Goethe fleddern
Tragödie
über den humanitären Einsatz
in der Fürstengruft
in einem Acte.

von Herbert Braun

Das Unzulängliche
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche
Hier ist's getan

(Faust II, 5. Akt)

Weimar, eine Fürstengruft im November 1970. Regnerische Nacht, der Wind fängt sich in den Mauerritzen des geräumigen, düsteren Kellergewölbes, das bis auf die beiden Särge von Goethe und Schiller leer ist. Über eine nach oben führende Treppe betreten die beiden Ärzte Dr. Petzoldt und Dr. Schrell sowie der Kulturfunktionär Knopp die Bühne. Unter dem Reden legen die drei ihre regennassen Mäntel ab. Petzoldt und Schrell tragen weiße Arztkittel darunter. Schrell führt eine geräumige Tasche, Petzoldt eine kleinere mit sich.
K:So achten Sie doch ein bißchen auf den Fußboden, meine Herren.
P:Heilige Einfalt! Haben Sie denn niemanden, der hier den Boden wischt?
K:Wenn ich den Lembke, den alten Friedhofswart, in die Sache einweihe, kann ich's auch gleich in die Zeitung setzen.
S:Es ist immer das gleiche. Immer ist es das gleiche.
P:Hier vollzieht sich die Geschichte in historischen Dimensionen und Sie denken an Ihren Fußboden!
K:Ich bitte Sie doch nur, sich die Füße abzutreten. Wenn hier morgen überall unsere schlammigen Fußspuren zu sehen sind, was glauben Sie, was glauben Sie, was das für einen Skandal gibt. Die Westpresse …
P:Wo gehobelt wird, da fallen Späne, werter Genosse Bezirkskulturbeauftragter. Und hier wird gleich gehobelt, das verspreche ich Ihnen.
S:Man kann das ja wieder wegmachen. Wir kriegen das schon irgendwie hin.
P:Ich finde es einfach beschämend – das möchte ich noch einmal wiederholen –, unter welchen Arbeitsbedingungen Dr. Schrell und ich diesen Eingriff vornehmen müssen. Bei Nacht und Wind hier einzudringen wie Kriminelle …
Es donnert.
K:Horch!
S:Ein Gewitter.
K:Im November! Das ist doch ungewöhnlich, ganz und gar ungewöhnlich. Ich hoffe, wir bringen diese Aktion rasch zu Ende.
S:Da machen Sie sich mal keine Sorgen, wir sind ja Experten.
K:Bitte beginnen Sie.
P:Augenblick. Lassen Sie uns diesen Augenblick mit Würde begehen.
K:Aber Herr Petzoldt …
P:Doktor Petzoldt.
K:Herr Oberarzt Doktor Petzoldt, ich wünsche, daß diese Angelegenheit so schnell wie möglich ihr Ende findet.
P:Ich habe eigens für diesen Anlaß eine kleine Ansprache vorbereitet. Herr Bezirkskulturbeauftragter Knopp, würden Sie bitte ein Foto machen? Hält ihm seine Fototasche entgegen.
K:Das kommt überhaupt nicht in Frage.
P:Lieber Genosse Bezirkskulturbeauftragter! Mögen auch die äußeren Bedingungen gegen uns sprechen, so sollten wir doch nie unseren Anstand, unsere Sitte und unsere Kultur vergessen.
S:So tun Sie ihm doch den Gefallen.
K:Also bitte. Meinetwegen. Nimmt die Tasche. Aber fassen Sie sich kurz.
P:Sagen Sie mir, wenn ich lächeln muß. Und achten Sie auf die Belichtung! Die Weltöffentlichkeit wartet auf diese Fotografie. Wirft sich in Pose, liest: «Mens sana …»
K:Moment! Ich möchte auch aufs Bild.
P:Hier ist kein Platz für Eitelkeiten.
