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Stephan Mathys
 
 
literaturlabor 04.01.2004
 
Im Fluss
 
Man müsste nicht nach draussen schauen, um zu wissen, dass die Bäume beleidigt in der Hitze stehen. Es ist August. Nur langsam bewegen sich die Bilder unter dem hohen Himmel. Die Sonne lässt die Gedanken abflachen, trennt die Menschen durch den Geruch ihrer Körper und führt sie wieder zusammen. Der Moment des Eintauchens in kühles Wasser. Das Öffnen von Mund und Augen. Das Aufleuchten der Worte.

Julia hält den Rücken gerade. Sinkt in den Knien tief ein und atmet durch bis in die Zehenspitzen. Sie hört, wie die Zeit vergeht. Mit dem Finger fährt sie ihrem Gesicht entlang. Sanft tastet sie die Ränder der Augenhöhlen ab. Noch hat jeder Sommer abrupt geendet. Julia hat bislang dreissig erlebt. Sie ist Buchhändlerin. Und Sängerin in einer Popband. Die Temperatur wird heute auf über dreissig Grad Celsius steigen. Julia trägt einen seidenen Rock in Orange, dazu ein blaues Hemd. Sie will sich an ihren Traum erinnern. Normalerweise erwacht sie mit dem Gefühl, ihr Leben sei ein Kaufhaus und sie würde sich immer in der langsameren Schlange einreihen.

Kurzes Frühstück. Das Brot ist hart, auch zum Toasten nicht mehr geeignet. Sie stellt die Kaffeetasse ins Spülbecken und packt ihre Badetasche. Unterwegs von weit her ein Stimmengeflecht, Lachen. Julia zieht Rock und Hemd aus. Darunter trägt sie einen schwarzen Badeanzug. Bei der Brücke steigt sie in den Fluss, sucht einen Platz zwischen den vielen Menschen. Das belebende Gefühl des kalten Wassers. Sie taucht unter, taucht auf. Auf dem Rücken liegend belauscht sie die Gespräche der rollenden Kieselsteine.

Ich sehe was, was du nicht siehst. Das bin ich, Julia, hier und jetzt. Im Fluss. Über mir nur Blau, nur Weite. Ich suche Reimwörter, Liederzeilen. Mir fallen Tanzschritte ein.

Julia hatte Axel in einer Kneipe getroffen. Sie ging zu ihm hin und fragte, ob sie sich setzen dürfe. Er schien überhaupt nicht verwundert zu sein. Sie wurden Freunde. Seit einiger Zeit wohnt Axel in einer anderen Stadt. Wegen der Arbeit. Seither ist Julia alleine. Sie will sich einen Hund kaufen.

Bald kommt ihre übliche Ausstiegsstelle. Sie lässt sich aber noch ein Stück den Fluss hinuntertreiben. Zehn Minuten später wird sie von zwei jungen Leuten kurz vor dem Stauwehr aus dem Wasser in deren Schlauchboot gezogen. Die Schwimmerin ist ihnen schon von weitem aufgefallen, ihre Erschöpfung, ihr Versinken. Sie wird unterkühlt sein, einige Momente bewusstlos bleiben, sich dann aber rasch erholen.

Liebe Julia. Hallo Julia. Manche Briefe lese ich laut. Aufbewahren tue ich keine. Ab und zu Heiratsanträge. Männer sind lächerlich. Scheuen sich nicht, lächerlich zu sein. Das Konzert gestern, die Halle ausverkauft. Es ist ein gutes Gefühl, wenn der ganze Scherbenhaufen wie in einem rückwärts gestarteten Film wieder zusammenkommt. Alle Sterne verglühen. Oder verblassen. Ich mache mir nichts vor. Es hat mir nie jemand gesagt, worauf es im Leben ankommt. Ich weiss, wie der höchste Berg heisst. Und der längste Fluss. Ich weiss, was ein Molekül ist. Es muss viel Brandung über mir zusammenschlagen, bis ich als Kieselstein auf dem Grund des Flusses mitrolle. Mir fällt zuviel ein. Das gibt Stau. Wortstau im Hals. Männer sind Versager. Jeder auf seine Weise. Die wenigsten geben sich die Mühe, originelle Versager zu sein. Die Artenvielfalt unter den Frauen ist grösser. So einfach ist das. Darüber reden? Das frisst Leben und macht traurig. Ich will nicht traurig sein. Ich will mit meiner Restzeit etwas anfangen. Am Tuch ziehen, den Tisch leer machen. Neu aufdecken. Vergessen geht einfach. Es bleibt nichts anderes übrig, als zu vergessen. Das wenige, das ich behalte, trage ich sorgfältig in meiner geschlossenen Hand. Wenn ich Lust dazu habe, schaue ich in meine Faust wie ein Kind, das eine Fliege darin gefangen hält.

