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lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik |
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Juli Zeh |
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lauter niemand 3 |
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Erik Erichson |
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"Und jetzt fahre ich in die Stadt und FICKE EINEN ADLER!"
E. ging nach unten und zwischen den beiden Tannen durch das Tor zur Garage
in der sein Motorrad stand, das Vorderrad eingespannt in eine lange Gabel
wie in das umgedrehte Gehörn eines auf dem Kopf stehenden Teufels, mit Stoßdämpfern
daran, abwärtsdrehende Spiralen wie jene des menschlichen Erkenntnisstrebens,
und mit Kolben, die auf und nieder jagen konnten, Unsichtbares zerkauend
wie Zähne der Zeit.
Noch kurz zuvor, vor dem Schlafzimmerspiegel stehend, kurz zuvor hatte E.
daran gedacht, wie anstrengend es oft war, ein Gott zu sein, anstrengend
aber doch lohnend: denn die Aussicht war phantastisch. Nicht immer glaubte
er an Gott also an sich selbst, aber an jenem Tag, kurz zuvor und noch bevor
er vor dem Spiegel stand, hatte E. sich von der Kloschüssel erhoben und
sich umgedreht und in Ehrfurcht betrachtet, was er da hineingeschissen hatte:
ein wahrer Gottesbeweis. Wohl ballaststoffreich gegessen in letzter Zeit.
Er stand vor dem Spiegel, der seine schwellenden Muskelmassen nicht fasste,
E. quoll über die Ränder, er hob die Arme und winkelte sie an und die Muskelmassen
quollen über die Ränder des Spiegels hinaus, und so konnte E. sich immer
nur TEILWEISE betrachten, E. betrachtete die TEILE seines Körpers - halber
Brustkorb; Oberschenkel; Halsstrang linke Schulter Trizeps; halbes Gesicht
und Arm bis zum Ellenbogen - und in Gedanken setzte er die Teile zusammen
zu dem Gesamtbild, das allein seinem mächtigen Körper entsprach. Und E.
sagte: "Jetzt fahre ich in die Stadt", und er stieg die Treppe hinunter
und zwischen den Tannen auf sein Motorrad. Welches nicht ansprang.
Auf der Treppe war für ihn jede Stufe nicht mehr Unebenheit als die Risse
im Belag einer Straße, die sich von der Sonne dehnen lässt bis ihr die Rückenhaut
aufplatzt an vielen Stellen, dass man in ihr eine Schlange sehen muss, die
sich häuten will von hier bis zur Stadt. Die Stufen zur Haustür des Nachbarn
trat E. in den Boden wie Steinchen in einen aufgeweichten Waldweg, der,
wo die Straße Schlange sein will, selbst nur zum Regenwurm berufen ist und
nur zum Grundstück des Nachbarn hinüberführt: des Nachbarn, der E. das Motorrad
empfohlen hatte und dessen Aufgabe es nun war, das Motorrad zu warten und
die Kolben zu polieren bis sie glänzten und hoch und runter flutschten in
ihren Zylindern wie weiße Hasen im Zylinder des Zauberers, und die Stufen
des Nachbarn trat E. in den Boden und den Klingelknopf drückte er in das
Haus hinein wie man den Bauchnabel hineindrückt in einen weichen Körper.
Der Nachbar kam, öffnete die Tür und wartete nicht auf E.s Wünsche, sondern
schoss sich in den Kopf, von der rechten Seite, dass sich die Scheibe des
Aquariums auf der Anrichte links unter der Garderobe rötlich färbte. Dass
es Sonnenuntergang war für die Fische.
"Und jetzt", brüllte E. wie man hineinbrüllt in das Stethoskop eines Arztes,
der einem doch nur das Herz ablauschen will, ob es ein Lied singt bei seiner
Arbeit: "Jetzt fahre ich in die Stadt und FICKE EINEN ADLER."
Und der Kopf schwoll ihm vor Freude und vor Wut, dass die Augen klein wurden
und er schlecht aus ihnen heraussehen konnte, nur noch AUSSCHNITTWEISE konnte
er die Welt sehen. E. sah AUSSCHNITTE - das Knie der Frau des Nachbarn und
der Griff an der untersten Schublade der Flurkommode; ein Blumenbeet mit
fünf Tulpenstengeln und die drei Füße eines Gartenzauns; ein Flügel und
die Klaue eines Vogels und die Wipfelspitze der linken Tanne - und setzte
daraus ein Gesamtbild zusammen wie die Welt sein musste und er sah sein
Motorrad und stieg auf und fuhr zur Bushaltestelle.
Das Schild auf der Stirn des Busses sagte STADT und der Bus kam und bremste.
