht mehr funktioniert. Sowas kann ja passieren. Ich dusche nicht, aus Angst, es beim Klingeln eines vielleicht doch funktionierenden Apparates nicht schnell genug bis an den Hörer zu schaffen. Ich gehe nicht einkaufen, auch wenn ich keine Milch mehr für meinen ultimativen Milchkaffee habe. Weil nachher ruft Peer dann an und versteht nicht, wie man meinen Anrufbeantworter bespricht. Ja, wirklich. Der piept nämlich zweimal, bevor man lossprechen kann. Und das könnte ihn ja verunsichern.
Ich knabbere drei Kekse aus meiner Kummerkeksdose, die sind doppelt dosiert. Ich schreibe selbsterfahrene Lebensweisheiten in mein Tagebuch. Zum Beispiel: „Jenseits des Narzißmus beginnt das Land des Schreckens.“ Ich weiß endlich, daß mich niemand mag und daß ich mein Leben lang alleine sein werde. Deshalb ist es auch okay, daß ich jetzt noch eine Tafel Schokolade esse, denn 17 Pickel mehr machen mich auch nicht unattraktiver. Und meine Spiegel in Wohnzimmer, Bad, Küche, Flur und über meinem Bett würdige ich keines Blickes. Sie sind bestimmt einsam. Da hat sich in den letzten Jahren nämlich schon eine vertraute Beziehung entwickelt. Auch wenn ich das mißtrauischen Männern gegenüber immerwieder abstreiten muß: Natürlich hat das was mit Sexualität zu tun. Ehrlichgesagt finde ich es schon toll, immerwieder haltlos mit neuen Spiegelbildern in fünf verschiedenen Rahmen ganz doll Liebe zu machen. Trotzdem leugne ich vor meinen näheren Bekannten alle Spiegelaktivitäten, die nichts mit Gesichtsmassage zu tun haben. Ich habe Angst, daß der ein oder andere meine Diener zusammenschlägt, wenn er weiß, daß die es schaffen, mich zu befriedigen.
Aber jetzt ist ja alles anders geworden. Ich komme mir vor, wie Erdkröten im Schlammbad aussehen und meide vorsichtshalber jede Kontaktaufnahme mit meinen Reflektoren. Ich stelle fest, daß sie sich nicht so einfach ignorieren lassen, und meine Wohnung, die mir bisher wie der Spiegelsaal auf Schloß Neuschwanstein schien, zeigt sich mir plötzlich als Gruselkabinett. Das kann auch daran liegen, daß mir gerade etwas klargeworden ist: daß nämlich die wunderschöne, ausdrucksstarke Frau auf den 16 großformatigen Fotos um mich rum doch nicht ich selber sein kann. Was habe ich mir da nur zwei Jahre lang eingeredet? Verschiedene Fragen kommen in mir hoch: Bin ich schizophren? Muß ich in noch eine Gruppe gehn? Und: Wer ist diese Frau? Kann ich die irgendwie kennenlernen? Aber die sieht nicht so aus, als ob sie mit einer Kröte sprechen würde. Ich krabbel auf mein Sofa und schau mir meinen Körper an. Okay. Ich bin doch ein Mensch. Wohl einfach ein bißchen durcheinander. Warum meldet sich der Arsch auch nicht?
Ich fühle mich sehr hilfsbedürftig. Aber weil mich ja niemand mag, traue ich mich nicht, die Menschen anzurufen, mit denen ich befreundet bin. Außerdem will ich sie vor meiner unsäglichen Wut schützen, die mich überkommen wird, wenn ich mit Sicherheit weiß, daß Peer mich in just dem Moment versucht hat zu erreichen, in dem ich selbstmitleidig und auf liebe, aufbauende Worte hoffend mit meinen Freunden spreche. Und mit Sicherheit weiß ich das noch während solcher Telefonate.
Ja. Es ist richtig, mich zurückzuziehen von meinen zwischenmenschlichen Kontakten. Ich sollte verantwortungsbewußt mit den Gefühlen anderer umgehen und weiß, daß ich dazu nicht mehr in der Lage bin. Ich setze mich vor meinen Computer, um nicht ganz alleine zu sein. Irgendwann fahre ich ihn hoch. Mein Blick verschwimmt auf dem blauen Meer meines Bildschirms. Ich bin keine Kröte, nein. Ich bin ein knallrotes, aufgeblasenes Gummiboot mit einem Loch in der linken Seite und könnte noch verschiedene Bojen erreichen. Auf denen stehen Wörter in einer Sprache, die nicht meine ist. Das beschäftigt mich: Was haben die mit mir und dem Meer zu tun? Eine halbe Stunde später merke ich immerhin, daß ich nicht mehr ganz dicht bin. Weil ich mich aber nicht in Form fühle, irgendwo anzulegen, treibe ich weiter und weiter ab. Ich sinke in mich zusammen. Die Luft ist einfach raus. Mir gehen die Augen nicht über, sie gehen unter. Runter. Landen auf der Tastatur.
