Die Geschichte vom Kaufmann

von Herbert Braun

Was ich zu erzählen habe, hat sich vor sehr langer Zeit ereignet. So viele Jahre lang trage ich die Erinnerung an diesen schwülen Spätsommertag im Grünen Moor mit mir herum, daß ich mich manchmal frage, was davon wirklich erlebt ist und was mein Kopf nach und nach dazuerfunden hat.
Anders als meine drei Brüder und meine beiden Schwestern – nun gut, Therese ausgenommen – war ich als Junge ein rechter Tunichtgut und Taugenichts. Statt meinem Vater zu helfen, das Feld zu bestellen, die Kuh zu melken, die mager in ihrem schiefen Stall dahindämmerte, statt Geschick zu zeigen beim Bauen und Instandsetzen (ich spreche von meinem Bruder Reinhold), lungerte ich träumend in einer Ecke des Hofs oder im Stall auf dem Stroh, bis mich Vaters Rohrstock zurückzauberte aus dem Königreich der unberührten Jungfrauen und dem Palast der gebratenen Würste.
Noch lieber als zuhause saß ich jedoch in unserem alten Nachen. Eine sonst in meiner Jugend ungekannte Beharrlichkeit – die in meinen späteren Jahren so wunderbare Früchte tragen sollte, wie ihr wißt – trieb mich dazu, das Boot so oft von Vater zu leihen, bis es schließlich jeder für mein Eigentum hielt. Freilich war der alte Nachen für ihn auch kaum von Nutzen, da der Grüne See, so weitläufig er auch sein mochte, überall in undurchdringlichem Schilf verschlammte und schwerlich einmal ein Wels oder eine Bracke aus dem trüben Wasser auftauchte; und schließlich nahm Vater mit zufriedenem Staunen zur Kenntnis, wie ich (nicht ohne Reinholds Hilfe) dem lecken Kahn ein paar neue Planken an den Rumpf nagelte und die Ruder erneuerte, weil seine sonntäglichen Doppelkopfrunden bei den Hasbauers, den einzigen Nachbarn weit und breit am See, fortan ohne Lebensgefahr möglich waren.
Mit 15 oder 16 Jahren kannte ich den Grünen See wie kein anderer. Ich wußte die Stellen, wo gelegentlich ein fetter Fisch verblüfft aus dem Schlick und dem Morast an die Luft gezogen werden konnte, was mir zuhause stets anerkennende Worte und ein paar Leckerbissen einbrachte, deren ich beider allzuoft entbehrte. Das Fischen war nach meinem Geschmack, und meistens klemmte die Angelgerte wie ein Mast zwischen der Sitzbank, während mich das Boot sacht in die süßesten Träume schaukelte. Ich kannte die Wege zu den Nebenseen durch das Schilf, die schmalen Buchten, bei denen man an Land gehen konnte, ich kannte die verwunschenen Weiden, die tückischen Moore, über denen bei Dämmerung manchmal die Irrlichter funkelten, und die Wiesen, auf denen sich die Feen und die Geister trafen. Mutter hatte mir viel davon erzählt, und nach allem, was ich dort im Zwielicht von meinem Nachen aus gesehen hatte, verspürte ich kein Verlangen, mich dort nachts herumzutreiben.
An diesem Spätsommertag, von dem ich gesprochen habe, war ich wieder einmal weit hinausgefahren. Ich hatte den ganzen Nachmittag vor mich hin sinniert, die Bremsen totgeschlagen und vergebens gewartet, daß ein Fisch anbeißt – und wenn einer angebissen hat, wer weiß, ob ich's gemerkt habe. Jedenfalls neigte sich die Sonne dem Horizont zu, mein Magen knurrte, ich rappelte mich auf, die Ruder ins Wasser zu stecken – und dann gurgelte es kurz, und ich hielt nur noch eines in der Hand. Eingelullt vom langen Dösen in der Sonne war mir ein Ruder einfach aus der Hand gerutscht. Verzweifelt versuchte ich, es noch zu fassen zu kriegen, und wäre um ein Haar selbst in den See gefallen. Mit dem verbleibenden Ruder machte ich abwechselnd ein paar Züge links und ein paar rechts, und schwerfällig pflügte sich der Nachen durch das dicke, stehende Wasser.
Ohne es recht zu merken, kam ich näher ans Ufer. Klein und blutigrot sank die Sonne ins Moor, und das Leuchtfeuer eines Irrlichts flackerte und tanzte über dem Brackwasser. Eintönig, beschwörend quakten die Frösche, und aus dem Schilf antworteten die Rohrdommeln mit ihrem dumpfen Ruf. Dann verstummte alles, wie auf eine Weisung hin, um einen Augenblick später wieder von vorn zu beginnen. Sehr weit hinten schnatterten unbekannte Vögel, als ich den Abendstern aufleuchten sah. Heftig schaufelte ich mit dem Ruder durch das Wasser, von dem ich nie wußte, wie tief es wirklich war, ein vertrautes Geräusch, um all die anderen zu übertönen. Die Zweige einer ausladenden Trauerweide hüllten mich in einen grünen Schleier, kitzelten mich spinnwebgleich hinter den Ohren. Ein zweites, ein drittes Irrlicht ging auf über der Moorwiese.