K:Doktor Petzoldt! Ich handle nicht in persönlichem Interesse, sondern als Funktionär und Repräsentant des Landes, unter dessen Boden Sie jetzt stehen. Schrell, übernehmen Sie. Schrell nimmt die Tasche, Knopp posiert neben Petzoldt.
P:Liest feierlich «Mens sana in corpore sano, so lautet eine alte römische Maxime. Und so, wie dieses Land nach der Tragödie des Faschismus im Geiste Goethes wiederauferstanden und erblüht ist, so obliegt es nun mir, mit Hilfe meines erfahrenen Kollegen die sterblichen Reste des unsterblichen Olympiers für eine bessere Zukunft im Geiste des dialektischen Materialismus zu präparieren. In diesem Augenblick, meine Damen und Herren, in dieser ehrwürdigen Gruft, sind die Augen der internationalen Weltöffentlichkeit auf uns gerichtet, stehen wir im Brennpunkt des humanistischen Fortschritts. Möge der Geist Goethes auf uns ruhen! Denn – und damit möchte ich meine Ansprache schließen – 'Denn alles Irdische, es ist nur ein Gleichnis.'» Danke.
Knopp klatscht, Petzoldt verbeugt sich, beide lächeln in die Kamera. Fotos, Blitzlicht. Petzoldt und Knopp reichen sich die Hände, ohne sich anzusehen, drängeln aneinander vorbei nach vorne.
So. Und nun frisch ans Werk. Dr. Schrell – das Stemmeisen, bitte.
Schrell reicht es, beide stemmen den Deckel auf.
P:ächzend So öffnet sich nun … die Pforte … aus Eiche … Stahl …
S:Fassen Sie weiter hinten zu.
K:Nun machen Sie doch! In acht Stunden darf hier nichts mehr zu sehen sein!
Deckel öffnet sich. Staubwolken, Schrell und Petzoldt husten.
Mein Gott! Goethe! Was haben Sie getan!
S:hustend Die Verwesung ist doch schon weit fortgeschritten.
P:hustend Der Staub des Dichterfürsten! Atmen Sie tief ein, Schrell! Tut es vernehmlich.
K:Wer soll das nur alles saubermachen?
P:Fühlen Sie das, Schrell? Diesen, diesen … Geist? Stöhnt genußvoll. Spüren Sie, wie die Dinge so klar werden?
S:Der Staub lichtet sich. Sehen Sie, da liegt er, der alte Herr.
Eine der seltenen Fotogra-
fien des Bestsellerautors, der sich aus der Öffentlichkeit weitest-
gehend zurückgezogen hat.
K:Zeigen Sie! Drängt sich an Schrell vorbei.
P:ergriffen, kämpft mit den Tränen Daß ich das noch erleben darf!
S:Nicht mehr viel an den Rippen nach den hundert Jahren.
K:Hundertachtunddreißig. Schon ein bißchen gespenstisch, so eine lange Zeit.
P:Johann Wolfgang von Goethe … Johann Wolfgang …
S:Das wird ein schönes Stück Arbeit. Das Hemd ist hin, das Fleisch völlig verfault, sogar der Lorbeerkranz ist angefressen.
K:Sehen Sie doch, wie er daliegt!
S:Wenn da noch was zu retten sein soll, müssen wir mazerieren.
P:Dieses kostbare Fleisch verbrennen? Sind Sie noch bei Trost?
S:Wenn Sie es denn aufbewahren möchten … aber runter von den Knochen muß es.
K:Hier sollte, man sollte hier eine Glasdeckel einsetzen, ein gläsernen Sarg! Wie das den Tourismus ankurbeln würde! Der ganze Bezirk würde aufblühen! Der Parteisekretär würde mich ins Ministerium berufen!
P:Und dem Pöbel diese gewaltigste aller deutschen Leichen, diese Reliquie des menschlichen Fortschritts zum Fraße vorwerfen? O nein.