Ach. Meine kleine, süße Tastatur. Da bist Du ja wieder. Du bist doch auch nicht eifersüchtig, daß ich gerade so lang den Bildschirm angestarrt habe, oder? Also ich mein, weil ich ja eigentlich immer fast nur Dich anschaue. Also das kommt nicht mehr vor, okay? Was? Ich soll den Bildschirm ausschalten? Jetzt spinn mal nicht! Ich habe noch nie jemanden umgebracht. Du drohst mir, auf ewig sämtliche Verbindungen zu Deinem Professor abzubrechen, von denen ich schließlich extrem abhängig sei, weil ich mit dem ja noch mein Diplom machen wolle. Du Luder! Du erpresst mich! sag ich. Du hast mich für nur 30 Mark bei dem Zuhälter in Moabit gekauft, völlig unter Marktwert! Ich war Jungfrau! kreischt Du plötzlich los. Ich bin Chinesin! Ich kannte die Sitten hier nicht. Warum hab ich Dich bloß geheiratet? fängst Du jetzt an zu schluchzen. Nun dreh mal nicht durch, denk ich, schalte den Bildschirm aus und sag trocken: Wußte ja garnicht, daß wir verheiratet sind. Das ist in Deutschland nämlich noch garnicht Brauch, daß die Lesben heiraten. Hast Du wieder was verpaßt, hä? Du fängst an, mit den Tasten zu fuchteln und mir einen Vortrag über Frauen- und Lesbenrechte zu halten, für die wir gemeinsam kämpfen müssen. Ich überlege, ob ich die „Control"-Taste drücken soll, aber als ich das beim letzten Streit gemacht habe, warst Du zwei Wochen sauer auf mich. Mir steht grad nach was anderem. Bitte, nicht jetzt, Baby, sag ich, ich bin doch ganz Deiner Meinung, das weißt Du doch. Komm, laß uns lieber mal ein bißchen spielen. Ich fange an, auf Dir rumzuklimpern, und Du gibst nach – und immer schneller kleine Seufzer und Stöhner von Dir. Das macht mich heftig an, ehrlich Baby, ich bin plötzlich ganz feucht, an meinen Fingerspitzen. Irgendwann höre ich nur noch Deine kurzen, abgehackten Schreie. Jetzt weiß ich, daß Du ungefähr noch zwei Minuten brauchst, bist Du kommst. Das Telefon klingelt. Du stößt in meinem Fingertakt hervor: Wenn Du jetzt rangehst, dann besorg ich Dir den krassesten Sytemabsturz, den Du Dir vorstellen kannst. Das versprech ich Dir. Ich weiß, daß das leere Drohungen sind. Aber ich schau Dir in die vielen, vielen Augen und sehe in allen neben Deiner Lust eine unglaubliche Sehnsucht nach Nähe. Ich kann Dich jetzt echt nicht loslassen, nein, dazu hab ich Dich viel zu gern. Ist gut, Kleine, sag ich und kitzel Dich in all Deinen süßen Rillen. Du fängst an, abwechselnd zu gurren und zu glucksen und zu kichern und zu schnurren. Du hörst Dich schon ein bißchen billig an, aber genau darauf steh ich doch. Und Du doch auch! Wir werden beide immer schneller, immer schneller, und wir kommen, wir kommen im gleichen Moment. Das hat ja gut hingehauen.
Ich streichel Dich noch, bis Du eingeschlafen bist. Dann höre ich den Anrufbeantworter ab. Peer. Ich soll mal zurückrufen. Wir könnten ja morgen zusammen frühstücken gehen. Hey wie nett. Peer ruft mich an. Naja, jetzt bin ich ziemlich müde. Wird ja reichen, wenn ich mich morgen früh melde. Auf dem Weg zum Kühlschrank und meinem Gute-Nacht-Bier lächle ich mich fröhlich im Flurspiegel an.

 

Theodora präsentiert

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