Julia hatte die Fotos von Axel zerrissen und die Fetzen verbrannt. Sie hat Akan erfunden. Akan hat Elena mitgenommen. Elena ist zwei Jahre alt. Auf dem Tisch lag ein Zettel: Wir sind weg. Suche uns nicht. Julia hat ein Lied geschrieben. Über Akan und Elena.
      Mit elf bekam sie einen Radiokassettenrecorder geschenkt. Immer sonntagabends war Hitparade. Sie legte ein leeres Band ein und nahm ihre Lieblingslieder auf. Die Kassetten waren ihre Rettung. Band rein, Knopf drücken, Musik raus. Heute retten sie andere Dinge. Ihre Medikamente. Ärztlich verschrieben. Ihre eigene Musik. Das Lied über Elena. Und die Liebeslieder an einen, den es nicht gibt. Manchmal rettet der Mond. Vor allem, wenn er dünn und messerscharf ist.

Als Julia schwanger war, ist Axel abgehauen.

Ich weiss nicht, wie Zeit funktioniert. Ich weiss nicht, wie lange ich schon gelebt habe. Ich wäre gerne für ein paar Jahre tot. Würde dann wieder hervorkriechen und mich umschauen. Nicht nach jedem Erwachen von vorne beginnen. Ich möchte ewig Leben, aber immer nur in Phasen. Das Fass wird immer voller. Ich habe mich an den Ton der aufschlagenden Tropfen gewöhnt.

Julia hatte ihn vorgewarnt. Sie sagte: Axel, noch so ein Wort, und ich werfe dir diesen Aschenbecher an deinen Scheisskopf! Sie hat es getan. Mit voller Wucht. Es hat ihn rückwärts vom Stuhl geschmettert. Mindestens zwei Minuten lang war er bewusstlos.

Langsam wird es kühl. Julia fühlt leichte Verkrampfungen in den Beinen. Strampeln hilft. Das Wasser ist weich. Es umhüllt sie. Am Ufer spielen Kinder. Sie singen, schreien.

Wind strengt mich an. Weiss nicht, was Wind ist. Wind wirft mit Wolken um sich. Wind prahlt. Wie alle. Was für ein Sommer. Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich Elena vor mir. Ein lautes Mädchen mit schwarzen Haaren. Das Lachen in ihrem Gesicht möchte ich sein. In den Bergen gibt es Bäume, deren Stamm vom Wind gebeugt über den Felsen kriecht.

Elena ist nie zur Welt gekommen.

Eine Reise in die Südsee gewinnen. Schokolade essen. Dreihundert Gramm. Eine Flasche Wein. Tempranillo. Achtundneunziger. Einen Fisch ausnehmen. Den Bauch aufschlitzen. Die Eingeweide raustrennen. In die Kanalisation runterspülen. Für die Ratten. Manchmal rettet tanzen. Drehen. Schnell. Immer schneller. Dazu sprechen. Solange ich mit mir spreche, ist alles gut. Weiss ich, dass ich noch lebe. Ich rufe mich beim Namen. Zuerst leise. Julia. Dann lauter. Noch lauter. Ich rufe nur noch. Höre nicht mehr. Wer ist Julia? Es wird nur dann schlimm, wenn ich nicht mehr mit mir spreche. Nur noch die Bilder sehe. Dann bekomme ich Selbstmitleid. Dass ich das Pech hatte, auf die Welt zu kommen. Ich war das schnellste Spermium. Mein grösster Sieg bislang. Meine grösste Niederlage. Ich brauche einen Panzer. Will eine Echse sein. Eine dicke, grosse Echsenhaut haben. Wo ich mich drin schützen und verstecken kann.

