Das Rennen

von Herbert Braun:

Wir kamen zu spät. Der weiße Kalk der Startlinie ist verwischt. Staub hat sich gelegt auf die schmale Tribüne, eine einfache Konstruktion aus Rohren und Brettern, gleichmäßig von einer dünnen Schicht Sand überzogen. Fußabdrücke und Reifenspuren weht der Wind rasch davon in diesem trockenen, spärlichen Land.
Schweigend kommen P, M und ich überein. Wir würden die anderen einholen. Es gibt nichts, was uns aufhalten könnte.

Wir fahren jeden Tag bis zur völligen Erschöpfung. Nachts sehnen wir den Zeitpunkt herbei, aber keiner sagt ein Wort. Tatsächlich weiß ich nicht, wer es ist, der zum Absteigen und Schlafen ruft; darüber sprechen wir nicht. Minutenlang noch bahnt sich die graue Straße durch unsere Köpfe, fressen sich die Mittelstreifen vorbei an den Augen. Dann fallen wir in einen todesähnlichen Schlaf. Wir staunen über jeden Morgen.

Unsere Anstrengung beginnt sich auszuzahlen. Zuerst fanden wir ein achtlos hingeworfenes Rad mit gerissener Kette, später einen Fahrer, der an einer langen Steigung zusammengebrochen war. Heute ist es uns endlich gelungen, einen Fahrer zu überholen. Er ließ es geschehen.

P klagt über Schmerzen im Bein. Um uns wird es immer stiller und trockener. Von einem Bergrücken aus sah ich viele Kilometer über eine felsige Wüste, in kantige Höhlen und vom Wind herausgefräste Felsen. Wir müssen achtgeben, die heiße Luft trocknet uns aus.
Ich habe Schwierigkeiten mit dem Rücken, aber ich sage nichts.

Allmählich arbeiten wir uns nach vorne. Es läuft alles nach Plan. Kein Tag vergeht, an dem wir nicht wenigstens zwei Fahrer hinter uns lassen. Nachts erzählte uns P von Zuhause, aber ich bin eingeschlafen.

Immer noch Probleme mit dem Rücken, aber ich komme zurecht. Die Strecke war heute lang und gerade, wir fuhren sehr lange. Es ist schwer, die Gedanken zusammenzuhalten. Man verliert nicht in den Beinen, man verliert im Kopf. M begann, auf offener Strecke laut zu lachen, wie ein Verrückter. Er entschuldigte sich später, meinte, dies gehöre für ihn zum Rennen, führte einige physiologische Erklärungen an. M scheint in Ordnung zu sein, auch P hat sich offenbar etwas erholt.

Das Feld dünnt aus. In den letzten drei Tagen haben wir nur einen Fahrer überholt. Ich weiß, wir sind jetzt kurz vor der Spitze. Dennoch wirkt besonders M beunruhigt. P redet seit Tagen kaum noch; es ist gut so.

Seit gestern bemerke ich ernste Erschöpfungserscheinungen. Ich habe wirre Träume, den anderen geht es offenbar ähnlich. Keiner spricht darüber, mir ist das ganze unangenehm. Vielleicht sollten wir nachts fahren, die Sonne ist zu stark.
1 Fahrer überholt.

Ein langes Duell nahm den größten Teil des heutigen Tages in Anspruch. Zuerst holten wir zwei andere Fahrer ein, doch diese versuchten davonzuziehen. M und P wollten hinterhersprinten, doch ich hielt sie zurück, auch, als die anderen schon außer Sichtweite waren. Man muß warten können.
Kurz vor Sonnenuntergang erledigten wir die beiden.

Gestern ist etwas Unangenehmes passiert: Zwei Fahrer haben uns überholt. Es geschah schon spät am Abend, und es waren nicht die beiden von neulich. Keiner von uns konnte sich erinnern, die anderen schon jemals gesehen zu haben. Sie verfolgten uns über Stunden, und obwohl wir schneller wurden, mußten wir sie schließlich gleichziehen und vorbei lassen.
Erneut hielt ich die anderen von einem Sprint zurück, aber jetzt frage ich mich, ob ich mich geirrt habe. Ich merke, daß die anderen leiden, obwohl sie sich nichts anmerken lassen; ich merke, daß mir selbst das Fahren heute schwerer fällt als gestern. Aber das geht vorbei.

Gestern nacht waren wir völlig erschöpft. Erst lange nach Sonnenuntergang konnten wir unsere Räder in den Sand werfen. Nur unter äußerster Anspannung unserer Kräfte konnten wir einen weiteren Angriff abwehren. Ein Fahrer, den wir vor vielen Tagen hinter uns gelassen haben, hat Tuchfühlung genommen. Ich machte mir ernstlich Sorgen, doch unsere Kräfte ließen uns nicht im Stich.

