Magisterarbeit von Herbert Braun,
vorgelegt im Sommersemester 1995
an der Universität Erlangen-Nürnberg
Der Forscher hat stets die Neigung, den Gegenstand seiner Forschung überzubewerten. Vor dem geschärften Blick des Mikroskopenauges werden Fakten und Ereignisse, die der überwältigenden Mehrheit noch nicht einmal bekannt sind, zu einschneidenden Eckpunkten der Geschichte; und die verwirrende Komplexität, die alles annimmt, dem man sich zu sehr nähert, kann ihn darin nur bestätigen. Wer sich mit dem Dadaismus beschäftigt, ist immer wieder versucht zu glauben, den Finger auf den wunden Punkt in der Kultur- und Geistesgeschichte gelegt zu haben – wenn auch diese Zeitenwende den einen eine vorübergehende, kindische Degeneration der Kunst und den anderen nicht einmal bekannt ist.
Der Forscher ist geneigt, sein Thema überzubewerten, um sich selbst zu motivieren, und wenn er von ihm spricht, wird er es oft anpreisen. In diesem Sinn und unter diesem Vorbehalt möchte ich mich in einem ersten Versuch dem Dadaismus annähern.
Der Dadaismus ist in mehrfacher Hinsicht eine einmalige Kunstepoche, die nicht umsonst mit der von Historikern auf 1917 datierten Zeitenwende (von der Neuen Geschichte zur Zeitgeschichte) exakt zusammenfällt, ein Jahr, in dem Europa sein Gesicht verändert – die Wende im Krieg führt zum baldigen Kollaps Deutschlands; an die Stelle untereinander um die Weltherrschaft intrigierender Dynastien treten irreversibel geschwächte Demokratien und Diktaturen; die Rolle der Großmächte wird nach und nach von den beiden Riesenreichen im Westen (Kriegseintritt der USA) und Osten (Oktoberrevolution) okkupiert.
nach vornegibt (wie eben die Richtung zur Abstraktion die dominierende Richtung um 1900 war). Es wird somit immer schwerer festzustellen, was zeitgemäße Kunst ist, was Kunst überhaupt ist (während das traditionelle Problem progressiver, den Rahmen sprengender Kunst war, von den Rezipienten ernst genommen zu werden). Der Dadaismus hat uns das Problem des
anything goeshinterlassen: wenn man ein Pissoir1 zur Kunst erklären kann, kann man alles zur Kunst erklären, es kommt nicht mehr auf den Gegenstand, sondern nur noch auf die Wahrnehmungsweise an. Zu sagen, daß alles Kunst ist, ist aber dasselbe, als zu sagen, daß nichts Kunst ist. Die Kunst schaltet sich selbst aus, die eigentliche Leistung wird dem Rezipienten aufgebürdet.
Und so erscheint schließlich der Dadaismus als Begleitmusik zum Zusammenbruch der Welt, wie man sie damals kannte, ja, sogar zum Zusammenbruch der Welt überhaupt.
Damit ist bereits alles gesagt zur Aktualität des Dadaismus. Es war dies die erstmalige Benennung und Darstellung der Probleme der Gegenwart, wie wir sie bis heute nicht gelöst haben: worauf können wir bauen, wenn wir uns nicht an Gott, den Staat, das Gute, die Vernunft halten können? Ist der einzig positive Wert im Leben dessen Steigerung ins Unendliche, der Lebensrausch? Hat die sinnlose Welt eine immanente Struktur als Ersatz für den Sinn oder ist sie das blanke Chaos? Und wozu ist eigentlich Kunst gut, wenn sie nicht mehr schön
ist? Die Radikalität im Neuverständnis des Kunstwerks hat in eine Sackgasse geführt: durch das Fehlen eines kohärenten Weltverständnisses hat sich der Künstler von seinem Publikum entfremdet, seine Kunst wirkt unverständlich2 – ein Problem, das in neuerer Zeit im Gefolge der Diskussion über die Postmoderne verstärkt aufgegriffen wurde.
Diese vielleicht etwas überspitzten Überlegungen waren der Grund für meine Fragestellung. Im Dadaismus ist ein bestimmter Punkt erreicht, über den wir bis heute im wesentlichen nicht hinaus sind – da der Dadaismus als historische Bewegung aber ziemlich kurzlebig war und spätestens Mitte der zwanziger Jahre Geschichte war, drängt sich die Frage auf, wie die dadaistischen Künstler selbst das Problem gelöst, verdrängt, umgangen haben: wie ist künstlerisches Schaffen nach dem Dadaismus möglich?
