Richard Sivél:

Die Burg

Sie befinden sich hinter menschhohen Maschendrahtzäunen, im Innern der sechseckigen Anlage, und bewegen ihre Körper in wabernden Taktbemühungen. Eine gestaltlose Amöbe von Beinen Armen Köpfen, übermütig brodelndes Protoplasma, das Menschen umfließt und pumpend kühles Fleisch in sich zieht… aufnimmt – um es nach Viertelstunden mit erhitzten Gesichtern auszuscheiden: eine Entleerung, die ohne Darm, ohne Pressen und unbemerkt stattfindet.
Ermins ist mittendrin und ist sich nicht ganz sicher, ob da nicht etwas drückt in ihm, im Unterleib zum Beispiel. Rhythmisch setzt er seine neuen Schnallenschuhe auf die Bretter der Tanzfläche. Und vor sich hat er Zane. Zane mit den drei Leberfleckchen, schwarze Inseln in ihrer hellen Haut, genauso schwarz wie ihre Augen, Zane mit dem Püppchengesicht, blond umkräuselt, diese liebe Stirn, Zane mit papierdünnen Nasenflügeln, Zane mit Nasenflügeln die gierig flattern können: seine Zane.
Da groovt eine mit struppigen Haaren heran, in einem engen weißen Kleid, bis zu den Handgelenken eingeärmelt. Ihre Pausbacken strahlen wie ein Himbeerkuchen, ihn strahlen sie an, nur ihn, ist sich Ermins sicher, den Blick auf ihre Brust gebündelt: Noch heute nacht wird er die Schlagsahne von ihren Törtchen schlecken.
Aber das ist doch absurd! – Wo ist Zane? Seine Augen beginnen zu schielen. Sie tanzt nicht mehr, und um ihn diese Körpermasse, er schlenkert seine Beine – daß ihm nur keiner auf die neuen Schuhe tritt! Und da draußen ist sein schwarzer Rucksack. Zu dem möchte er; nicht wegen Zane – ihre Blicke wären sowieso knöchern, zumindest ohne Sätze in ihn gerichtet – aber im Rucksack: ist die Flasche Gin. Die Übriggebliebene. Längst hatten sie das Dzintara-Gelände verlassen, während die Mütter im Publikum noch immer eine Zugabe herbeijohlen wollten, hatten sich schon längst die Personal-Aufkleber vom Kragen gerissen, mit denen sie ihren Eintritt erschlichen hatten, und saßen im Park beim Brunnen. Sie saßen auf der Bank oder im Gras, dreizehn Menschen und tranken. Wodka, Gin, Balzams, Säfte. Hin und wieder reichte Ermins Christaps eine Zigarette, der, im Schneidersitz, mit einem knappen Nicken dankte. Ermins füllte sich einen Becher mit Wodka und setzte ihn an die Lippen. Da spürte er schmale Finger hart am Handgelenk: Zane fiel ihm in den Arm; er mußte ihre Augen lesen – und hatte nur einen kleinen Schluck genommen.
Das eingeärmelte Ding lächelt unverändert: die Lippen rissig und hoch in die Backen gebogen: ein ausgewalztes Stück Blech. Sie balanciert, die Arme ausgebreitet, welch betörende Shiva, neigt den Kopf auf eine Schulter und – lächelt. Ihre Titten: stoffumspannte Brustbalkone, Galionsfiguren in sein Gesicht gebrandet. Jetzt kreist sie mit flacher Hand vor ihrem Gesicht, kreisende Bewegungen zwischen ihren Gesichtern, sehr sorgfältige Kreise auf einer unsichtbaren Scheibe, und ihr Himbeerkuchen lächelt, lächelt ihn an…
Sie wischt Fenster, wo keine sind! Dumme Puppe! wendet sich Ermins ab.
Diese Frau: Tanz und schöne Augen. Aber wenn sie hier alleine tanzte, wer könnte dann ihre Bewegungen bewundern? Schönheit benötigt den Betrachter, rümpft Ermins die Nase, sonst bleibt sie ein zugeschlagenes Buch. Sie kann alleine tanzen, sie kann allein die Augen rollen – aber wozu, wenn sie ohne ihn als Nichts verdämmern muß? Erst er kann ihre Körperpolster und Tanzschritte relativieren und Harmonie aufdecken: Detektor ihres Seins. Aber jetzt nicht mehr, denn es gibt Wichtigeres als die Hülle; die Tiefe ist nicht außen, atmet Ermins auf. Er hat auf diesen Busen da gestarrt, nun gut. Der erregend wurde. Aber durch ihn, nur durch ihn, bestätigt sich Ermins noch einmal, der jetzt Zanes Schönheit wecken will. Die steht irgendwo allein, schweigend, und ihre Gedanken wirbeln halbes Zeug. Die er, Ermins, ganz machen kann. Objektivieren! nimmt er sich vor.