Wir hatten Hütten aus Leintüchern gebaut. Meine Freundinnen und ich. Darin gewohnt, uns festgehalten. Ich träume was, was du nicht träumst. Familie gespielt. Ich war Vater. Mit der Faust im Sack und grosser Nase. Vater hat mich nie angefasst. Weder schön noch schmutzig. Nicht das Kind mit eigenem Geruch imprägnieren. Wir sind keine Katzen.
      Mit der flachen Hand aufs Wasser schlagen, den aufspritzenden Tröpfchen zuschauen, in denen sich die Welt spiegelt. Leben ist Brandung. Gezeitenspiel. Ich bin eine andere. Will leuchten. Mit dem ersten Ton. Klavier. Dann Gitarre. Schlagzeug. Meine Stimme. Die Hand am Mikrofon löst sich, fliegt. Mit dem Verliebtsein ist es wie mit Reizhusten. Seit einem Jahr reihe ich Affären auf. Ich zähle nicht mehr. Wie Käfer kriechen sie in mich hinein. Ich möchte in meinen Bauch schauen. Eine Venensonde. Das Aufflattern meiner Lungenflügel.

Vater wusch sich täglich zweimal. Mutter war ein rollender Fels. Zu viel für Vater. Zu viel Mutter für Vater. Zu viel Tochter für Vater. Er ging fort. Kam wieder. Ging. Wie ein Pendel. Taktlos. Brachte fremde Gerüche. Von einer anderen. Aus einer anderen Stadt. Mein Bauch tut weh. Meine Lieder. Mein Leben. Fragen Sie etwas anderes. Gibt es diese Elena wirklich? Ich verhülle mich. In Seidentücher. Von der Buchhändlerin zum Popstar. Kometenhafter Aufstieg. Kometen steigen nicht. Sie stürzen und verglühen.

Noch hundert Meter bis zur letzten Ausstiegsmöglichkeit. Die riesige Plane mit dem Hinweis hängt am Seil, welches über den Fluss gespannt ist. Weiter unten die Brücke mit den Betonpfeilern, dann die Schleusen, der Rechen des Stauwehrs.

Ich schaute der Schallplatte zu. Als Kind. Kleine Nachtmusik. Ich hörte und schaute. Wie hypnotisiert. Schwarze, magische Scheibe. Sie zerbrach in Stücke. Ich klebte sie wieder. Zerbrach. Klebte. Da wusste ich, so spielt Leben. Ich sehe was, was du nicht siehst. Es ist schwarz und rund. Dreht sich, dreht sich. Nur nicht vertrauen. Ich belüge, wer mir vertraut. Wer frisst Licht? Woher kommen Schmerzen? Wie werden Namen ausgewählt? Wer frisst Dunkelheit? Eine Kerze anzünden. Der Flamme zuschauen. Still werden. Zuhören, wie es still wird.
Schwimmen, immer weiter schwimmen. Gleichmässige Bewegungen. Die Handflächen zusammenführen, trennen, das Wasser nach hinten schieben, den Körper gerade und knapp unter der glitzernden Oberfläche halten.

Viele Menschen. Gesichter. Blumen. Sonne. Die Scheinwerfer wie Sterne. Einige grün, andere rot, einzelne funkeln in wechselnden Farben, changieren von rot über gelb nach blau, dazwischen orange, violett. Ich bin ein Rubin. Höre meine Stimme. Höre ein Echo. Tauche ein. Tauche auf. Ein neuer Stern. Da oben am Himmel strahlt ein neuer Stern. Licht weg. Applaus. Sie stampfen mit den Füssen. Schluss. Vorbei. Keine Zugabe mehr. Wir liegen uns in den Armen. Duschen. Trinken Bier. Bei "Elena" wie oft: Gesang aus hundert Mündern. Tut gut. Tut weh. Tut verdammt noch mal immer noch weh. Weiss nicht, was Zeit ist. Zwei Jahre her. Zwei Jahre sind wie viel? Umgerechnet in Kopfschmerzen. Umgerechnet in schlaflose Nächte. In geballte Fäuste.