Es mag vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz einsichtig sein, welchen Nutzen man sich von einer Beschäftigung mit der Rezeption des zu behandelnden Phänomens verspricht, ist diese doch ein vom Forschungsgegenstand nicht unabhängiger, aber doch eigenständiger Komplex mit eigenen Gesetzlichkeiten. Eine solche Ansicht übersieht leicht, daß die Erforschung des Gegenstandes selbst ein Akt der Rezeption ist, der zwar Objektivität erstrebt, sie aber nicht erreichen kann. Der Forschungsgegenstand muß behutsam von den zahlreichen Schichten vereinnahmender, ablehnender und scheinbar objektiver Rezeptionen (zu denen z.B. auch die oben dargestellte gehört) abgelöst werden, damit man sich zumindest darüber klar werden kann, daß und auf welche Weise der objektive Blick getrübt wird. Hier kann natürlich keine komplette Rezeptionsgeschichte geliefert werden, aber folgenden wenigen Stichpunkte sollen zeigen, wie verschiedene und andererseits wie tief verwurzelte Vorurteile über das Phänomen Dadaismus im Schwange sind.
Die Begriffe Dadaismus
, dadaistisch
und Dada
werden in der Öffentlichkeit heute durchaus gebraucht und nehmen einen beachtlichen Stellenwert im Bewußtsein ein. Dadaistisch
sind Kabarettgruppen, Schriftsteller, Filmkomödien, alle Arten von Künstlern. Der Begriff bietet zum einen die Zuordnung zu einer kunstgeschichtlichen Tradition, zum anderen beschreibt er. Dadaismus
wird meist etwa in der Bedeutung künstlerischer Nonsens
, spontan-kreative, avantgardistische, antikonventionelle Kunst
gebraucht; nicht selten läßt sich dabei auch der Unterton harmloser Unsinn
herauslesen, der Begriff spielerisch
fällt unweigerlich, mit oft positiven Konnotationen als liebenswert-versponnen und gegen als drückend und trocken empfundenen Rationalismus gerichtet. Was nicht verstanden werden kann, will auch nicht verstanden werden, denn der Dadaismus will uns auf spielerische Art und Weise den Unsinn vor Augen führen, um zu erheitern – so diese verständnisinnige Sicht, mit der man freilich auch Joachim Ringelnatz und Otto zu Dadaisten machen würde.
Bemerkenswerterweise jedoch werden dadaistische Kunstwerke auch noch anders wahrgenommen: für den unverbildeten common sense
stellt ein Lautgedicht oder eine Merzzeichnung ein rotes Tuch dar, man fühlt sich provoziert – eine Reaktion, die der Dadaismus schon immer hervorrief (auch wenn die Memoiren der Beteiligten in diesem Punkt sicherlich ein wenig ins Schwärmen geraten) und auch bewußt hervorrufen wollte3; mit überraschender Heftigkeit wird oft die (scheinbare?) Verweigerung von Sinn
quittiert. Das gemeinsame Movens hinter beiden scheinbar so verschiedenen Reaktionen ist dasselbe, nämlich Unverständnis, nur daß sich das eine zornig und das andere belustigt-überlegen gibt.
Unter den Künstlern hat der Dadaismus die stärkste Rezeption wohl in der bildenden Kunst erfahren4, und dies nicht nur über den Surrealismus, sondern auch direkt, wenn auch mit erheblicher Verzögerung. Die Collage – eine ausgesprochen dadaistische Kunstform (obwohl sie schon zuvor existierte) – ist heute eine verbreitete, anerkannte Gattung, aus Modeströmungen wie Pop-art, Opart, Smart Art
lassen sich eindeutig dadaistische Tendenzen herauslesen. Rezipiert wurde dabei allerdings mehr die Erweiterung des Kunstbegriffs und der Techniken als der allgemeine weltanschauliche Kontext. Auch in anderen künstlerischen Bereichen ist man auf den Dadaismus aufmerksam geworden; so beschreibt z.B. Frank Zappa seine Stücke als musikalische Müll-Skulpturen
5, während die kulturelle Revolte 1976/77, die Punk-Bewegung, zumindest post festum mit dem Dadaismus in Verbindung gebracht wurde6.