Mit dem Tanzen aufgehört, drückt ihn der wabernde Kern an den Rand. Brodelnde Glieder – vorhin hatte die Tanzfläche noch leer vor ihnen gelegen; sie kamen vom Brunnen zurück, zwei Lat mußte er für den Eintritt in seinen Taschen finden. Zwei Lat! Fünf Schachteln Zigaretten. Aber für diese beiden Lat warteten an der inneren Steinbrüstung Schwarzuniformierte mit ellenlangen Gummiknüppeln und zwei Soldaten, schräges Barrett, Hände auf dem Maschinengewehr. Na, das Leben will betanzt sein, was! Das mit Sicherheit, grunzt Ermins: Tapfere Armee für Tanz-Sicherheit! – Arme, Ärmel, Finger in das blitzende Licht gewischt, ist er an den Rand gedrängt.
Vor der Bühne steht Christaps mit den andern und sein Rucksack ist auch da, aber Zane sieht er nicht.
Was auch nicht wichtig ist.
Denn von innen kommt jetzt Spannung. Seine Blase ist mehr als gut gefüllt. Ermins richtet sich auf, die Knie zusammengepreßt. Dringend Zeit! Seine Blicke prüfen, ob denn Fleckchen sind, ringsum und ruhig? Die Steintreppe? Die Bank, drei Schritte entfernt? Dort liegt ein Mädchen kopfüber der Holzkante, der Mund kelchig. Aus dem glänzt ein Speichelfaden. Ein Gurgeln, aus dem Magen hoch, schüttet galligen Schwall auf halbverdaute Essensbrocken. Sie bellt ihm würgend nach. Eine Schwarzuniform geht kaugummikauend auf sie zu. Mit zwei Fingern greift sie ihr Kinn. Wörter auf das Mädchen heruntergehackt und Ermins sieht Knoten unter dem rasierten Kiefer springen.
Kotzen verboten – Rutschgefahr wegen Bröckchenpfützen! unterdrückt er seine Blase. Wasserlassen. Dringend Zeit! Und Zane ist irgendwo, dreht sich Ermins um, ist schon auf der Treppe. Und steigt hinauf zur Terrasse. Arm in Arm lehnen sie an den Mauern! Dort hinten geht es hinunter zu den Toiletten: drei Chemieboxen sind aufgestellt. Die kennt er schon, von vorhin, vom Konzert: Brav hatte er sich in die Schlange gereiht, vierzig Leute vor ihm und drei Lieder lang gewartet. Bis er dem Toiletten-Drachen zehn Santimes in die Klaue drücken durfte und rein in den Mief… Dieses Warten stinkt ihn an – aber wenn er rausgeht in den Park, lassen sie ihn nicht mehr rein!
Er blickt herab auf die doppelt gewundene Warteschlange und könnte bequem auf einige Köpfe spucken. Verkrampft da nicht ein Typ in hellen Hosen auffällig die Knie? lächelt er schadenfroh.
Hinter den Toiletten gleich der menschhohe Zaun; viel zu viele Leute dort und alle selber pinkelgeil. Und von der Tanzfläche kommt er gerade: soll er mittendrin die Hose runterlassen und ein große Lache spritzen? Andere, die kotzen, aber er kommt nicht zum pissen. Aber eben nur, weil er nicht allein ist. Sonst wäre alles kein Problem. Aber er läßt sich nicht regulieren, er nicht! Unbemerkt muß es geschehen. Unbemerkt.
Seine übervolle Blase drückt ihn nach rechts, bis zur Außenmauer. Tief unter ihm liegt die Minigolfanlage im kahlen Laternenlicht. – Aber dort! Hinten wird es flacher! Hier ist die Mauer gerade mal hüfthoch; kann man sich leicht drüberschwingen, beugt er sich nach draußen von einer dunklen Ecke angeblinzelt: Was für ein Fleckchen! und will schon die Füße auf die Mauer setzen… hechelt ein Schäferhund mit langer Zunge über die Bahn mit der Nummer neun. Ein Gummiknüppelträger tappt hinterher. Ermins schluckt. Nochmal Glück gehabt!… Er wird einfach seinen Pint nach draußen pfriemeln… und wie nachdenklich auf die Bahnen starren… Ja! Das wird er! Als begeisterter Minigolfer hinunterstieren und die Schläge einstudieren: dieser Spitzkegel da, der braucht bestimmt vier Versuche zum Einlochen – und dann den Pint vom eigenen Rücken gedeckt in den Schatten der Mauer hängen und es bei besonders lauter Musik plätschern lassen… Aber seine neuen Schuhe…?! -- Einen Becher besorgen? Aber seine Blase?! Ein halber Liter reicht da nie! // Mist! da kommen zwei heran, setzen sich auf die Brüstung, neben ihn.