E. griff zwischen die Hälften der Tür und riss sie auseinander wie man die
beiden Hälften einer Frauenbluse auseinanderreißt, dass die Knöpfe abspringen,
und es sprangen Haken und Schrauben aus der Bustürverriegelung und die Tür
stand offen. Der Busfahrer war ein Strich auf seinem Sitz, kaum zu unterscheiden
von der Naht auf dem Kunstleder der Polster. Der Busfahrer, dessen Aufgabe
es war die Tickets auszugeben, gab ein Ticket und E. schob es in den Fahrscheinentwerter
und knüllte den Entwerter zusammen mit dem Fahrschein darin wie man das
Schulbrot eines Kinds zusammenknüllt mitsamt der Aluminiumfolie und der
Busfahrer zog eine große Pistole und schoss sich in den Kopf. Von hinten.
Es war als regnete es im Bus, von innen, und die Scheibenwischer wischten
außen vergeblich auf der Windschutzscheibe hin und her. Und die Fahrgäste
stiegen aus und halfen das Motorrad in den Bus tragen: erst das Vorderrad,
dann anheben und dann hinten, dabei plapperten sie und fragten, Junge oder
Mädchen, wie alt, wie schwer. Warum. Und E. setzte sich auf den Busfahrer,
der endgültig zwischen den Polstern verschwand, und sagte in das Mikrophon:
"Und jetzt fahren wir in die Stadt" - und ich FICKE EINEN ADLER, dachte
er sich dazu. Er nahm das Lenkrad vorsichtig in die Hand wie man den Deckel
eines Marmeladenglases fasst und drehte es hin und her. Durch die befleckte
Scheibe sah er nur FLECKEN der Welt, Erik Erichson betrachtete sie FLECKENWEISE:
Das sah gut aus.
Draußen war es grau und es regnete.
Die Fahrgäste setzten sich bequem und ihnen platzten die Köpfe einer nach
dem anderen wie Äpfel platzen an einem Baum und fast alle Fensterscheiben
wurden Stück für Stück rot befleckt und als der letzte Kopf geplatzt war
kam das Licht von draußen rötlich in den Bus wie ein endloser Sonnenuntergang.
Als Erich Erikson (Name geändert) an jenem grauen Nachmittag des Monats
Mai sein Fahrzeug des Personenbeförderungsverbunds abstellt wie jeden Tag,
grüßen ihn seine Kollegen wie jeden Tag, tippen sich an die Mützen, halten
wie jeden Tag den einen oder anderen einsilbigen Schwatz. Es scheint ein
gewöhnlicher grauer Nachmittag zu sein, Erich Erikson ahnt nichts von seinem
Schicksal. Auch seine Kollegen ahnen nichts von ihren Schicksalen. Die Menschen
draußen auf der Straße ahnen nichts von ihren Schicksalen und die nicht
in ihren Häusern und die nicht im Büro. Wie jeden Tag ahnt die ganze Welt
nichts von ihrem Schicksal. Wie jeden Tag verlässt Erich Erikson den Nahverkehrbetriebshof
um sich auf den Heimweg zu machen, dem wohlverdienten Feierabend entgegen.
Und E. verließ den Nahverkehrbetriebshof der ein großer Schlafsaal ist in
dem die Busse und die Bahnen schlafen während der Nacht bevor sie sich am
Morgen aus den Toren schlängeln und sich in die Stadt graben wie Würmer
in einen Beutel Mehl auf dem oberen Brett der Speisekammer. E verließ den
Hof wie man einen Friedhof verlässt auf dem man gerade eine Tante begraben
hat und seine Schritte hinterließen Mulden im Asphalt in denen sich Regenwasser
sammelte. Im Asphalt einer Straße, die sich unter der Sonne dehnte. "Und
jetzt", rief E., "fahre ich in die Stadt und FICKE EINEN ADLER."
Als E. aus dem Bus stieg brach die Sonne durch die Wolken traf seine Augen
und blendete ihn. Und nur wo seine Wimpern Schatten warfen konnte er sehen.
So war die Welt in STREIFEN, er betrachtete sie STREIFENWEISE - eine Spalte
Hochhausfenster; die linke Seite einer Frau an einen Ampelmast gelehnt und
darüber die Ampellichter in bekannter Reihenfolge; der Sturzflug einer Taube;
vertikale Sonnenstrahlen. Und E. erinnerte sich an AUSSCHNITTE - ein Knie
der Nachbarsfrau und der Schubladengriff; die Wipfelspitze einer Tanne -
und so fand er sich zurecht.
Die Wolken rissen auf und ließen ein Bündel Sonnenstrahlen fallen wie eine
Handvoll Speere, diese bohrten sich in die Erde und kamen zitternd zur Ruhe.
Strahlend und in Licht getaucht war die Stadt, geblendet nahm das Auge nicht
viel mehr wahr als den Flug einer Taube, das Spiegeln eines Wolkenkratzers.
Einen der Lichtspeere hätte E. nehmen wollen, um sich einen Adler herunterzustechen
von der Spitze des Funkturms, um ihn an den Flügeln packen zu können und
ihn zu FICKEN, richtig DURCHZUFICKEN.
"Jetzt fahre ich in die Stadt."
