Magdeburg

Herbert Braun:

Als ich in Magdeburg ankam, standen die Leute vor den Bahnhofstüren und starrten in den Himmel. Ein Hochseilartist, aber ohne Seil, machte dort oben, wie Bungee-Jumping, aber ohne Leine, die Leute klatschten. Ich überquerte den Bahnhofsplatz, ein heiserer Lautsprecher rief mir nach:

«Jaa, das war unser FLITZO, die legendäre Luftnummer, ein Applaus für FLITZO, den atemberaubenden Artisten! FLITZO holt jetzt seine Trompete heraus, Sie können es vielleicht erkennen von hier unten, ein Höhepunkt seines Programmes, wie oft haben wir schon versucht, ihm diese unglaubliche und halsbrecherische Nummer auszureden, aber einer wie FLITZO sucht die Gefahr, fordert das Angesicht des Todes hervor. Ja, Sie sehen es, sehen Sie, wie er ansetzt zum Spielen, jetzt setzt er an zum Spielen, ich frage mich immer wieder, immer wieder frage ich mich, ich kann es einfach nicht verstehen: Woher, das frage ich mich, woher nimmt dieser Mann noch die Kraft, da oben, auf einem 31 Meter hohen Turm, 147 Meter über Normalnull, auf einem waschlappengroßen, was sag ich, topflappengroßen Plateau zu stehen, über schwindelndem Abgrund, und die Trompete zu spielen! Ja, jetzt setzt er an, jetzt spielt er uns sein Lied, FLITZO spielt für uns in Magdeburg …“

In der Magdeburger Luft breiteten sich hohe Trompetentöne wie ein Topfdeckel zur erhabenen Melodie von «La Montanara» aus und folgten mir um die Ecke in die Magdeburger Innenstadt nach. Die meisten Autos hatten das gleiche Kennzeichen in Magdeburg, und Menschen gingen auf Bürgersteigen und Trottoirs. Einem Magdeburger Würstchenhändler handelte ich zwei Würstchen ab und verfolgte kauend, ein senfbeschmiertes Gäbelchen zwischen den Fingern, das fröhliche Treiben an einem Kinderkarussell, wo die jungen Fahrgäste mit Evergreens der Volksmusik unterhalten wurden. Ein junges Mädchen sprach mich an, aber nur, um mir einen bunten Zettel in die Hand zu drücken. Ich ging also weiter in die Magdeburger Innenstadt, die senfgelbe Serviette nonchalant in einen Mülleimer werfend, und ließ mir von einem Magdeburger Suppenverkäufer einen Teller Suppe verkaufen, übrigens mit Brötchen und Serviette. Gegenüber hatten eifrige Magdeburger eine kleine Bühne aufgebaut, auf der eine Frau stand, mit Mikrofon in der Hand, mit dem sie redete: «Wir spielen jetzt ein ganz besonderes Lied, es ist nämlich ein Lieblingslied von Jochen, und das spielen wir jetzt.» Ganz in Weiß war die Frau, über und über, mit einem weißen Kuschelfransenpulli, einer knackengen weißen Hose und kniehohen schwarzen Stiefeln. Jochen rockte los und griff aus den Tasten die Akkorde von «Über sieben Brücken mußt du gehn» heraus. Die Frau wackelte in Magdeburg. Als ich, es war nämlich ein Plastikteller, die rote Serviette durch die Plastikkappe des Mülleimers dem Teller hinterherschob, sprach mich ein junges Mädchen an. Vielleicht würde mich das interessieren, bedeutete sie mir und preßte mir ein buntes Blatt Papier gegen die Brust.

Ich hatte ja noch etwas Zeit vor der Weiterfahrt, um Magdeburg zu besichtigen, und ging in eine Bäckerei, wo ich mir ein belegtes Baguette kaufte. Die Tomate tropfte gerade über das Magdeburger Salatblatt hinunter, als sich Blümchen aus dem Radio freute. Ich ging nach draußen, wo mir ein als Pinguin verkleidetes junges Mädchen ein buntes Blatt Papier anbot. Ich wollte sie fragen, was sie dazu gebracht hätte, sich mitten im November hinzustellen, mitten in Magdeburg, und fremde Männer anzusprechen, und Frauen auch, und was sie eigentlich wollte, mit dem schreiend farbigen, gefalteten, in großen Lettern vollgedruckten Zettel, den sie mir unter die Nase hielt, so daß die gequetschte Tomate darauftropfte, oder ob es ihr etwas bedeute, wirklich bedeute, diese Zettel zu verteilen, ob es sie glücklich machte, und wie man einen Menschen dazu bringen könnte, sich als Pinguin zu verkleiden, mitten im November, mitten in Magdeburg, und was sie unter ihrem Pinguinkostüm trage. Aber ich mußte zum Bahnhof.

Es war nicht leicht, zum Magdeburger Bahnhofsplatz durchzukommen, weil der Platz jetzt vollstand mit weißen Rettungsfahrzeugen: hier ein weißes Notarztauto, hier ein weißer Krankenwagen, dort ein geräumiger Leichentransporter. Polizisten riegelten den Platz ab und diskutierten mit Augenzeugen und Schaulustigen, die vor den Bahnhofstüren auf den Boden starrten. Beinahe hätte ich in dem Gedränge meinen Zug verpaßt.

Die Geschichte kam dann groß in die Magdeburger Zeitungen.


© Herbert Braun 2001 • Kommentare? -> Wortwart@Woerter.de