Der vereinnahmende, nicht selten verharmlosende Gebrauch des Begriffs Dadaismus
kann in der Rezeption des historischen Dadaismus dazu führen, daß dieser selbst völlig falsch verstanden wird. Daß sich die Dadaisten selbst bei all ihrer Verschiedenheit keineswegs als harmlose Nonsens-Künstler verstanden, daß sie, für die der Dadaismus (bewußt oder nicht) zumeist nur Übergangsphase war, sehr weitgesteckte Ziele verfolgten, soll hier nur durch eine Stimme belegt werden:
Der Dadaismus war nur eine Beigabe einer großen Frömmigkeit. Wir litten nicht nur an der Zeit, sondern wir litten hauptsächlich an uns selbst. (...) Du wirst begreifen, daß der tiefere Sinn unserer Tätigkeit das Leiden war. Nur im Leiden an der Zeit und im Leiden an uns selbst hatten wir die Möglichkeit, über unsere eigenen Grenzen hinauszugehen, da nur das Leiden einem einen Paß gibt, sich selbst zu verlassen7.
Dieses Zitat freilich führt uns in ein anderes Extrem der Dada-Rezeption, nämlich in die Mystifizierung, wie sie vor allem in den späteren Memoiren der Ex-Dadaisten vorgenommen wird. Bei häufig sehr oberflächlichem Umgang mit den Fakten wird der Dadaismus als geheimnisvoll und groß dargestellt, wobei gleichzeitig darauf Wert gelegt wird, daß die eigene Position (die um so höher war, je früher man der Bewegung angehörte) gebührend hervorgehoben wird. Besonders die frühe Forschung hat diese Mythen z.T. eher bekräftigt als auf ihren Wahrheitsgehalt durchleuchtet8.
Während die bildende Kunst den Dadaismus im Lauf der 60er Jahre umfassend rezipierte und die Geisteswissenschaft (mit ihr auch die Museen und Galerien) die Avantgarde von einst einzuholen suchten, stieß eine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur auf zwei Probleme:
abstrakte,
experimentelle, in jedem Fall
ungegenständliche9 Texte auch in anderen Nationalliteraturen nicht in dem Maße durchsetzen konnten, wie dies in der bildenden Kunst der Fall war, in der heute gegenständliches Arbeiten fast eine
Minustechnikgeworden ist und die auch die Bewegung zur Abstraktion stärker getragen hat als die Literatur. Ein knapper Blick auf Schwitters belegt dies: während er durchwegs und lebenslang abstrakt malte, collagierte und formte (mit Ausnahme seiner auch von ihm selbst als solche gesehenen Hobby-Studien und Porträtarbeiten zum Broterwerb), ist sein literarisches Werk nur in seinen Anfangsjahren abstrakt. Die Frage, was der Grund für diesen eigenartigen Umstand ist, kann hier allerdings nicht beantwortet werden, sondern ihre Implikationen müssen einfach als Faktum hingenommen werden.
Unabhängig von dem oben gesagten jedoch gab es seit Mitte der 50er Jahre eine Bewegung, die sich ausdrücklich auf den Dadaismus berief und die zahlreiche Ideen von dort aufgriff und verarbeitete: die konkrete poesie. Insbesondere Kurt Schwitters wurde zu einem enorm wichtigen Einfluß für experimentelle Dichter wie Gomringer, Jandl, Mon und Heissenbüttel, der sich auch theoretisch mit Schwitters auseinandersetzte. Im Verlauf der Untersuchung werden sich noch einige Stichworte zu dieser bedeutendsten Rezeption dadaistischer Dichtung innerhalb der Literatur ergeben.
Der Dadaismus wurde in der Forschung lange Zeit als Anhängsel des Expressionismus gesehen (Deutschland) bzw. als Vorläufer des Surrealismus (Frankreich); auch Futurismus und Kubismus warfen ihre Schatten auf ihn. In den 50er und 60er Jahren wurde er von der modernen Kunst und Literatur eingeholt (konkrete poesie, Pop-art etc.), in deren Gefolge die Forschung ihn als eigenständige Bewegung entdeckte – doch lag in der Anfangsphase die Konzentration auf der Gesamtheit des Dadaismus, wodurch oberflächliche Gruppenstudien mit widersprüchlichen Ergebnissen aufgrund der erheblichen Differenzen innerhalb der Bewegung(en) zustandekamen. Erst nach und nach ist zur Dadaismus-Forschung auch eine Dadaisten-Forschung getreten, die die Komplexität der Bewegung nicht noch weiter verwirrt, aber sie auch nicht glattbügelt.