K:Pöbel? Dr. Petzoldt! Achten Sie auf Ihre Worte! Ein jeder Arbeiter, ein jeder Bauer soll sich hier zu neuen Taten anspornen lassen. So wie Lenin noch aus dem Grab heraus die Geschicke des Sozialismus lenkt, so soll in dieser Gruft die deutsche Dichtung ihren Mittelpunkt finden, umgeben von einem stetigen, staunenden Strom der Werktätigen.
P:Niemals! Einem ausgewählten Publikum, den Dichtern, Gelehrten, Politikern, Ärzten, ja, den hervorragenden Stützen dieser Gesellschaft, die diese Ehre zu würdigen wissen – diesen sollte man ermöglichen, sich von der Seele der Deutschen Klassik berauschen zu lassen.
K:Ich gebe zu, der Gedanke ist nicht reizlos. Eine Stunde allein mit Goethe am gläsernen Sarg für, sagen wir, 500 Westmark. All die unglücklichen Dichter und Schriftsteller, all die Unfähigen und Gescheiterten würden kommen, um hier in stiller Andacht den Musenkuß zu empfangen … aber nun kommen Sie, kommen Sie und fangen Sie endlich an!
S:Sonst sind wir morgen früh noch am Mazerieren. Streift schnalzend Gummihandschuhe über.
P:Nun denn! Ans Werk!
Streift schnalzend Gummihandschuhe über. Greift am Kopfende in den Sarg hinein, Schrell am Fußende. Beide heben einen stark skelettierten Leichnam heraus, an dem noch verdorrte, braune Haut hängt. Das Skelett ist bekleidet mit einem weißen Leichenhemd und trägt einen Lorbeerkranz auf dem Schädel. Während Knopp respektvoll zurückweicht, tragen die Ärzte den Leichnam zu Schillers Grab hinüber, das im weiteren als Arbeitstisch dient. Kurz vor dem Absetzen läßt Petzoldt den Leichnam los, die Knochen fallen in alle Richtungen.
O nein!
K:Petzoldt!
S:hält Goethes Beine noch in der Hand Petzoldt! Sie Tolpatsch!
K:Was haben Sie getan! Allmächtiger!
P:mit schreckgeweiteten Augen
Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen,
Lagert euch umher, mich zu bewahren!
K:Sie bringen mich nach Sibirien.
S:So eine Sauerei! Kollege, Sie halten doch nicht zum ersten Mal eine Leiche im Arm?
P:Ich hielt ihn fest … hielt Goethe fest an seinen Schultern … er war ganz leicht, und doch war es, als ob … diese Last auf mir … Und dann gab etwas nach. In mir, an ihm, etwas kam ins Rutschen … und …
K:Alles aus und vorbei. Allmächtiger. Nie wieder werd' ich meine Familie sehen! Nur weil mich Dr. Schnabel, der Parteisekretär, zu dieser Geschichte überredet hat!
P:Was hab ich getan, was hab ich nur angerichtet!
S:Wir dürfen jetzt nur nicht in Panik verfallen, das ist alles. Bei Schiller gab's auch Pannen, glauben Sie mir. Also. Schaufel, Besen und Putzlappen haben wir mit. Den Kleinkram werden wir schon wegkriegen.
K:Und was ist mit all den Knochen?
S:Gebrochen ist ja nichts, das flicken wir schon wieder zusammen. Der Torso ist größtenteils ja noch ganz heil. Beginnt, auf dem Boden kniend die Knochen einzusammeln und auf Schillers Sarg zu legen.
P:Aber all das kostbare Gewebe, das einmal der größte aller Dichter war? Zerrüttet und beschädigt ist es.
S:Da muß man sowieso mazerieren. Das Zeug ist so trocken, das geht leicht ab. Gibt's hier Wasser, hat jemand einen Eimer mit?
K:Oben bei der Friedhofsgärtnerei.
S:Sehen Sie. Jetzt wenn wir noch irgend etwas Scharfes, Ätzendes finden … Essig vielleicht, oder …
K:Wie ist es mit Waschmittel?
