Robert Lucas Sanatanas:

Nach Geist und Buchstaben

Auf Hochzeiten zu spät zu erscheinen, galt für witzig, Verspätungen bei Beerdigungen waren heilig, ein zu spätes Eintreffen zu einem Rendezvous erschien logisch, und alle Verspätungen bei Zahnärzten waren immer verständlich. Verspätungen zu Theaterbesuchen nahm man mit Geduld hin, zu spätes Erscheinen bei Versammlungen mit wollüstiger Anerkennung, und Verspätungen in Gerichtssälen kosteten Geld.

Eigentlich konnte man sich auf dieser Welt durchaus jederzeit verspäten, denn ein uralter Modus, alle verlorene Zeit wieder wettzumachen, war bestens bekannt und überall akzeptiert. Die Rechtfertigung wurde als ein eigenständiges Spiel gepflegt, und innerhalb des Gültigkeitsbereiches der Summe aller Rechtfertigungen war es eigentlich nie zu spät. Wirkliche Verlierer gegen das Datum, die Stunde, den Termin, gab es nicht – es gab nur Stümper oder Experten. Selbst im sich weit ausbreitenden, schäbigen Mittelmaß von Ausrede und von fadenscheiniger Begründung existierte fast nichts, das wirklich verboten gewesen wäre.
Eines aber war, das durfte auf keinen Fall geschehen, und es war dies: Das Zuspätkommen zu Dichterlesungen.

Sehr schwierig wäre es bereits, wenigstens in Allgemeinplätzen zu erklären, warum das so war, und noch komplizierter würde eine nur einigermaßen einleuchtende Erläuterung dafür sein, warum das auch immer so sein wird. Es ist so.
Wer auf einer Dichterlesung zu spät erscheint, ist immer unbedingt jemand von denen, die alle Taten getan haben und sich dennoch nur mürrisch zu ihrer Abhängigkeit vom freundlichen Wort bekennen wollen. Es gibt keine Ausnahmen. Wenn je von den wenigen wirklich Unschuldigen jemand zu spät zu einer Dichterlesung kommt, dann kommt er dennoch gerade rechtzeitig, und alle Anwesenden werden dies sogleich bemerken, denn es ist der Dichter daselbst. Wie bereits feststellbar werden dürfte, handelt es sich bei dem, was besprochen werden wird, nicht etwa um irgendeine leicht wieder auszubügelnde Lappalie – es handelt sich um einen sehr, sehr ernsten Tatbestand, um das Tatsächliche Zuspätkommen.

Ich trat in den Raum und behielt erstarrend die Türklinke in der Hand. Reihenweise angeordnete, ruckartig gewendete Köpfe in krachender Stille empfingen mich, und der Blick einer sehr aufrecht an einem Pult stehenden Dame in einem herbgrauen, strengen Kostüm. Dieser Dame, der weit im Voraus angekündigten Autorin des Abends, zitterten einige Manuskriptblätter in den Händen. Ihr Blick auf mich bestand in einer unnachahmlichen Mischung aus tiefer, mütterlicher Enttäuschung, aus grundgütigem Verzeihen, entsetzeneinflößender Demut, aus giftigem Hohn und aus einem so geradlinigen, blitzsauberen Zorn, daß ich augenblicklich glaubte, mit meiner Hand für immer an der metallenen Türklinke angefroren zu sein. Ein eisiger Strahl erbitterter Ablehnung, vielfach verstärkt durch die gesammelte Kraft der in gerechter Erbitterung schweigenden Versammlung, tastete von der Dame her über meinen ganzen Körper. Er suchte meine Seele.

