Mit sonntäglicher Gelassenheit

von Herbert Braun

Klare Geometrie strukturierte die Fassade der Poliklinik, in deren holzverschalter Betonfassade sich die furchenartigen Spätsommerschatten verfingen. An Sonntagen drängten sich die Besucher in den vor ihnen zurückweichenden Hallen, voll von Bratengeruch, Kinderfragen, Nächstenliebe und Desinfektionsmitteln. 7 – 8 – 9, flackerten die großen gelben Leuchtziffern der Fahrstuhlanzeige, denen Peter Härtlings Augen gebannt folgten wie den leuchtenden Rädern eines Spielautomaten, 8 – 7 – 6 – 5 – 4, die sich drehten und leuchteten und klingelten und schließlich zum Stillstand kamen: 3 – 2 – 1 – E. Die Fronten gerieten in Bewegung. Härtling wurde zwischen der herausquellenden und der hineindrängenden Masse hin- und hergeschleudert wie ein Tennisball, bis er über die Außenlinie schlingerte, hinein in die polierte Blechdose des Fahrstuhls. Ruhig wartete er ab, daß sich die Hände über den Steuerknöpfen entwirrten, und drückte schließlich die 11, oberstes Stockwerk. Anfangs hielt der Aufzug an jeder Station des langen Weges, jedesmal strömten mehr Passagiere hinaus als hinein, bis Härtling endlich allein mit sich, seiner ausgebeulten Tasche und einer drallen Krankenschwester, deren sommersprossiger Blick das Leere neben ihm durchdrang, gen Himmel fuhr. Härtling rückte seinen Hut zurecht.

Der Aufzug hielt, hastig verhallte das Klappern der grobhölzernen Sohlen der wackelnden Frau in einer Tür mit nierenförmigem Beschlag. Düster schimmerte der gebohnerte Boden gegen die strahlende Fensterfront. Hinter ihm quietschte die glattpolierte Schiebetür zusammen, tief im Schacht sprang ein elektrischer Motor an.

Härtling ging zögernd zu den Fenstern, schritt die Reihe ab und wählte sich eines, das sich öffnen ließ. Er tat es: Ein herbstlicher Wind blies herein, der, aufgeladen mit praller Sonne wie eine fette Echse, von weit her kam, vom Ozean vielleicht, und mühelos über die flache Stadt, die sich in ein enges Flußtal schmiegte, hinwegging. Härtling betrachtete den dürren Kranz der blauen Wälder am Horizont, musterte die Zacken und Bögen, ohne sich von Türenschlagen oder klappernden Schritten beunruhigen zu lassen.

«Herr Härtling!», rief ihn unversehens eine berufsmäßig anschmiegsame Stimme, «Was tun Sie denn hier? So eine Überraschung!»

Härtling wandte sich um und suchte in dem Gesicht des jungen Arztes. «Frisch? Max Frisch, ich vergesse nie einen Namen.» Er ließ den Blick über den weißleuchtenden Kittel gleiten. «Dr. Frisch, vermutlich.»

«Stimmt, seit zwei Jahren …»

«Sie hatten doch Schwierigkeiten in Französisch, wenn ich nicht irre? Elfte Klasse, gerade noch die Fünf geschafft?»

«Ihr Gedächtnis ist immer noch phänomenal, Herr Härtling», lachte der andere verlegen, «das hätte ich selbst beinahe vergessen. Aber was führt Sie hierher? Es geht Ihnen doch wieder besser, hoffe ich?»

«Kann nicht klagen.»

«Die schlimme Geschichte von Professor Canetti haben Sie gehört?»

Härtling nickte.

«Schlimme Sache, wer hätte gedacht, daß das mal so endet. – Tja, ich muß jetzt weiter. Auf Wiedersehen, Herr Härtling, und gute Besserung!», rief Frisch und war auch schon verschwunden hinter dem Klappern seiner unförmigen Schuhe. Wirklich völlig unbegabt für Französisch, der Frisch, hätte ihn nicht versetzen sollen.

Härtling musterte die bunten Autobleche, wie sie glänzten; das filigrane Mosaik der Steinplatten, von spinnwebzarten Fugen getrennt. Der Ausguß der Klinik sog die kleinen Modellbahnfiguren ein und spuckte sie wieder aus, spuckte sie in das Mosaik der betäubend bunten Autos hinein. Mit beiden Händen, als gelte es, eine Mine zu entschärfen, hob Härtling seinen sandfarbenen Hut von der schweißbetropften, gelichteten Stirn und setzte ihn auf das Fensterbrett. Der Wind stieß stumpf dagegen, prallte spurlos ab. Härtlings Finger umspielten die Krempe, tasteten den rauhen Filz, der wenig nachgab unter der Kuppe. Die dort unten, die kamen und gingen, ihre Gespräche über Gehirnhautentzündung und Grabgestaltung, ihre eisessenden Kinder, ihre in Opernarien läutenden Handys – er konnte sie nicht mal hören, nur ein auf und abschwellendes Rauschen, wie sich überlagernde Wellen, das sich von der Autobahn her in den Wind mengte. Die Luft war da, trug ihn fort: Ein winziges Zucken im Fingerglied, eine allzu geringfügige Willensäußerung, glitt der Hut durch die Lüfte. Erfaßt von der Thermik, beschrieb er einen engen Bogen, um dann steil in die Tiefe von elf Stockwerken zu stürzen.

Härtling sah die weißen Gesichter nach oben gerichtet, die Männer mit den Frauen an der Hand, die Frauen mit den Kindern, die Kinder mit Eiskrem, tropfende Finger, mit denen sie auf ihn zielten. Eine Ansprache wollte er ihnen halten, sich in ihre Windungen schleichen, ihnen die Köpfe inwendig ausräuchern, aber die Worte würden irgendwohin getrieben, zwischen den Autotüren erschlagen, in Coladosen ersäuft werden.

So kehrte sich Härtling ab; ließ die Schlösser seiner treuen Aktentasche aufschnappen und zückte einen Plakatstift. Er zog die Kappe ab, die auf dem glatten Boden davonsprang, las in der Mauer, im abgewetzten Rauhputz: «Erklär es mir!», las er, schleuderte den Stift aus dem Fenster, richtete sich in tastenden Rückwärtsschritten auf, wandte sich um und erwartete mit sonntäglicher Gelassenheit den Fahrstuhl.


© Herbert Braun 2001 • Kommentare? -> Wortwart@Woerter.de