Dreht sich weg. Drei Seiten angetestet. Die vierte und letzte liegt offen hingebreitet. Und er weiß schon: Dort werden keine Fleckchen sein. Der schmale Weg dichtbeschritten, ein Grasstreifen und der Zaun. In dem hängen junge Kerle, die Finger in die Maschen gekrallt. Zwei Gummiknüppel stehen dort, passen auf, daß keiner rüberklettert. Ermins rast die Treppe runter: Was stehen die nur alle da und glotzen! Ihn glotzen sie an. Voyeure! Geht doch nach Haus und schaltet eure Glotze an. Ich muß nur pissen hier, sonst nichts. Das aber dringend! Dringend! Was will ich denn tanzen? -- Auf dem gepflasterten Weg: quetscht er die Leisten zusammen, sein Gang wird hopsend und die Knie reiben bei jedem Schritt: Oja! Das hilft!
Er passiert eine Schwarzuniform. Breitbeinig wacht der und ist glattrasierter Hohn, aber ihn zwingt er nicht, ihn nicht, tritt Ermins den Rückzug zum Rucksack an: Strategie überdenken.
Wo es ihn aber auch nur zwickt, neben Christaps, der ihm einen Becher Gin mit Orangensaft an die Lippen hält: verkrampftes Lächeln, zwickt es ihn – halt! ein Tropfen kommt; Schnell, Schnell: Gegendruck, das Gesicht tomatenrot, und heiß und kalt, gleich zerreißt’s ihn – als sich eine Hand auf seine Schulter legt. Es zuckt ihn – schon feucht im Slip – herum: Zane! ist es und will ihn küssen. Dafür ist jetzt keine Zeit! flieht er, der Mund ein dünner Strich.
Hinter die Bühne! Diese aufgeklappte Muschel; dort ist Platz und dort ist niemand, pocht sein Urin. Gleich gibt’s Dammbruch; noch hopsender, ein Gummiball. Eine Schnur, eine Schnur muß her… und ein fester Knoten… Hinten angelangt: Viel viel Licht, der Zaun, Gaffer… Von wegen: Niemand. Dort: Eine Tür! — Verschlossen. Nochmal die Terrasse hoch ::: Der Köter umtrabt nach wie vor die Bahnen.
Raus! Die Torsteherin sieht er nicht. Der Vorplatz, Ermins bohrt sich links, von den Gesprächsgrüppchen weg. Durchs hohe Gras. Eine Buschkette wartet. Auf ihn. Nur auf ihn. Zweige rascheln, geben Deckung. Endlich allein. Knöpfe platzen, sein Pint durchflutscht den Hosenschlitz. Unbeobachtet, welch ruhiges Fleckchen, prustet die Fontäne, noch bevor das rote Köpfchen Nachtluft schnuppern kann. Den Kopf im Nacken stöhnt Ermins durch weit offenen Mund: Blasenüberdruck – ungekrümmter Strahl, uringebündelt, tockt auf Unkrautblätter, gelbe Flecken. Ahh! entleert er sich, Augen zu – und er sieht Zane: Puppengesicht, aus dem eine Zunge glitscht, orangensüß: Warum denn reden? fingert er ihren Wollpullover frei. Ihre Nasenflügel flattrig über drei ruhigen Leberfleckchen, ein Spreizschritt um ihn geschenkelt, sinken sie ins weiche Gras, ein Federbett. Eine Handvoll Brust im Mund wühlt er blonde Locken, Fingernägel spitzgefeilt, schwillt er ihr entgegen: der rote Kopf handumkraust; von wegen knöcherne Blicke! alle Sorgen umsonst, erleichtert, stockender Wasserstrahl: der Tanz war nichts, war kein Flirt und ist vergessen, denn jetzt Zane, die seinen Pint voll und handlich ganz begreift; der baumelt und lächelt vorhautgepellt ins nichtsige Nachtdunkel: nachzügelnde Tropfen besprenkeln seine Schnallenschuhe.
Und Ermins hängt im Buschgeäst. Ausgepißt. Er knöpft sich die Hose zu und tritt auf die Wiese. Auf dem Vorplatz sind immer noch die Plaudergruppen. Sie beachten ihn nicht. Vor ihm der Maschendrahtzaun. Die Steinmauer. Das Metalltor. Dort steht die Torsteherin im blauen Anorak. Neben ihr eine Schwarzuniform auf Wache. Behaarte Hand am Schaft des Gummiknüppels. Der glänzt wie Leder.
Ermins schwenkt dünnlippig ab und stakt zum Zaun. Unter einer Kiefer bleibt er stehen. Er steckt die Nase durch eine Masche, krallt die Finger ein. Vor ihm der flache Grasstreifen. Dahinter die Tanzfläche. Acht hochbogige Spritzer weit entfernt. Und am Rand steht Zane. Mit den andern. Er sieht sie lachen. Er sieht einen Plastikbecher an ihren Lippen.

 

Theodora präsentiert

Zurück zur Startseite