Vera erzählt

von Herbert Braun

Vera erzählt, daß sie fliegen gelernt hat. Hier unten war zwar nicht alles schlecht, aber die Dinge immer aus dem gleichen Winkel zu sehen, habe sie unendlich gelangweilt.

Es bringt sie fast um, jeden neuen Tag auf der Höhe des vorhergehenden zu leben. Sie verlangt das Unmögliche. Aber zurück kann sie nicht mehr. Zu oft mußte sie überleben, um nur ein Haarbreit preiszugeben. Selbst ihre Zimmerpflanze strengt sich für sie an und streckt die Blüten monatelang gegen das Fenster, bevor sie zusammenbricht.

Vera erzählt, daß die Zeit knapp ist; das Schlafen hat sie sich schon abgewöhnt, Schlafentzug mache glücklich. Vera erzählt nicht, was es ist, das ihr noch zu tun bleibt, jetzt, wo sie schon so vieles gesagt und versucht hat. Sie könnte sich Kinder anschaffen, oder ein Projekt, weggehen, Südamerika vielleicht, da ist es besser, und wenn nicht besser, dann wenigstens anders. Da muß noch etwas sein, da draußen, erzählt Vera, nicht mehr zu können heiße doch nur, nicht mehr zu wollen.

Noch sind nicht alle Träume gestillt. Gelegentlich macht Vera in Pietät, verlegt sich auf Erd- und Feuerbegattungen. Sie liebt es, die Schalen ihrer Muschel zwischen mächtigen Kiefern knirschen und splittern zu hören, und dann wünscht sie sich zu sterben, jetzt zu sterben, denn sie weiß auch schon, daß es gleich vorbei sein wird, daß es nicht wahr ist. Unter der Dusche, unter ihren Blicken wäscht das kalte Wasser die Kratzer ab, Seifenschaum schließt die entzündete Wunde. Wenn sie müde ist, bettelt sie danach, daß einer sie endlich zerbricht, ihr alles abnimmt, sie als blindes Tierchen frei schwimmen läßt. Doch wer könnte das für sie tun? Wie die Fliegen schüttelt sie die ab, die zu lange an ihrem Stahlmantel herumkratzen. Und was bliebe noch danach?

Die Menschen, die sie um sich hält, sind ihr angenehm, erzählt Vera. Vera erzählt, sie sei glücklich.


© Herbert Braun 2001 • Kommentare? -> Wortwart@Woerter.de