Halb ohnmächtig, stolpernd, mit tief niedergeschlagenen Augen, fand ich einen leeren Stuhl und nahm eine steife, gerade Körperhaltung darauf ein; ich hielt den Atem an und wurde das Allerstillste in der Stille, welche nun wieder eintrat.
Ein mich schaudern machender Segen glitt mild aus den Augen der grauen Dame zu mir herüber, und ich dünkte mich bereits halb gerettet, da hob die junge, graue Dame ihren Seitenstapel mit zärtlichem Zücken an und beendete einen Satz, welchen sie wegen meines Eintretens in dessen Mitte unterbrochen hatte. Sie las: „…und er nahm leise und verschämt wieder in seiner alten Laser – Bude Platz und hörte reumütig der Stimme seiner Mutter zu, die halblaut von besseren Zeiten erzählte“.

Oh, ich war angekommen und war ganz am ersehnten Ziel. Alles sprach dafür, und auch der erste halbe Satz, den ich in dieser Lesung hörte – nur meine Empfindungen nicht. Es war ein faszinierender Vortrag. Die graue Dame erzählte in knapper Diktion von einem jungen Mann, der seine alte Laser – Bude über alles liebte. Da ich den Anfang der Erzählung schuldhaft versäumt hatte, wartete ich sehr gespannt auf technische Einzelheiten. Es mußte sich bei der alten Laser – Bude um irgendeinen wrackartigen Raumgleiter handeln, in dem der junge Mann, der Held der Geschichte, einsam und verloren durch die eiskalten Weiten des fühllosen Universums trieb. Die graue Dame verlor sich nicht in Beschreibungen von Galaxien und Spiralnebeln. Sie mußte es auch nicht – zu deutlich fast erstand in mir schon nach wenigen, von ihr gelesenen Absätzen aus ihrem Manuskript das kristallen geschliffene Bild einer fernen, unbarmherzigen Zukunft, in welcher ein ernstes und demütiges Leben ins Unglück geraten war und nun zwischen Schicksal und freiem Willen umhertrieb, getrennt vom ewigen Grauen nur noch durch die dünne Stahlwand eines verunglückten Raumgleiters, den er liebevoll seine alte Laser – Bude nannte… .

Seltsamerweise sah die graue Dame, welche sehr gerade an ihrem Platz vor dem Publikum verharrte, immer, wenn sie von ihrem Manuskript aufschaute, nur in meine Augen; sie versandte Blicke von anschwellender Herzlichkeit und Wärme, und sie, ihre Geschichte und ich, hatten uns bereits auf eine ungewöhnlich intensive Weise aneinander erhitzt, als mir auffiel, daß eine dem Vortrag völlig unangemessene Unruhe in dem Lesungsraum aufgekommen war.
Entrüstet blickte ich um mich. Es war mir zutiefst unbegreiflich, daß ich Unaufmerksamkeit, Müdigkeit, ja, sogar aufrührerisches Grinsen und offenen Affront wahrnehmen mußte. Das spöttische Lächeln, die verzogenen Gesichter der vorher aufmerksam Hörenden nahmen immer schärfere Konturen an. Schon erhoben sich unter Verursachung bewußt rücksichtsloser, derber Geräusche die ersten Anwesenden, begaben sich im groben Raunen halblauter Bemerkungen zu einer Cocktailbar in einem Nebenraum oder verließen gar ganz den Ort der Dichterlesung. Mehrfach wurde die Tür, deren Klinke mir heilig geworden war, roh aufgerissen und flog alsbald laut krachend wieder zu.

Ich war kein erfahrener, geschulter Hörer. Auch gebildet war ich nicht. Vielleicht kannte ich für einige Arten des Zuspätkommens wirkungsvolle Erklärungen, aber sonst kannte ich kaum etwas vom Leben in den Universen. Ich wußte nichts vom Dasein zwischen den Zeiten und den Räumen. Eventuell war ich nur sehr wenig geeignet, über Dichtung zu urteilen. Aber ich hatte ein Gefühl. Und was hier geschah, das war nach meinem Gefühl der Qualifikation des Vortrages nicht angemessen. Ich saß indes fast schon allein in meiner Stuhlreihe, und da ich mich, verständnislos über so viel konzentrierten Mangel an literarischem Geschmack, umschaute, mußte ich feststellen, daß höchstens noch ein Fünftel der vorher aufmerksam Lauschenden, unruhig, und eher mitleidsvoll als geduldig, auf seinen Stühlen ausharrte. Lag es wirklich an möglichen Schuldgefühlen wegen meiner Verspätung, daß ich auf die Schönheit einer Geschichte beharrte, deren Vortrag andere flohen, und die jetzt mehr und mehr ins Stocken kam, weil die graue Dame sich einer großen Verzweiflung näherte?