Die Sonne webt Perlenschnüre in den Fluss. Mir ist kalt. Ich bin müde, schwer. Ich sehe was, was du nicht siehst. Das bin ich. Er mochte meine Lieder nicht. Zu laut. Zu schlimm. Ich stosse Axel ein Messer ins Herz. Übergiesse ihn mit Sprit. Zünde ihn an. Sitze am Tisch. Rede weiter. Erzähle von mir. Es sieht schön aus. Die Flammen. Der hell erleuchtete Körper.
      Das Wasser ist kalt oder warm, weiss nicht. Zieht, wirbelt mich herum, trägt mich wie auf Händen. Haare kämmen. Gesichter üben. Niemand da, der Kind zu mir sagt. Den Kragen richtet. Die Schultern gerade rückt. Ich sehe mich. Werde bei der Hand genommen. Werde angefasst. Höre mich sprechen. Erzähle ein Märchen. Mein Name. Julia. Zuerst leise. Dann laut. Immer lauter. Es wird dunkel. Es wird hell. Ich öffne die Augen. Grelles Licht. Aufgeregte Stimmen. Schliesse die Augen. Dann nichts mehr. Dann Stille. Zuhören, wie es still wird.

Berlin / Dezember 2003
 
 
literaturlabor 14.12.2003
 
Loretan
 
Patrick Loretan war Anfang vierzig und mit seinem Leben zufrieden. Er verbrachte seine Zeit am liebsten alleine. Am Samstag ging er ins Theater oder in eine Ausstellung. Am Mittwoch machte er Sport, am Freitag ging er in die Sauna, unten am Fluss. Dort stürzte er an einem frühlingshaft warmen Tag im Februar so unglücklich, dass die obere Hälfte seiner rechten Ohrmuschel weg getrennt wurde.

Mit der Hand den Griff umfassen. Aufstehen. Blick in den Spiegel. Kein Bild. Taumel. Befehle aus dem Dunkeln. Auf die Bank setzen. Unterhose, Socken, Hemd anziehen. Ein Tuch auf das blutende Ohr halten. Die Garderobentüre öffnen. Ein Taxi bestellen lassen. Schuhe binden. Geht nicht. Schnürsenkel unter die Laschen schieben.
"Was ist passiert?"
Eine Stimme. Ein Gesicht. Ein langsames Erwachen. Ein Eisbeutel wird gereicht. Angenehm kalt. Weiter auftauchen. Musik. Ein Regenschirm. Stille. Wellengang. Helfende Hände. "Alles in Ordnung? Steigen Sie ein. Wir fahren ins Krankenhaus."

Eine Woche vor dem Unfall wurde Loretan von einem Mann in wackeligem Englisch angesprochen.
"Hey mister, I talk about your future, you listen?"
Loretan blieb stehen, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse an Geschichten über seine Zukunft.
Sie setzten sich auf eine Bank. Der Mann sagte, er komme aus Indien und könne in die Menschen hinein sehen.
"Schreiben Sie eine Zahl, eine Blume, ein Werkzeug auf den Zettel.
" A number, a flower, a tool.
Loretan schrieb: Drei, Rose, Hammer, und faltete das Papier. Der Inder nahm den Zettel, zerknüllte ihn. Liess eine Kette darüber kreisen.
"I see: three…and a rose…and a hammer."
"Das war nicht schwierig zu erraten, alle schreiben: Drei, Rose, Hammer," dachte Loretan und ärgerte sich über seine Einfalt.
Er wollte gehen. Der Inder hielt ihn zurück, nannte ihm eine Zahl, die Glück bringen solle.
"You lonely," sagte er, "you need woman."
Loretan hoffte, dass ihn keiner seiner Bekannten auf der Bank sitzen sieht.
"I don't need a woman," sagte er, "sondern einen Schutzschirm, der mich vor Menschen wie Sie einer sind bewahrt, do you understand?"
Der Inder lachte, schüttelte den Kopf, wurde wieder Ernst, verzog sein Gesicht.
Loretan beneidete ihn um seine Haut und die schwarzen Haare.
Er war ihm sympathisch.
"You will have accident, very soon."
Der Inder fasste Loretan am Arm. Es störte ihn, dass ihm diese Berührung nicht unangenehm war.
"I can help!" Loretan hätte ihm einen hübschen Betrag hinblättern sollen, dann würden Yogis für ihn beten, bis an seinen letzten Tag.
Der Inder zeigte ihm eine zerknitterte schwarzweiss Foto. Darauf vier Männer mit langen Bärten, auf dem Boden sitzend. Im Hintergrund Berge.
"Eine dünne Beweisführung", dachte Loretan und sagte "no, thank you. Ich glaube eher nicht an solche Dinge."
Der Inder kramte in seiner Hosentasche. Er merkte, dass sein Kunde abzuspringen drohte.
"Take this!"
Er drückte ihm einen kleinen, blauen Stein in die Hand.
"And you'll be very lucky, no accident, but nice woman, and many many children."
Loretan spielte mit dem Stein zwischen seinen Fingern.
"Der ist schön. Und ich finde Sie nett. Aber wir werden nicht ins Geschäft kommen. I have no money."
"Only twenty, prize for friends."
"Ich muss jetzt gehen."
Er bedankte sich und schüttelte die Hand des Inders. Dieser wollte ihn zurückhalten. Loretan gab ihm den Stein, drehte sich um und ging.
"Good by!"
Er hörte, wie der Inder hinter ihm zu Boden spuckte und etwas murmelte.