Die systematische Erforschung des Dadaismus hatte lange Zeit mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Zum einen stellte sich das Problem, daß die Forscher vielfach nur mit Unverständnis auf die Bewegung reagierten, insbesondere, wo sie von marxistischen oder auch von klassisch-hermeneutischen Positionen ausgingen10. Ein Hindernis für die Forschung stellt außerdem dar, daß der Dadaismus eigentlich nur interdisziplinär untersucht werden kann: dadaistische Literatur wurde in Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch geschrieben, die Verbindung zur Kunst reicht bis zur Personalunion Dichter – Maler. Vor dieser Schwierigkeit hat der Forscher, der nicht mit anderen Fachleuten zusammenarbeiten kann, nur die Wahl, sein Thema einzuschränken oder in fremden Revieren zu jagen. Eine weitere Schwierigkeit ist die oben angesprochene Rezeption des Dadaismus, die nicht selten auf eine Mystifizierung hinausläuft, besonders in den Memoiren. Ein letztes Problem wäre schließlich, daß der Dadaismus besonders in der neueren Forschung gelegentlich nicht wissenschaftlich, sondern dadaistisch behandelt wird, die entsprechenden Autoren verwechselten also Objekt- und Metasprache (ein Beispiel ist der Kurt-Schwitters-Almanach, hrsg. v. Michael Erlhoff). Statt ernstzunehmender Auseinandersetzung präsentiert sich so ein künstlerischer
Stil, der überschwengliche Sympathiebekundungen und oft genug fragwürdige Gedanken und Einfälle bietet und damit offenbar mehr der Profilierung des Autors als der tatsächlichen Erforschung des Gegenstandes dient. Gerade durch solche Arbeiten wird dazu beigetragen, daß die Rezeption des Dadaismus verfälscht und verharmlost wird. Diese Art von Forschung
ist offensichtlich von der Rezeption des Dadaismus durch die Künstler beeinflußt und zeigt, daß dieser nach wie vor ein Thema mit aktueller Sprengkraft ist, das in den Geisteswissenschaften nicht immer aus der für diese unbedingt nötigen Distanz und Objektivität gesehen wird, sondern das Gefühle und Meinungen herausfordert.
Die oft beträchtliche Unterschiedlichkeit der einzelnen Dadaisten schlägt sich in einer erheblich differierenden Rezeption nieder. Wie bei vielen Schriftstellern, so wurde auch bei Ball die Rezeption11 in der ersten Zeit nach seinem Tod durch die keineswegs interesselose Nachlaßverwaltung der Angehörigen verfälscht, in diesem Fall durch seine Frau Emmy. Balls Leben wurde in Emmy Ball-Hennings' beiden Biographien Hugo Balls Weg zu Gott
(1931) und Ruf und Echo
(1953) ebenso wie in Eugen Eggers Ein Weg aus dem Chaos
(1951) als final auf den Katholizismus hin ausgerichtet dargestellt – eine Sichtweise, die der späte Ball selbst vorgeprägt hatte. Das allgemeine Desinteresse am Dadaismus und eine kritische Distanz der Autoren dazu machte diesen Lebensabschnitt Balls zur Marginalie. Dies änderte sich in den folgenden Jahrzehnten nach und nach, so daß der Dadaist den Katholiken immer weiter im Forschungsinteresse zurückdrängte. Das allgemein verbreitete Wissen über Hugo Ball konzentriert sich fast ausschließlich auf die Gründung des Dadaismus und die Erfindung des Lautgedichts. Diese Breitenrezeption spiegelt damit durchaus repräsentativ das Interesse der Sekundärliteratur wieder: das Leben und Werk vor 1916 und nach 1917 wird gewöhnlich nur zur Illustration der Dada-Phase herangezogen, und keine Dada-Monographie kommt ohne eine Interpretation eines Lautgedichts aus (und aus unerfindlichen Gründen wählt man dabei stets die Karawane
12). Balls m.E. dichterisches Hauptwerk, der komplexe Tenderenda der Phantast
, wird dabei ebenso wie die nicht ohne weiteres abzufertigende Spätlyrik übersehen13. Dennoch ist seit den letzten zwanzig Jahren ein beträchtlicher Aufschwung der Hugo-Ball-Forschung zu vermerken, der sich nicht nur in den vermehrten Publikationen niederschlägt, sondern auch durch die Gründung der Hugo-Ball-Sammlung und dem von ihr herausgegebenen Almanach neue Impulse erfährt. Leider blieb bislang der Wunsch eines jeden, der sich mit dem Werk Balls beschäftigt, offen, nämlich nach einer Gesamtausgabe. Schon Balls eigene Publikationen sind nicht immer leicht erhältlich (schon gar nicht in den Erstausgaben); die Edition der Briefe und insbesondere der Gedichte gilt als unzuverlässig und unvollständig, und Kritik hat auch die Herausgabe ausgewählter Aufsätze durch Schlichting14 erfahren. Ein beträchtlicher Teil des Werks jedoch ist in mitunter schwer zugänglichen Zeitschriften publiziert und hat noch keinen Neudruck erfahren; wieviel vom Werk noch gänzlich unveröffentlicht ist, läßt sich nur erahnen15. Es bleibt zu hoffen, daß hier bald Abhilfe geschaffen wird.