S:Waschmittel?
P:Waschmittel?
K:Ich hab heute vom Einkaufen noch fünf Kartons Imi im Kofferraum.
S:Wunderbar! Damit werden Goethes Knochen so strahlend weiß, weißer geht's nicht.
P:Aber …
S:Kein Aber, werter Kollege, Sie werden's sehen.
P:So ist es also das Schicksal des Dichters von «Hermann und Dorothea» und des «Torquato Tasso», daß seine Gebeine wie Schmutzwäsche behandelt werden. Was für ein Trauerspiel, das auf dieses kahle, bekränzte Haupt zukommt. Greift nach dem Lorbeerkranz.
K:Vorsicht!
S:Der Kranz ist auch hinüber.
P:Ich … Es donnert.
K:Jetzt haben Sie auch noch Goethes Lorbeer zerbröselt, Sie Unglückswurm! Wie soll ich das bittesehr dem Parteisekretär erklären? Dr. Schnabel wird mir eigenhändig das Fleisch von den Knochen schälen!
S:Nun schelten Sie mir den armen Kollegen nicht zu sehr, das kann dem besten Arzt mal passieren. Und so ein Lorbeerkranz ist ja kein Beinbruch.
P:Ich werde dem Dichter eigenhändig einen neuen Kranz flechten. Als Zeichen seines noch immer wachsenden Ruhms.
K:Wo wollen Sie denn hier Lorbeer finden?
P:Ich werde keine Kosten und Mittel scheuen.
K:Morgen früh muß hier stubenrein sein! Und jetzt ist bald ein Uhr, und ich stehe hier zwischen den Trümmern Goethes und seines Lorbeers! Dabei haben Sie noch nicht einmal mit der Arbeit angefangen!
S:Es muß ja kein Lorbeer sein. Hier auf dem Friedhof wird doch so etwas Ähnliches zu finden sein.
K:Was denn? Was ist so ähnlich wie Lorbeer?
S:Was weiß ich – Wacholder oder Basilikum, irgendetwas. Es geht doch nur um die Symbolik, ich meine, es wird bald Weihnachten, und ein Adventskranz …
P:Das ist Blasphemie!
S:Es geht doch nur darum, wie's gemeint ist, und es kommt sicher von Herzen.
K:Tun Sie, was Sie wollen, aber tun Sie es schnell und sauber. Ich will diese Affäre zu einem versöhnlichen Ende bringen.
S:Gut, mein lieber Knopp, dann schlage ich vor, daß Sie jetzt das Imi und einen Kranz holen.
K:Bedaure, aber das kommt nicht in Frage. Als Bezirkskulturbeauftragter bin ich der politisch Verantwortliche für diesen Vorgang. Mich mitten in der Nacht auf dem verregneten Friedhof herumzutreiben, käme einem Verrat meiner staatsmännischen Pflichten gleich.
P:Ich werde in der Zwischenzeit die Konservierungsmaßnahmen einleiten.
K:Hier haben Sie meinen Autoschlüssel.
S:Na schön, einer muß es ja tun. Immer wieder das gleiche. Zieht den Mantel an und verschwindet nach oben.
K:Beeilen Sie sich!
Stille. Knopp sitzt nervös auf dem offenen Sarg Goethes und trommelt mit den Fingern. Petzoldt mustert die auf Schillers Sarkophag ausgebreiteten Knochen, betastet hier, rückt dort zurecht, gibt Anzeichen zunehmender Erregung zu erkennen.
Sie machen mich nervös.
P:Blickt verwirrt auf Sehen Sie das? Das sind die Ossa coxae.
K:Die was?
P:Seine Beckenknochen. Wunderbar ausgebildet, kräftig geformt.
K:Besieht es sich kurz aus der Entfernung Das ist ja widerlich! Da hängt ja noch was weiß ich dran.
