Ungarische Soirée oder: Sascha Andersons Hund

von Herbert Braun:

Text zum Anhören

«Hast du schon gehört? Usolya Kalász liest morgen im 'Sklavenmarkt'». «Ja, hab ich gelesen. Du gehst auch hin, oder?» Ernesto und Daniela, die sich über meinen Kopf weg unterhielten, schwelgten in entzücktem Augenleuchten über die begnadete ungarische Lyrikerin, die morgen auf den Prenzlauer Berg herabsteigen würde. Ich war inzwischen an dem Punkt angekommen, wo es mir überhaupt nichts mehr ausmachte, mit Namen wie Swetlana M. Lewtschow, Gunter-Fabian Hebelfuß oder eben Usolya Kalász nicht nur keinerlei emotionale Regungen zu verbinden, sondern ganz ungeniert nachzufragen: «Ursula wer?»

Als Antwort rieten mir meine Freunde, ich solle die Lesung der berühmten ungarischen Lyrikerin besuchen. Ich solle doch morgen in den «Sklavenmarkt» kommen, rieten mir meine Freunde.

Am nächsten Abend war ich um 21.00 Uhr im «Sklavenmarkt», auf den Verdacht hin, daß eine für neun angekündigte Veranstaltung tatsächlich um diese Zeit beginnen könnte. Ernesto und Daniela, zwei grundverschiedene Charaktere, standen sich wenigstens in ihrer notorischen Unpünktlichkeit nahe. Ich bestellte mir wacker ein Bier und wartete auf die Gepriesene.

Bald schon traten sie auf: die leibhaftige Usolya Kalász und János Térey, ein hochbegabter ungarischer Lyriker und Erzähler, wie ich dem Flugblatt entnahm, das mir am Eingang überreicht wurde. Die beiden nahmen auf der Bühne Platz. Frau Kalász, die von Kennern wie Ernesto schon mal vertraulich «Usolya» geheißen wurde, sah mit ihren tief in die Höhlen versenkten, kreisrunden Augen, die unter glattem braunen Haar vorsichtig auf eine kalte und gefährliche Welt hinausblickten, in der Tat wie eine ungarische Lyrikerin aus. Sie kündigte ihren hochbegabten Begleiter an, erwähnte seine drei aufsehenerregenden ungarischen Lyrikbände und seinen vielbesprochenen ungarischen Prosaband. Aus beidem sollten heute Kostproben vorgestellt werden, und um eine Vorstellung von der Sprachmelodik des Ungarischen zu vermitteln, sollten die sensiblen Poeme vor der Übersetzung erst einmal im Original verlesen werden.

Ein leiser Schauder eisiger Stille wehte durch den Raum. Beherzt griff ich zum Bier.

«Raböllöböm galámaszi, székolako raböllöböm», sagte der begabte ungarische Lyriker. Ich ließ mich im weichen Rauschen des magyarischen Nuschelns treiben und lauschte teilnahmsvoll, als seine Stimme den dramatischen Stellen der meist mehrere Seiten langen Gedichte Akzent verlieh, wie sie schließlich ergriffen von Sprachschönheit ausklang, woraufhin die berühmte Lyrikerin tonlos ihre Übersetzung aufsagte. Vorne, am Kennertisch, senkten sich die Häupter. Der Kennertisch bestand aus Literaten, die unzweifelhaft als solche identifizierbar waren: der Anzug tragende ältere Herr, der sich gelegentlich Notizen machte, der junge Dichter mit Sakko und Lederhose, das Kinn dandyhaft vorgereckt, ein Herr mit großer Fliege und noch größerer Brille, eine Frau mit teurer Frisur und teurem Kleid, ein gutgekleideter Mann mit kurzem Haar und winziger Brille, und noch ein paar andere. In der Mitte des großen Tisches, der gleich neben der Bühne stand und irgendwie zu ihr zu gehören schien, brannte eine Kerze, die der Veranstaltung den Anstrich des Heiligen Abendmahls verlieh – um so mehr, als sich jedesmal ehrfürchtig alle Köpfe senkten, wenn ein neues Gedicht anhob. Vor mir saß ein Buddha mit dickem Kopf, der mir den Rauch seiner Gauloises nach hinten zublies. Nebenan teilte sich ein Paar einen Barhocker.

