lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
2008
 
Maik Lippert
 
 
Statt über Poetik ...
 

Statt über Poetik spreche ich lieber über Tradition, oder sollte ich besser Konditionierung dazu sagen? Denn ich wurde konditioniert durch die Schule, insbesondere die Erweiterte Oberschule (also diese DDR-Variante von Gymnasium). Wladimir Majakowski, Stufenlyrik stöhnten meine Mitschüler im Literaturunterricht. Ich dagegen jubilierte, so etwas wollte ich auch machen. Das war meine Rebellion gegen die anderen. Später, bereits als Student für Ökonomie las ich dann diesen Band mit Liebesgedichten von Brecht (genaue Bezeichnung: Gedichte über die Liebe, Lizenzausgabe des Aufbau Verlags – in Moskau einmal für 2 Rubel und 38 Kopeken gekauft, in der DDR gab es dieses Buch wahrscheinlich nur unterm Ladentisch). Das faszinierte mich schon - so zusammengeballt, wirkte das ganze auf mich wie ein Kurzabriss über die Ökonomie des Trieb- und Liebeslebens, mit all seinen Spiel- und Geschäftsarten (zumindest heterosexueller Richtung). Zugegeben, heute finde ich manches recht machohaft. Damals wollte ich aber eine Art Revue - oder Kabarettstück machen, schrieb eifrig Notizen wie Mann und Frau treten sich in der Liebe als Warenproduzenten gegen­über: „Das neunte Sonett“ (S. 56)“, „Krise der kapitalistischen Liebesproduktion: „Über den Verfall der Liebe“ (S. 59)“, Männer eignen sich ohne Äquivalent die Lust als Mehrwert an: “Sonett Nr. 15“ (S. 195) etc. Gleichzeitig besuchte ich Schreibwerkstätten (in der DDR gab es ja eine durchinstitutionalisierte Poetenbewegung mit Zirkeln schreibender Arbeiter, Kreis-, Bezirks- und zentralen Poetenseminar; selbst in Moskau, wo ich fünf Jahre studierte, gab es unter den DDR-Studenten einen Poetenklub). Und egal, bei wem ich war, überall galt die Regel für Textkritik, es zählt der Text, nicht die verlautbartem Ambitionen des Schreiberlings. So halte ich es auch noch heute und wundere mich, wenn Leute lieber über Poetik(en) als über ihre Texte streiten wollen (da ist mir einfach zu viel ideologischer Überbau in der Diskussion).

Von Hugo Friedrich in „Die Struktur der modernen Lyrik“ (1. Auflage 1956) wurde doch längst das Wesentliche genannt, wodurch sich moderne Gedichte formal auszeichnen (sollten):

  • dissonante Spannung statt Harmonie

  • das lyrische Ich, das nicht Gemüt zeigt, sondern mit Text, Sprache operiert,
    was bis zu diktatorischen Phantasien führen kann

  • Einbettung von geläufigen Wortmaterial in ungewohnten Bedeutungszusam­menhängen

  • Sprachsuggestion

  • nicht Heilung, Belehrung oder sonstig geartete Verbesserung der Menschheit wird angestrebt, sondern das nuancierte Wort

  • eine ambivalente „Sicht der Dinge“

  • Einsatz von Mitteln der Groteske, Entromantisierung gegen das Abgleiten
    in Sentimentalitäten

  • Einblendungstechniken, „elliptische Satzführung“, „murmelnde Sprechweise“

  • usw.

Darüber hinaus glaube ich nicht, dass so etwas wie ein feststehendes Programm fürs Schreiben gibt. Gerade bei Gedichten muss man(n) sich doch wandeln. Ansonsten kommt spätestens nach 20 Gedichten das Gefühl auf, da kopiert einer sich selbst. Das heißt Anregungen finden. Z. B. liest man(n) dann T.S. Eliot oder Esoterikschmöker und probiert in Gedichte Mythologisch-Esoterisches Technik und Alltag entgegenzuschalten.

Wenn überhaupt, gibt es nur genaue Vorstellungen, was ich nicht machen will, Pathos, Gefühlskitsch, Germanistenlyrik. Doch mit jeder Zeile besteht die Gefahr, in so etwas hinein zu rutschen. Wie dagegen anrudern? Eine Möglichkeit z. B.: Die Zeile ins Komische kippen. Eine andere Möglichkeit: Dem lyrischen Ich, diesem von Pathos, Gefühlskitsch, Germanistenlyrik besonders gefährdeten Wesen, ein Du dazwischen reden (zu lassen). Eine weitere Möglichkeit: Es mit Pharmazie, Zoologie, Astrophysik oder irgendetwas anderem Sperrigen versuchen. Etc. (vgl. weiter oben genannte Stichpunkte zu Hugo Friedrich).

Ansonsten sollte ich mich beim Schreiben nicht ernster nehmen, als bei jeder anderen Lebensäußerung. Anbei, wie gewünscht, ein paar Textbeispiele. Wer lesen kann und will, wird sicherlich finden.