P:Ich muß das unbedingt dokumentieren für die Nachwelt. Es werden die letzten Aufnahmen von Goethes Weichteilen sein. Zückt den Fotoapparat, es blitzt. Knopp sieht weg.
K:Nie werde ich verstehen, wie ein gebildeter Mensch sich darum reißen kann, ein Grab aufzubrechen. Aber was soll ich machen. Der Dr. Schnabel sagt zu mir, Knopp, nehmen Sie sich zwei Spezialisten und machen Sie den Goethe mal ein bißchen sauber, daß man den auch mal herzeigen kann, wozu haben wir ihn denn schließlich, und der Bezirkskulturbeauftragte Knopp tut, was ihm der Parteisekretär Dr. Schnabel sagt. Und wenn der Bezirkskulturbeauftragte Knopp morgens um acht von einer amerikanischen Reisegruppe zwischen den zertrümmerten Knochen Goethes in der Weimarer Fürstengruft überrascht wird, dann wird der Parteisekretär Dr. Schnabel seinen kleinen Knopp in Bautzen vermodern lassen, bis er selber aussieht wie der alte Goethe. So sieht's doch aus.
P:Verstehen Sie denn nicht? Noch nie hat jemand Johann Wolfgang von Goethe so sehen dürfen wie wir jetzt! Nicht einmal er selbst durfte seine Tibia, seine Ossa carpi, seine Ligamenta costotransversaria lateralia je anders als durch Haut und Fleisch hindurch wahrnehmen.
K:Ich habe nicht den Eindruck, daß er da etwas verpaßt hat.
Petzoldt zieht Goethe sehr vorsichtig das Totenhemd aus.
Was stellen Sie denn jetzt schon wieder an?
P:Man kann ja wohl kaum an die Restaurierung des Goetheschen Corpus gehen, wenn er noch sein Totenhemd trägt.
K:Aber geben Sie ja acht!
P:Lieber Genosse Bezirkskulturbeauftragter Knopp, als Doktor der Medizin, als Gerichtsmediziner mit 21 Jahren Berufserfahrung, als ausgebildeter Tierpräparator und als Literaturliebhaber bin ich wie kaum ein anderer für diese Tätigkeit qualifiziert.
K:Das Hemd hätte auch eine Renovierung nötig.
P:Es ist nur ein zerschlissenes, altes Stück Leinen, und dennoch würd' ich ohne zu zögern meine gesamten Besitztümer dagegen eintauschen.
K:Sie spinnen ja.
Petzoldt schält sich hastig aus seinem Arztkittel und legt sichtlich ergriffen das Totenhemd an.
Moment, Moment, das kann ich nicht tolerieren! Dieses Verhalten ist unverantwortlich!
P:Seien Sie still. Sie stören mich in meiner Andacht.
K:Jetzt …
P:mit abwehrender Geste Schscht! Treten Sie nicht auf das Allerheiligste! Und beschädigen Sie mir nicht meinen Mantel!
K:Das … das … dieses Verhalten wird Folgen für Sie haben, Dr. Petzoldt! Schwerwiegende, sehr, sehr schwerwiegende Folgen!
P:Sie ahnen ja gar nichts von den höheren Regionen des Transzendenten, jene unbekannten Gebiete, in die mein Geist auf starken Fittichen davongetragen wird … Türen, die sich öffnen … Räume … Beugt sich über den Leichnam. Knopp, in Panik, will ihn daran hindern, wagt aber nicht, Petzoldt in dem brüchigen Mantel anzufassen.
K:Dr. Petzoldt! So werden Sie doch wieder vernünftig! Ich bitte Sie! Ich flehe Sie an!
P:Und hier ist es also, das Kleinod. Der schöpfende Genius, hier in meinen Händen trage ich ihn. Richtet sich zu priesterlicher Haltung auf, den Schädel Goethes in Händen.
K:Legen Sie das wieder zurück! Das gehört Ihnen nicht!
P:Die harte Schale dieser Calvaria birgt austerngleich das Kostbarste: das Gehirn, das dichtete, forschte, sah und verstand wie kein anderes.