Die Schwitters-Rezeption divergiert in einigen Punkten stark von der Balls, aber sie weist auch einige Gemeinsamkeiten auf. Ähnlich (wenn auch etwas moderater) wie bei Ball konzentriert sich das Interesse auf einen begrenzten Lebensausschnitt – etwa 1919 bis 1923 –, und auch Schwitters ist bekannt als Dichter eines Gedichts
, nämlich des in zahllosen Interpretationen verarbeiteten An Anna Blume
– ein Umstand, an dem Schwitters selbst allerdings die Schuld
trägt, machte er doch sein Leben lang mit diesem Aushängeschild Reklame für sich. Anders als Ball jedoch hatte Schwitters noch postum mit einem Problem zu kämpfen, das ihn sein Leben lang verfolgte, nämlich nicht nur Unverständnis, sondern auch ein Absprechen des künstlerischen Ranges.
Während sich sein malerisches und bildnerisches Werk seit Mitte der fünfziger Jahre von den USA ausgehend durchsetzte und sich immer weiter in die Reihe der prominentesten Künstler der Moderne vorschob, blieb sein literarisches Werk nach wie vor umstritten. Die schon zu Lebzeiten eigenartig provozierend wirkende Erscheinung rief und ruft noch Jahrzehnte nach seinem Tod ebenso heftige Unmutsäußerungen hervor (ein Beispiel in der Forschungsliteratur ist Rex Last, 1973) wie frenetische Begeisterung. Zu dem Zeitpunkt, als Werner Schmalenbach 1967 die erste große Monographie verfaßte, war die Schwitters-Rezeption bereits eine feste Größe in der experimentellen Kunst wie auch in der Dichtung. Schwitters ist zweifellos einer der wichtigsten Ahnväter der konkreten poesie, wie die theoretischen Auseinandersetzungen Heissenbüttels zeigen; das Werk z.B. Ullrichs wäre ohne Schwitters nicht denkbar, aber dies gilt auch für Ernst Jandl, den prominentesten Schwitters-Epigonen. Die Literaturwissenschaft dagegen nahm von Schwitters äußerst zögerlich Notiz. Die erste einschlägige Monographie von Friedhelm Lach (1971) weist ebenso wie das an sich sehr verdienstvolle Projekt seiner Werkedition erhebliche Mängel16 auf. Die nach wie vor maßgebliche Monographie des Gesamtwerks von Bernd Scheffer (1978) vermittelte erstmals Einblicke in die Vielschichtigkeit der Dichtungen; spätere Präzisierungen und Berichtigungen, wie die Homayrs, vertieften dieses Bild.
Danach muß an dieser Stelle gefragt werden, bevor man untersuchen kann, was eigentlich überwunden werden sollte. Da sie nicht zu meinem engeren Themenkreis gehört, gestatte ich mir, sie eher summarisch und in starker Anlehnung an die Sekundärliteratur zu beantworten.
Fast zur gleichen Zeit veröffentlichten zwei prominente Forscher der avantgardistischen Moderne, Richard Sheppard17 und Michel Sanouillet18, Aufsätze dazu, was als Gemeinsames, als Dadaismus, noch verbleibe jenseits all der erheblichen Unterschiede der einzelnen Künstler. Beide Aufsätze sind bemerkenswert, und beide verkörpern zwei entgegengesetzte Tendenzen in der Forschung: während Sheppard versucht, den Dadaismus als gleichwertigen Bestandteil der Moderne zu integrieren, betont Sanouillet die Einzigartigkeit des Phänomens, wie auch ich es in den ersten Absätzen dieser Arbeit etwas reißerisch dargestellt habe. Beide Positionen haben etwas für sich, beide zusammen machen den Dadaismus aus, und so möchte ich sie beide anhand der oben genannten Aufsätze referieren.
