Begebenheit in der Wüste

von Herbert Braun

Entschuldigung, ich wollte Sie nicht stören. Ich bedaure aufrichtig, wenn mein zielloses Herumgeflatter Sie irritiert. Ich dachte, ein bißchen Gesellschaft, sozusagen, in dieser menschenleeren Gegend würde Sie aufheitern.

Natürlich hege ich vollstes Verständnis für Ihr Bedürfnis, diese schwere Stunde alleine zu verbringen. Ich bin fest davon überzeugt, daß zu gegebenen Zeiten jeder mit sich zurande kommen muß, daß er mit sich quasi ins Zwiegespräch geht und zurückschaut auf das Getane und Geleistete, und auf das Bevorstehende, vor allem.

Ich muß nochmals um Verzeihung bitten für meine Aufdringlichkeit. Aber schauen Sie nur über dieses trostlose Land, diesen öden, heißen Sand, glatt und unfruchtbar wie der Meeresspiegel, in diesen unerbittlichen Himmel, der die Sonne ohne jede Linderung hindurchläßt. Sie sind ja noch nicht lange hier, aber ich, ich bin hier aufgewachsen, bin Bewohner dieser Wüste, die Einsamkeit in dieser unendlichen Weite nagt an mir wie ein Wurm, sozusagen. Wie köstlich ist mir da eine Gesellschaft wie die Ihrige! Auch wenn Sie bislang – doch verstehen Sie das nicht als Kritik! – diese Freude nicht in vollem Maße zu teilen scheinen.

Natürlich, ich verstehe, ich verstehe Sie voll und ganz. Gegen meinesgleichen bestehen mancherlei Vorurteile. Ja, man muß dieser Tatsache ins Auge sehen. Zugegeben: Das Benehmen zahlreicher meiner Artgenossen in gewissen Lebenslagen läßt zu wünschen übrig. Da reichte oft die Gier der Grobheit die Hand, nicht wahr, primitiver Futterneid mündete in rohe Rangeleien und eine sträfliche Vernachlässigung der Körperpflege nach dem Speisen tat ein übriges, das Image meines Standes dauerhaft zu beschädigen. Rasch sind die ungeheuerlichsten Vorwürfe zu Hand, Legenden und Lügenmärchen, die den Volksglauben aller Kulturen quasi wie eine tausendköpfige Hydra zu verpesten scheinen. Und fast vermute ich, ohne Ihnen mit irgendwelchen Unterstellungen zu nahe treten zu wollen, daß Ammenmärchen dieser Art nun sozusagen auch durch Ihren Kopf spuken.

Bitte erschrecken Sie nicht! Sie sollten Ihre Kräfte wirklich schonen. Keineswegs möchte ich Sie unerwünschterweise mit meiner Gegenwart belästigen, doch das Bedürfnis nach geistigem Austausch, vor allem, trägt mich auf seinen Schwingen davon. Da ist es doch natürlich, daß ich mich zu Ihnen setze. In einer intimeren Atmosphäre vermag ich Ihnen viel leichter die Haltlosigkeit Ihrer Antipathien darzulegen. Sehen Sie: Der Adler, zum Beispiel, ein brutaler Räuber, der sich an flatternden Vogelküken zu schaffen macht, der Mäuschen bei lebendem Leib verschlingt, ist als Wappentier von Nationen und angesehenen Firmen in die Ikonographie eingegangen; mürrischer Einzelgänger, der er ist, nicht wahr, apostrophiert man ihn als König der Lüfte, obwohl er an Größe und, ich möchte mir das herausnehmen, an Ausdauer, Eleganz und Ökonomie des Fluges meinen Gefährten unterliegt.

Denn nicht die Unverträglichkeit im geierischen Wesen ist es, die uns zu Getriebenen, zu Einsamen macht: Die Grenzenlosigkeit des Horizonts, vor allem, die ist es, und sie weitet auch unsere Herzen für Liebe und Freundschaft, für Familiengeist und Zusammenhalt, wie Sie sehen. Aber ich vergaß, daß Sie unser Herumgeflattere in Ihren Gedanken stört. Rücksicht gerade im Umgang mit Sterbenden – ach, was rede ich da, ich meine, in gewissen Stunden, sozusagen, braucht man einfach Beistand, vor allem, jemanden, bei dem man alles loswerden kann, was einem auf der Seele lastet. Nicht wahr, ist es nicht so?

Sehen Sie, schon haben sich meine Verwandten und Freunde still und aufmerksam um Sie geschart. Noch immer sehe ich eine Scheu, wo nicht gar eine Abscheu in Ihren Augen, sich uns preiszugeben. Ist es unser Aussehen, das Sie erschreckt? Freilich, ein Spatz oder eine Meise ist hübsch, flattert unbeschwert herum und denkt nicht an den morgigen Tag. Uns hingegen wurden schwere, verantwortungsvolle Pflichten auferlegt, und die Natur stattete uns mit den Werkzeugen aus, sie quasi zu bewältigen. Vor den tiefen, ernsten Fragen des Lebens verschwinden doch solche Dinge wie bunte Federn oder ein melodisches Stimmchen zur Bedeutungslosigkeit, nicht wahr, und gerade Sie sollten sich davon jetzt vor allem nicht mehr beirren lassen.

Verzeihung! Verzeihung. Ich hoffe doch, mein Benehmen gibt Ihnen keinen Anlaß zu Mißverständnissen, sozusagen! Aber Ihre Lage schien mir so unbequem, warum sollten Sie nicht Ihren Kragen etwas lockern? Sehen Sie, so geht es doch gleich viel besser. Machen Sie sich jetzt keine Sorgen. Alles wird gut. Ganz ruhig, schonen Sie sich. Denken Sie an etwas Angenehmes, an Zuhause, an Menschen, die Sie jetzt quasi gerne bei sich hätten. Machen Sie die Augen zu, entspannen Sie sich.

Nein, das hat Ihnen jetzt nicht wirklich weh getan! Sie scherzen! Ich dachte wirklich, Sie wären schon tot. Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, vor allem, aber kennen Sie Hyänen? Widerliche, fauchende Hunde mit ruppigem Benehmen und Stummelbeinen, ohne jede höhere Bildung. Haben Sie schon eine Leiche gesehen, die von Hyänen zerfleischt wurde? Keineswegs will ich Sie drängen. Mir ist nur an einer einvernehmlichen Lösung gelegen, die quasi zum Besten aller Parteien ausfällt. Jetzt tut's doch nicht mehr weh, oder? Das war nur eine Rippe, weiter nichts. Entspannen Sie sich. Es ist alles gut, nicht wahr. Alles ist gut.


© Herbert Braun 2001 • Kommentare? -> Wortwart@Woerter.de