Der Mann, der sich die
Zeitung kaufte

von Herbert Braun

Der Mann, der sich die Zeitung kaufte, war nicht die Frau, die in dem Laden saß. Das Geld, dessen sich beide bedienten, tauschten sie sehr rasch aus. So, wie man aus- und einatmet. Die Zeitung, die der Mann, der sich die Zeitung kaufte, kaufte, war nicht irgendeine Zeitung, sondern die Zeitung von heute. Die Frau, die in dem Laden saß, war nicht viel kleiner als der Laden, in dem sie saß. Hätte man ihr Volumen bestimmt, hätte es vielleicht ein Zehntel des Volumens des Ladens betragen, der eigentlich ein Kiosk war, oder ein Neuntel.

Dabei war die Frau keineswegs dick. Oder groß. Aber der Laden, der eigentlich ein Kiosk war, war wirklich sehr klein, selbst für einen Kiosk.

Die übrigen neun Zehntel oder acht Neuntel des Ladens bestanden zu gleichen Teilen aus Zeitung und aus Luft, die die Frau, die in dem Laden saß, zum Atmen brauchte.

Die Frau, die in dem Laden saß, verstand nicht, wozu man Zeitungen brauchte. Den ganzen Tag saß die Frau, die in dem Laden saß, in dem Laden zwischen den Zeitungen und atmete.

Obwohl die Frau, die in dem Laden saß, noch nicht sehr alt war, saß sie nicht schon immer in dem Laden, der eigentlich ein Kiosk war. Sie saß auch nicht den ganzen Tag in dem bewußten Laden, den Kiosk zu nennen man sich ohne Scheu herausnehmen darf, und sie saß auch nicht jeden Tag. Aber sie saß schon so lange in dem Geschäft, daß sie nicht wußte, wie lange sie schon in dem Geschäft saß.

Nicht, daß der Mann, der sich die Zeitung kaufte, gerne die Frau, die in dem Laden saß, gewesen wäre, keineswegs. Nicht, daß deshalb der Mann besonders zufrieden gewesen wäre mit dem, was er war und was er nicht war. Aber er sah, daß die Frau, die in dem Laden saß, schon so blaß wie die Zeitungen aussah, wohingegen die Illustrierten, die in dem Laden, der eigentlich ein Kiosk war, ebenso wie die Zeitungen verkauft wurden, bunt waren, sehr bunt waren.

Wenn nämlich die Frau, die in dem Laden saß, aus dem Laden herausschaute, der so klein war, daß sie fast gezwungen war herauszuschauen, sah sie auf eine Betoninsel zwischen zwei Gleisen. Die Frau, die in dem Laden saß, sah, wenn sie aus dem Laden herausschaute, eine U-Bahn-Station. Denn in einer U-Bahn-Station stand der Laden, der eigentlich ein Kiosk war, in dem die Frau saß, die in dem Laden saß, der eigentlich ein Kiosk war.

Darum schaute die Frau nur selten aus dem Laden heraus.

Die Frau schaute aus dem Laden heraus, weil der Mann, der die Zeitung kaufte, eine Zeitung kaufte. Der Mann trug eine nasse Jacke, denn es regnete, mutmaßte die Frau, die mehr Zeitungen verkaufte, wenn Jacken naß wurden, anhand der nassen Jacke. Es war dies der Augenblick, wo die Frau, die eigentlich Zeitungen verkaufte, nicht verstand, wozu man Zeitungen brauchen sollte. Nicht, daß sie lange darüber nachgedacht hätte, obwohl es ihr an der dazu nötigen Zeit nicht fehlte, keineswegs, aber sie verstand es nicht. Trotz dieser Bedenken verkaufte sie dem Mann die Zeitung, wozu sonst wäre sie in dem Laden gesessen, der eigentlich ein Kiosk war?

Der Mann, der nicht die Frau war, die in dem Laden saß, warf die Zeitung, die von heute war, die er gekauft hatte, in einen Eimer und bestieg den gelben Zug. Die Frau atmete.


© Herbert Braun 2001 • Kommentare? -> Wortwart@Woerter.de