K:Aber da ist doch nichts mehr! Das ist doch nur Staub!
P:Was gäbe es für einen Sprengstoff, mischte man es mit dem Schillers! Die Welt würde zittern in ihren Fundamenten!
K:Sie sind verrückt. Er ist verrückt geworden.
P:Doch nein. Jede Zutat würde es verunreinigen. So und nicht anders muß es bleiben. Neigt den Kopf zu dem Schädel und atmet tief ein.
K:setzt sich resigniert auf den Sarg Gut, ich sitze also mit einem Verrückten in einer Gruft. In Ordnung. Nichts weiter Schlimmes.
P:inhaliert Aaah! Der Geist der Klassik … Hustet.
K:Ich wache sicher gleich auf. Der Wecker klingelt und ich liege neben meiner Frau.
P:zum Schädel Komm! Ich hebe dich zu höhern Sphären! Hustet.
K:Ein schöner Herbsttag. Ich steige in meinen Wartburg und fahre ins Büro. Dr. Schnabel nickt mir zu, und die Sekretärinnen lächeln.
P:entrückt Die Abgeschiednen betracht ich gern,
Stünd ihr Verdienst auch noch so fern,
Denn Imi hält das Becken sauber … Hustet heftig, bekommt keine Luft mehr.
K:Dr. Petzoldt? Ist was nicht in Ordnung?
P:Warte nur, balde … Sei's gewesen, denn als Geister … Dahin, dahin, geht unser Weg, o … keuchend Laß uns ziehen …
K:Dr. Petzoldt! Was … nun sagen Sie doch was! Meine Güte, jetzt machen Sie keinen Unsinn!
P:mit ersterbender Stimme Im Abgrund wohnt die Wahrheit! Titanen, ihr! Nehmt auch mich zum Genossen an! Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte! Röchelt.
K:Dr. Petzoldt! Mein Gott, das ist doch von Schiller!
P:versucht zu sprechen Hhrr …
K:Sprechen Sie! Was soll ich denn tun, wie kann ich …
P:mit letzter Anstrengung Mmehhr Lichtt! Stirbt.
K:Dr. Petzoldt? Schüttelt ihn. Dr. Petzoldt! Sind Sie … O nein. Sind Sie gestorben? Weicht entsetzt zurück. O nein. Das ist nicht wahr. Das ist … Läuft in Panik zur Treppe, wo er dem zurückgekehrten Schrell in die Arme läuft.
S:einen Karton Waschpulver, einen Eimer Wasser und etwas Grünzeug in der Hand Was ist denn mit Ihnen? Sie sehen ja blasser aus als unser Dichterfürst.
K:Das … das … sehen Sie …
S:läßt alles fallen, eilt zu Petzoldt Dr. Petzoldt! Was ist denn mit Ihnen? Fühlt den Puls. Er ist tot.
K:Es ging so schnell.
S:Was ist passiert?
K:An Goethes Gehirn erstickt.
S:Es ist ihm zu sehr zu Kopf gestiegen.
K:Nun sind die Toten in der Überzahl.
S:Und noch im Tod hält er Goethes Schädel fest umklammert, der Arme.
K:Was machen wir jetzt? Wir müssen doch irgendwas tun!
S:Wo ist ein Telefon?
K:Wen wollen Sie denn anrufen? Die Polizei? Einen Krankenwagen? Was glauben Sie, was das für einen Skandal gibt! Wenn das auffliegt, bringen wir den Rest unserer Tage im gelben Elend zu!
S:Hmm … Wer weiß noch außer uns beiden von der Sache?
K:Nur Dr. Schnabel. Und der stellt sicher keine dummen Fragen.
S:Dann kommen Sie! Räumt die Gebeine von Schillers Sarg und holt die Stemmeisen hervor.
K:Was haben Sie vor?
S:Hier macht bestimmt in den nächsten dreißig Jahren keiner mehr auf.