Empört suchte ich mit den Augen nach Sympathisanten, welche gleich mir gewillt wären, die Situation zu klären, ja, sie umzukehren. Ich verschickte ungeheuchelte Blicke der Zustimmung, des höchsten Interesses, sogar der aufrichtigen Liebe, hinüber zu der jetzt nur noch leise und bekümmert Lesenden – nichts half mehr. Die graue Dame hielt mit einem Male inne in ihrem Vortrag. Kein Maitre de Plaisier kam ihr zu Hilfe; sie war allein. Langsam und elegisch hob sie ihre Arme, und sie preßte mit unnachahmlichem Gesichtsausdruck ihr Manuskript an die kleinen Brüste, so daß man das Deckblatt des Seitenstapels erkennen konnte.

Ich erschrak. Da stand, in gut ausgewähltem Schrifttypus, nicht: „Die alte Laser – Bude“, da stand: „Die alte Leserbude“. Ein ganzes, sternenübersätes Weltenall brach für mich in nur einem Moment hernieder. Der Hauptheld der grauen Dame saß wieder da, wo er dem Willen der Schriftstellerin nach schon immer hingehört hatte – in einem miefigen Zimmer irgendwo in einem Hinterhof, unter einem Dach des grauesten Viertels der Stadt. Zwischen seinen zerfledderten Büchern saß er, ein einsamer Möchtegernphilosoph mit ein paar alten Kondomen unter dem feuchtsauren Sofa, und er haderte am Telefon mit seiner Mutter.

Die graue Dame, als auch ich mich jetzt angewidert erhob, trat hilflos einige plumpe Schritte auf mich zu. Ich sah nun die zerlaufende, geschmacklose Schminke auf ihrer breiigen, unreinen Haut, als sie erst ganz dicht vor mir anhielt, und ein durchaus passendes, übles Aroma drang aus dem unteren Teil ihrer Bekleidung ernsthaft auf mich ein. Mit einem Lächeln stand sie mir gegenüber, die graue Dame, daß ich aufschrie, mich umwandte und hinausstürzte.

In der klaren, eiskalten Luft einer Januarnacht ließ meine Überspannung schnell nach. Draußen standen noch einige der Hörer in kleinen Grüppchen zusammen. Sie hatten helle Atemrauchfähnchen vor den Gesichtern, wie sie da schwätzten, und als ich vorüberging, lächelten sie gutmütigen Spott gegen mich, der ich es so lange ausgehalten hatte.

Die Verwechslung eines einzigen Buchstaben mit einem einzigen anderen war es gewesen, das mich der Dichterschlampe und ihrem Hinterhaushelden über mehr als eine Stunde Uhrzeit ein ganzes Weltall hatte schenken lassen. Meine Verspätung um nur zehn Minuten in derselben Uhrzeit hatte mir eine winzige Ungnade der Lettern eingebracht; heimtückisch hatte sich nur der Klang eines „a“ um ein Weniges gen „e“ verschoben, und mich banale Verderbtheit für heilig halten lassen. Ich ging noch um einen Tee in ein Nachtkaffeehaus. Dort beobachtete ich den feinen, weißen Dampf, der aus dem kupferfarbenen Tee aufstieg, und ich fürchtete mich sehr vor meiner eigenen alten Leserbude. Der Grund war einfach – ich hatte selbst einige Notizen verfertigt, die ich bislang für sehr gelungen gehalten hatte. Plötzlich hatte ich Unmengen Arbeit. Auf einem nassen Pappdeckel, einem Untersetzer für Biergläser, begann ich.

 

Theodora präsentiert

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