Heute konnten wir wieder etwas Boden wettmachen. Die beiden Fahrer, die uns überholt hatten, holten wir zwar nicht ein, aber wir behielten sie in Sichtweite, bis sie in der Nacht verschwanden.
Allerdings sind wir jetzt selbst nur noch zu zweit. P klagte morgens über starke Schmerzen im Bein, worüber es zum Streit mit M kam. Ich hielt mich zurück; ich diskutiere nicht. Von den häßlichen Szenen will ich nicht erzählen; jedenfalls hat uns P schließlich verlassen. Das bedaure ich. M meint, es wäre besser so; vielleicht hat er recht.

Erstmals nach vielen Tagen konnten wir wieder einen Fahrer überholen. Sonst sind die Tage eintönig. Hätte ich nicht meine Aufzeichnungen, ich wüßte nicht, was heute und was gestern war. Und selbst so frage ich mich manchmal, ob ich mich nicht irre, ob nicht einfach die Blätter durcheinandergeraten sind; was letzte Woche geschehen ist, scheint erst einen Moment vergangen zu sein, was ich in jedem Moment erlebe, ist bereits Vergangenheit.
Etwas mehr Konzentration, und der Sieg gehört mir.

M beklagt sich häufig über Ps «Verrat», wie er es nennt. Er stellt Theorien und Strategien auf, wie wir zu dritt gewinnen hätten können, beklagt deren nunmehrige Unmöglichkeit, um mir gleichwohl seine Siegessicherheit zu vergewissern.
Ich nicke meist nur dazu. Wie ich dies aufschreibe, scheint es mir, als hätte ich die Sprache verloren. Das endlose Summen und Sirren der Gummireifen auf der Straße verfolgt mich noch bis tief in den Schlaf hinein. Außer dem eigenen Atem ist es das einzige Geräusch, wenn der Wind stillhält. Niemand ist zu sehen auf der ganzen Strecke, man verliert die Orientierung.

M legt ein hohes Tempo vor. Ich bemerke, daß es mir Schwierigkeiten bereitet, ihm zu folgen. All diese Wochen haben ihre Spuren hinterlassen, und ich stelle mir Fragen, an die man besser nicht denkt, wenn man ein Rennen unter dieser unnachgiebigen Wüstensonne fährt.
Ich achte nicht besonders auf die Landschaft, das darf ein Rennfahrer nie tun; aber heute hatte ich das sichere Gefühl, all diese staubigen Felsen und ausgedörrten Hügel zu kennen, schon einmal diese Strecke gefahren zu sein. Und wenn schon.

Das Feld ist offenbar weit auseinandergezogen. Aber wenn man schon einige Rennen hinter sich hat, braucht man nicht die anderen, um zu wissen, wie man fahren muß. Es geht um diese weißen Mittelstreifen, das ist alles. Je schneller sie sich bewegen, desto besser.
Dennoch kommt man auf seltsame Gedanken, hier draußen.

Es ist mein Rennen. Ich weiß, daß die anderen irgendwann aufgeben. Seit heute morgen schaue ich mich vergebens nach M um, eher mit einem Gefühl des Bedauerns als der Überraschung. Er ist einfach verschwunden. Vielleicht ist er nur zurückgefallen, aber das glaube ich nicht. Um so besser. Jetzt ist es mein Rennen.

Der Sand hat jeden Gedanken aus meinem Kopf geschliffen, und ich weiß nur noch um diese gellend weißen Mittelstreifen. Nicht einmal meiner Schmerzen bin ich mir sicher; und das ist gut so. Ich weiß, daß es richtig ist, was ich tue, und für die anderen habe ich nichts übrig, kein Bedauern; keine Erinnerung.

Heute morgen (heute?) bin ich in einem entsetzlichen Zustand aufgewacht. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, daß ich jemanden gesprochen oder auch nur gesehen habe. Man soll sich nicht ablenken. Konzentration ist alles. Ich glaube, ich hole jeden Tag mehr auf. Vermutlich führe ich das Feld schon seit Wochen an.
Die anderen haben vielleicht alle schon aufgehört. Kaum vorstellbar, daß sonst noch jemand hier ist. Das Rennen ist womöglich lange vorbei. Die anderen sind irgendwo angekommen, ich habe es nur übersehen.
Ich frage mich, ob jemand weiß, daß ich hier bin. Ich frage mich, ob ich träume. Ob diese weißen Mittelstreifen wirklich an mir vorbeiziehen, einer nach dem anderen, in einer endlosen Linie.
Aber ich fahre weiter. Es ist mein Rennen.


© Herbert Braun 2001 • Kommentare? -> Wortwart@Woerter.de