Der Assistenzarzt nähte die zwei Hälften der Ohrmuschel wieder zusammen und sagte, er würde bald wieder aussehen wie vorher. Loretans Kopf war mit einem Verband umwickelt, das Ohr mit zusätzlicher Gaze verpackt. Als er das Spital verliess, fühlte er warmes Blut über seine rechte Wange rinnen.
Der Taxi Fahrer zeigte sich mitfühlend. Er kannte die Sauna. Er gehe immer mittwochs, dann ist gemischt.
Loretan kam sich vor wie eine Figur in einem Roman.
"Ich übernehme die Fahrt, Sie sind für heute bedient mit Unglück."
Loretan fand seine Geste nett, aber übertrieben und bedankte sich freundlich. Mit einem Papiertaschentuch und Spucke rieb er das eingetrocknete Blut weg. In seiner Wohnung setzte er Wasser für einen Tee auf. Er schaute in den Spiegel, weil er sich gefragt hatte, wie er sich fühlen würde, wenn er sich wirklich das Ohr abgetrennt hätte. Ihm kam der Maler mit den roten Haaren und den Sonnenblumen in den Sinn.
"Vielleicht hätte ich das verlorene Stück in ein Tuch wickeln und jemandem schenken sollen."
Das Wasser kochte. Er setzte sich ans Telefon und rief Alexandra an.
Es war kurz nach Mitternacht. Als sie sich meldete, begann er zu weinen.

In der Nacht schlief er kaum und musste sich ein paar Mal übergeben. Saure, gelbe Flüssigkeit. Die Angst, sich auf die rechte Seite zu drehen, mit dem Gewicht seines Kopfes das Ohr zu beschädigen, die Durchblutung zu behindern.
Alexandra war sofort nach dem Anruf zu ihm gekommen, sie wohnte gleich um die Ecke. Sie tranken Tee. Loretan fühlte sich sehr erschöpft. Sie fragte, ob sie bei ihm übernachten solle. Er gab ihr ein Leibchen und eine Trainingshose. Im Bett hielten sie sich an den Händen und achteten darauf, sich sonst nicht zu berühren. Loretan war einmal in sie verliebt gewesen. Sie war Journalistin, schrieb oft Reisereportagen und war viel unterwegs. "Ich würde nur dein geordnetes Leben stören," hatte sie gesagt.

Sie war schön mit ihren schulterlangen, dunklen Haaren und den grünen Augen. Ihr zierlicher Körper war bis in die Fingerspitzen belebt. Loretan war gerade von Kathrin verlassen worden, als er Alexandra im Theater kennenlernte. Sie sprach ihn in der Pause im Foyer an, nachdem sich ihre Blicke über die Spiegelwände hinweg einige Male getroffen hatten. Nach der Vorstellung gingen sie zusammen Wein trinken. Nach dem zweiten Glas war er verliebt gewesen. Seither sind sie gute Freunde geblieben, seine Verliebtheit hatte sich nach ihrer Absage bald gelegt.