K:Aber …
S:Der Sarg ist groß genug. Fassen Sie an! Mit vereinten Anstrengungen öffnen die beiden den Deckel.
K:hineinblickend Sieht auch nicht viel besser aus.
S:entwindet Petzoldt Goethes Schädel Den brauchen wir noch.
K:Wußten Sie, daß Goethe Schillers Schädel zur Schreibtischdekoration benutzte?
S:packt Petzoldt an den Schultern und wartet auf Knopp, der sich vor der Leiche ziert Kommen Sie! Tote beißen nicht!
Knopp faßt Petzoldt an den Hosenbeinen; Petzoldt wird in Schillers Sarg gelegt.
Den Kopf noch ein bißchen heruntergedrückt und die Hände gut verstaut, dann kriegen wir den Deckel ganz leicht wieder zu.
K:in den vollen Sarg blickend Da findet er nun seine Ruhestatt, der große Goetheliebhaber, in Schillers Grab.
S:Nun … gewissermaßen.
K:Was meinen Sie damit?
S:Sie wissen ja, daß ich dabei war, als vor ein paar Jahren Schiller mazeriert wurde.
K:Ja?
S:Es war ein bißchen so wie heute, nicht ganz so turbulent, aber ähnlich. Dr. Kraußnick, mein damaliger Kollege, ging mit ähnlichem Enthusiasmus an die Sache wie der gute Petzoldt. Wir begannen mit ein paar wissenschaftlichen Untersuchungen – Vermessungen, Gewebeproben und so weiter, vor allem am Schädel – und kamen dabei zu verblüffenden Ergebnissen. Eben waren wir dabei, die Konservierung einzuleiten, als …
K:Als?
S:Als ich mir den Beckenknochen einmal ansah.
K:Und? So erzählen Sie doch! Was war damit?
S:Nun, wenn wir uns nicht völlig falschen Vorstellungen von der geschlechtlichen Identität Schillers hingeben, kann er hier nicht liegen.
K:Wie? Und wer sonst? Und wo ist Schiller?
S:Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls haben wir uns beeilt, die Kiste zuzumachen und nach Hause zu kommen. Und das gleiche habe ich auch heute vor. Die beiden schließen Schillers Sarg.
K:Sie meinen also, es ist gar nicht Goethe, der hier herumliegt?
S:Vielleicht, vielleicht auch nicht. Schüttet Waschpulver in den Eimer.
K:Aber … Was tun wir dann hier? Das ist doch alles völlig sinnlos.
S:Bei Goethe weiß man nie so genau. Vielleicht kommt in fünf Jahren der nächste und fummelt hier herum. Und dann sind wir dran, wenn wir jetzt nicht ein bißchen Knochenarbeit leisten. Fängt an, einen Knochen abzuschrubben. Knopp steht unschlüssig da.
Was ist mit Ihnen? Sie wollten doch immer so schnell fertig werden.
K:Ich dachte gerade an Petzoldt.
S:Er war Junggeselle, und er ist in den Westen gegangen.
K:O je! Er hat Goethes Leichenhemd getragen, haben Sie das nicht bemerkt?
S:Egal, wir haben ja noch seinen Arztkittel. Ist eben alles restauriert worden. Etwas für den Lorbeerkranz habe ich auch gefunden. Hier, sehen Sie. Hält Knopp ein Büschel Grünzeug unter die Nase.
K:Das ist … das ist …
S:Spinat, ich weiß. Das war das beste, was ich finden konnte in der Eile. Ist übrigens sehr gesund. So, und jetzt schrubben Sie. Es wird eine lange Nacht.

«Offen steht das Grab! Welch herrlich Wunder! Der Herr ist
Auferstanden!» – Wer's glaubt! Schelmen, ihr trugt ihn ja weg.

(Epigramm, Venedig 1790)


© Herbert Braun 2001 • Kommentare? -> Wortwart@Woerter.de