«Lengési mászal alömön ferek dúlbar», so klang ein weiteres Gedicht aus. Hingerissen von dem warmen und doch drängenden Charakter dieser lautreichen Sprache wartete ich auf den letzten Satz der Übersetzung, welcher da lautete: «Die Visitenkarte des unpopulären Elektrikers wanderte auf den Müll.» Wieder verstummte die Übersetzung, deren unmodulierter, betonungsloser Vortrag die endlosen Weiten östlichen Ödlandes beschwor. Am Kennertisch sanken die Kenner noch tiefer in Aufmerksamkeit zusammen, einer rieb sich die Augen. Ein Liebespaar, das dort auch saß – sicher ohne dazuzugehören –, rutschte allmählich ineinander wie ein Kartenhaus. Im Parkett kicherten zwei Studentinnen wie verrückt, bis die eine umfiel und die andere ihr tröstend den Kopf kraulte. Ein großer gelber Hund spazierte durch das Lokal, russische Melancholie in den Augen, verfolgt von den strengen Blicken des wenig behaarten, gutgekleideten Herrn. Irgendeine Maschine hinter der Theke begann zu Brummen, hörte wieder auf und begann wieder.

Der begabte ungarische Lyriker las nun wieder. Leider kam er mit seinem Manuskript ein bißchen zu nah an die Kerze, die auch den kleinen Tisch der Vortragenden zierte. Jedenfalls fing das Papier Feuer und brannte wie scharfer Paprika. Auf definitiv ungesunde Weise nährte sich das schrille Lachen im Publikum von Verzweiflung. Der Brand und der Aufruhr wurden mit Versen erstickt. Das Telefon begann zu klingeln. Der Strenge äugte über seine winzige Brille hinüber zur Theke, wo jemand sagte: «Ja. Ja … nein. Nein, wirklich nicht. Ja. Ok.»

Das Prosastück, das eigentlich ein Ausschnitt aus dem Kapitel des Prosabändchens war, handelte von einem Tierarzt, der seinen Neffen, den Ich-Erzähler, haßt, der Medizin studiert, sich in dunklen Bibliotheken einschließen läßt, in Bahnhöfen ankommt, jüdische Geschichte studiert, zur Schule geht, Hämatologie praktiziert und einen Vater hat, der aber meistens tot ist. Der Hund geht in grundlos tiefer Trauer durch den Raum, ein Herr am Kennertisch blickt sich um. Das Telefon klingelt. «Was? Nein, nicht jetzt … Gut. Ja. Bis dann.» Hinter der Theke brummt eine Maschine. Ich halte mein Bier fest in der Hand und überlege, was passiert, wenn ich es loslasse, wenn ich es dem dicken Buddha über den Kopf und in den Kragen schütte. Die Frau des einen Liebespaares droht vom Barhocker zu sinken, während das andere auf den Stühlen liegt. Der große Hund schleicht stumpf durch den Raum, sentimental den Schwanz wedelnd.

Die große Lyrikerin verstummt. Unvermittelt ist der programmatische Teil des Abends vorüber. Köpfe heben sich, Augen blinzeln, die heruntergerutschte Frau versucht, den Barhocker wieder zu besteigen. Applaus. Der Buddha sitzt immer noch reglos da, er ist wahrscheinlich gestorben.

Jemand tippt mich an die Schulter. «Ist's schon vorbei? Sind wir zu spät?» Ernesto erklärte, daß er «überraschend» und «dringend» wohin mußte, unaufschiebbare Angelegenheiten, er bedaure aufs äußerste, Usolya nicht lesen gehört zu haben. Betäubt taumeln zwei Frauen aus der Tür. Hinten lacht jemand grundlos. Die große Lyrikerin begibt sich an den Kennertisch, der begabte Lyriker ist verschwunden. «Schon vorbei?», fragt mich Daniela, in deren Mantel noch die herbstliche Kälte hängt. Der große Hund legt sich vor meine Füße.


© Herbert Braun 2001 • Kommentare? -> Wortwart@Woerter.de