Sie zu sehen war ein Blitzschlag. Sie war aus dem Nichts aufgetaucht, unter der Weide. Noch nie hatte ich bei meinen Ausflügen jemand anderen getroffen als die Hasbauer-Söhne am anderen Ufer. Außer dem, was ihr die Natur mitgegeben hatte, trug sie nichts. Niemals hatte ich mehr von einer Frau gesehen, als was meine Schwester Adelheid (Theresia war ja noch ein Kind) im Badezuber zeigte, durch ein Astloch von draußen gesehen. Und bei Gott, sie war die schönste Frau, die mir je begegnet ist, bis zum heutigen Tage. Ein bißchen mager vielleicht obenrum … aber nein, sie war vollkommen. Breitbeinig stand sie da, direkt am Ufer, die Hände keck hinter dem Rücken verschränkt. Vogelartig neigte sie den Kopf zur Seite, ein Lächeln, mit dem sie mich einlud, zu sich forderte, spöttisch, in der Gewißheit, ich würde mich ja doch nicht trauen … Ich junger Esel wagte kaum, sie anzuschauen, kaum noch erinnere ich mich an die spitzen Brüste, das breite Becken, den langen, weißen Hals. Nicht einmal die Augen sehe ich vor mir, so große, grüne Augen, irgendwie bewegt, fließend … es war alles zu viel für mich. Und während ich reglos und stocksteif dahocke in meinem Kahn, wird ihr Lächeln breiter und breiter, ein warmes Gurgeln hebt und senkt ihre Brustspitzen, und sie lacht, sie lacht, sie schlägt Kapriolen, überschwenglich, hell und fröhlich, und alles lacht mit, die Frösche, die Vögel, die kleinen Wellen, die gegen das Ufer schwappen, und in meinem Kopf läuten die Glocken … und läuft weg.
Bevor ich nachdenken kann, springe ich aus dem Kahn, wate ans Ufer und rase ihr hinterher. Mehr als ich sie sehe in der stickigen Nachtluft, höre ich die Arabesken ihres Gelächters, dicht vor mir. Doch so sehr ich auch rennen mag, sie hüpft über die hohen Feuchtgräser mühelos dahin, springt in die eine Richtung und landet in der anderen, schlägt Haken und fliegt lachend und lachend dahin. Und während ich mit jedem Schritt tiefer einsinke, der sumpfige Boden schmatzend an meinen Sohlen klebt, flattert sie nur noch als flackernde Silhouette vor dem schwarzgrünen Horizont, die der Nebel verwischt.
Und dann packt mich etwas am Fuß. Der feuchte Matsch sinkt ab ins Bodenlose, hält mich umklammert. Nicht einmal abstützen konnt ich mich mehr. Ich fiel einfach längelang in das verschlammte Wasserloch. Es klang, als wäre jemand auf eine Kröte getreten, gurgelnd und widerwillig, fast wie ein Furz. Um mich herum gab alles nach. Das faulige Wasser brannte in den Augen, ätzte die Nase. Zwischen den knirschenden Zähnen schmeckte ich Schwefel und Verwesung. Ich ruderte mit den Armen, hatte jeden Halt verloren; wo ich auch hinfaßte, wich alles zurück, griff ich hinein und hindurch. Der Matsch verschloß mir Mund, Nase, Ohren, Augen. Nie in meinem Leben, nicht einmal während des großen Börsenkrachs vor 23 Jahren, habe ich solche Ängste ausgestanden. Ein paar Augenblicke lang war ich mir sicher, daß es vorbei sein würde mit meinem jungen Leben, aus und vorbei.
Nun gut, was soll ich weiter sagen – ich bekam ein Grasbüschel zu fassen, zog daran, und es hielt. Ich sank erst mal nicht tiefer, wischte mir den Dreck vom Gesicht, spuckte. Bis ich mich schließlich ganz aus dem Schlamassel herausgekämpft hatte, war es noch eine Heidenarbeit, und meine schönen Stiefel gingen dabei drauf. Aber wenn ich's nicht geschafft hätte, säße ich ja nicht hier. Meine Fee war natürlich über alle Berge. Es dunkelte mächtig, und die Vögel klapperten mit den Schnäbeln, daß einem ganz zweierlei wurde. Vorsichtig, ganz vorsichtig hab ich mich zum See vorgetastet. In dem grundigen Wasser lag das Boot fest wie vertäut. Ich ruderte heim, durchnäßt, verdreckt, erschöpft und von den Spottliedern der Sumpfdrosseln verfolgt. Ich kam an, holte mir meine Tracht Prügel ab und wurde über die Jahre ein reicher Mann.
In die Sümpfe bin ich nicht mehr gegangen.


© Herbert Braun 2001 • Kommentare? -> Wortwart@Woerter.de