Am anderen Morgen musste Alexandra früh weg, sie hatte sich leise verabschiedet und gute Besserung gewünscht. Loretan hätte ihr gerne von der Begegnung mit dem Inder erzählt. Er schlief noch einmal ein und erwachte erst wieder gegen Mittag. Es regnete. Er schluckte die vorgeschriebenen Medikamente, rückte den Verband zurecht und suchte das Kärtchen mit den nächsten Arzt Terminen. Er ass ein Stück Brot und überlegte, wen er noch benachrichtigen müsste. Es kam ihm niemand in den Sinn, was ihn nicht bedrückte. Er schrieb Alexandra einen Brief. Weil er nicht wusste, was er als nächstes tun sollte, zeichnete er mit einem dünnen Filzer seinen Kopf. You need woman. Er überlegte, wie seine Haare aussehen und machte die entsprechenden Striche aufs Papier. Nach der Trennung von Kathrin hatte er beschlossen, sich für sein weiteres Leben auf nichts Neues mehr einzulassen. Er wollte seinen Alltag wie eine Wohnung eingerichtet wissen. Jedem Tag wies er einen Charakter zu und möblierte ihn entsprechend. Er vermied es, neue Menschen kennen zu lernen. Alexandra war eine Ausnahme gewesen. Am Montag putzte er die Wohnung. Am Dienstag verabredete er sich mit einem Freund oder schaute fern.
Das Zeichnen der Nase machte ihm Mühe, sie geriet zu schmal oder dann wieder zu breit. Ein einziges Mal hatte er mit Alexandra geschlafen. Sie hatten sich zufällig in der Stadt getroffen. Sie erzählte von ihrer Reise nach Neuseeland. Sie tranken Kaffee. Nachher gingen sie zu ihm nach Hause, um gemeinsam etwas zu kochen. Alexandra schaute sich mit schräg gelegtem Kopf die Buchrücken in den Regalen an. Sie griff sich eines heraus und streckte es ihm hin. Sie wünschte, dass er daraus vorlesen würde. Als Gegenleistung massierte sie seine Schultern. Er sagte, auf dem Sofa wäre es gemütlicher.

Loretan betrachtete seine Zeichnung mit zusammengekniffenen Augen. Er fand sie recht gut gelungen. Die Vorstellung, bald nach draussen gehen zu müssen, sich mit dem Verband und dem Packen am Ohr den Leuten zu zeigen, war ihm unangenehm. Er schämte sich für seine Auffälligkeit und die Banalität seines Missgeschicks war ihm peinlich. Beim Duschen ausgerutscht, mit dem Kopf die Kante der metallenen Seifenschale gestreift und dabei die Hälfte des Ohrs abgetrennt. Er suchte nach einer Kappe, um sich darunter verstecken zu können. Dann stellte er die Nummer von Alexandra ein. Sie war nicht zuhause. You'll have accident. Loretan schüttelte den Kopf. Er zog die Jacke an, setzte die Mütze auf, wobei er das Ohr aussparen musste, und schaute in den Spiegel. Es sah seltsam aus. You'll have many many children. Er ging auf die Strasse und winkte einem Taxi. Der Fahrer stellte keine Fragen und versuchte nicht, ihn im Rückspiegel zu mustern. Es regnete kaum noch. Loretan hatte seine gefalteten Hände auf den Bauch gelegt. Er kam sich unwirklich und wehrlos vor. Während des Nähens hatte der Assistenzarzt gesagt, dass die Heilungschancen bei fünfzig Prozent lägen. Gut möglich, dass am nächsten Tag sein Ohr schwarz sein würde. Auf dem Weg zum Krankenhaus war Loretan zuversichtlich. Der Fahrer bog in die Inselstrasse ein und hielt vor dem HNO Gebäude an. Loretan zählte ihm das Geld in die Hand. Der Fahrer bedankte sich und wünschte ihm alles Gute.