Erik Erichson, als Erik Erichson den Funkturm im Rücken ließ und sagte,
er wolle in die Stadt fahren, war er schon mittendrin und wandte sich um
und schaute nach einem tourist-i und sah das tourist-i an dessen Eingangstür
ein großer Plan der Stadt befestigt war. In Planquadrate unterteilt war
die Stadt, und das Gitter der Planquadrate war aus dicken schwarzen Strichen,
tief wie Wassergräben, welche die Stadt zerschnitten, und E. sah die ZERSTÜCKELTE
Stadt und betrachtete die STÜCKE und die Stadt gefiel ihm. Er betrat das
tourist-i. Und hinter der Theke, hinter dem Kugelschreiberhalter, hinter
den Knöpfen ihrer Bluse saß die Frau unter ihren blonden Haaren wie man
unter einem Weizenfeld sitzt, und E. griff sich eine Handvoll Haare und
wischte sich damit die Achselhöhlen trocken, wischte und rubbelte wie man
das Auto trocken rubbelt mit dem Hündchen der Vermieterin. Dann ließ er
die tourist-i - Frau los und sagte: "Als Tourist habe ich ein Informationsbedürfnis",
so sagte E., "wo finde ich einen Adler?" - "Sie, sagte die Frau, "Sie rufen
sich eine Fahrradrikscha und lassen sich in die Sendezentrale ziehen." Und
sie nahm den Kugelschreiber aus der Halterung und drückte ihn sich ins Auge
mit der Spitze voran und fiel vornüber mit dem Gesicht auf die Theke, dass
der Kugelschreiber ganz verschwand in ihrem Kopf und das Auge sich schließen
konnte wie ein See in den man etwas geworfen hat; so schlug das Auge ringförmige
Welle und schloss sich glatt. Der junge hübsche Arzt würde lange zu erzählen
haben von seiner ersten Obduktion und dem Kugelschreiber im Kopf, und Erik
Erichson, zufrieden, verließ das tourist-i und riss die Tür ab mit dem Stadtplan
daran und steckte sie zusammengefaltet in die Tasche.
E., als E. sich an der Ecke fand an einem dunklen Sommernachmittag im März,
bot eine Fahrradrikscha ihre Dienste an mit einem Chinesen in den Pedalen,
der ihm die Peitsche reichte und ihn aufforderte Platz zu nehmen. E. nahm
Platz wie man eine Frau nimmt, nachdem sie tot auf die Theke gefallen ist,
eine Frau, die es gewagt hat, dumme Ratschläge zu geben, E. nahm von hinten,
hinten rauf nahm er Platz und die Rikscha kippte wie eine Wippe und das
Fahrrad ragte vorne hoch in die Luft und der Chinese strampelte wie ein
Adler strampelt der in den Himmel fahren will und er strampelte und schoss
sich in den Kopf, die Achse brach. E. stieg aus. Sie waren da.
E. in der Sendezentrale, wir begrüßen einen ganz besonderen Gast, Erik Erichson
hält ein spannendes Thema für uns bereit, an diesem Abend, der letzte Abend
im Jahr, meine Damundherrn, E. soll was sagen über seine Untersuchung zu
dem Phänomen der sich in Großstädten neu ansiedelnden Adler, und über andere
Greifvögel, E. der was sagen sollte, stapelte fünf Moderatorensessel übereinander
und setzte sich und sprach. Erik Erichson spricht zu uns als Ornithologe
und sprach und sprach über artfremde Nahrungsbeschaffung und zivilisationsbedingte
Degeneration, wie die Natur aus dem Wald in die Stadt zurückkehrte um ihren
Anteil zu fordern, wie ein Aufbruch stattfand der Wälder in die Städte.
Wie der öffentliche Nahverkehr darunter litt, E. sprach von Habichthorsten
auf Schuldächern, von Falken in Supermärkten, die über dem Tiefkühlregal
zum Sturzflug ansetzen, von Geiern auf dem Querholm der Schaukeln auf Kinderspielplätzen
und sprach vor allem von Adlern und dass er einen FICKEN WOLLTE live auf
Sendung, er schrie und spie es heraus, FICKEN, schrie es in die ZERSTÜCKELTE
Welt der Stadtpläne und schrie FICKEN FICKEN, bis ihm das Mikrophon zwischen
den Zähnen steckenblieb. Und sie wollten ihn bändigen und stürzten sich
auf Erik Erichson, und drei von ihnen fielen ihm in die Kehle und er schluckte
sie herunter und sie schossen sich in die Köpfe, alle schossen sich in die
Köpfe, und E., der kleine E., der SERIENTÄTER AUF SENDUNG, der arme E.,
der kein Hühnerficker hatte sein wollen, schoss nach seinem Kopf und traf
die Sendezentrale und nahm den Fahrstuhl in den Keller.
Wo dann die Adler waren.
Lächelnd wie man lächelt mit dem Anker eines aufsteigenden Fesselballons
in den Mundwinkeln, lächelnd schaute E. die Adler an, am Boden des Kellerraums,
dicht an dicht. So dicht saßen die Adler, dass ihre Flügel sich übereinander
schoben wie die Schuppen eines einzigen Fischs, gekocht für den Neujahrstag.
Gekocht für E.: Erik Erichson, meine Damen und Herren.
© Juli Zeh |
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