Ismus
(Nach Richard Sheppard: What Is Dada?, 1979)
In seiner Einleitung betont Sheppard, daß diese Frage trotz des gesteigerten Interesses am Thema noch nicht geklärt sei, u.a. wegen der eigenartigen Rezeptionsgeschichte. Auf der Suche nach einem sinnvollen Dada-Begriff, der weder unzulässig ausgeweitet noch zu sehr eingeschränkt ist, bedient sich der Autor der Frage nach dem theoretical environment
(S. 176) der Moderne: auf welche Weise wurde Zivilisationskritik geübt, was waren die Überwindungsversuche, und wie schlug sich dies in der ästhetischen Praxis nieder?
Sheppard hält fünf Punkte fest (ich habe die ersten beiden zusammengefaßt), die die von ihr (aus verschiedenen, hier nicht zur Debatte stehenden Gründen) entfremdeten Dadaisten an der Gesellschaft diagnostizierten:
Als Heilmittel gegen diese Zivilisationskrankheiten propagierten die Dadaisten eine moralische Revolution, die der Doppelnatur des Menschen gerecht werden sollte. Zum einen nämlich vertrat der Dadaismus einen ausgesprochenen Primitivismus, den man ebenso als elementare Spontaneität der dynamischen Wirklichkeit wie als Stütze vor den Abgründen des Unterbewußten verstehen kann, welches mit ihm freilich einige Gemeinsamkeiten aufweist und das im Gegensatz zur Psychoanalyse als positiv verstanden wurde. Zum anderen jedoch betonte der Dadaismus immer wieder die transrationale Spiritualität des Menschen, so daß das dadaistische Menschenbild auf eine Balance, einen Indifferenzpunkt zwischen diesen beiden Kräften hinausläuft: gesucht war die paradoxe Bilanz zwischen Starrem und Bewegtem, zwischen Ja und Nein, wie sie sich in den magischen Gestalten in der dadaistischen Literatur von Tenderenda bis Anna Blume äußert. Individualismus, Spontaneität und Gegenwartsbewußtsein standen dem Bewußtsein der eigenen Relativität und der dunklen Seiten
, dem Gefühl der Leere gegenüber.
Ein philosophisches Problem zieht sich ferner als Konstante durch den Dadaismus hindurch: ist die Natur, die ohne Gott (und ohne etwas Gottähnlichem) existiert, strukturiert, wenn auch im Verborgenen, oder ist sie chaotisch? Nach Sheppard wird diese Frage im deutschen Dadaismus überwiegend bejaht, im französischen eher verneint. Dem deutschen Dadaismus stellt sich das Universum zwar nicht als harmonisch, sondern widersprüchlich und unerklärbar dar, aber er fühlt sich ihm (zumindest auf ironische Weise) verbunden. Der Autor führt dies am Beispiel von Hans Arp und dessen Theorie von der Komplementarität von Struktur und Chaos im Zufall aus.
Als Hauptkennzeichen dadaistischer Weltanschauung ergeben sich somit: 1. anarchisch-spontane Lebensfreude; 2. Aggressivität gegen (bürgerliche) Bequemlichkeiten; 3. eine fast romantisch zu nennende Selbstironie in der Bewußtheit des fließenden Charakters der Welt, womit dem Fatalismus ebenso begegnet werden konnte wie anderen Auswüchsen.
Die heftige Kritik des Dadaismus an der Kunst trifft weniger diese selbst19 als vielmehr ihre Korrumpierung durch das bürgerliche Weltbild – Anthropozentrismus, soziale Anbiederung, Harmonisierung, Realitätsverlust, Künstler- und Kunstdünkel, l'art pour l'art. Der Dadaismus war entschieden abstrakt und satirisch. Einige Stichworte zum dadaistischen Kunstverständnis:
Konkretion,
Konstellation,
Analogieentgegen;
Zum Ende seines Aufsatzes (wie auch schon in der Einleitung) macht Sheppard klar, daß er die besondere Rezeption des Dadaismus für hauptverantwortlich dafür hält, daß dieser uns als ein so einzigartiges Phänomen erscheint. Sheppards Anliegen ist es, den Dadaismus als eigenständige Bewegung unter anderen in der Moderne zu etablieren; mit einem abschließenden Verweis auf C.G. Jungs Archetypus des Schelmen skizziert er eine weiträumigere historische Einbindung über dessen Kennzeichen von Zivilisationskritik anhand des Ursprünglichen, die Doppeldeutigkeit seiner Äußerungen, die sich erst im Verborgenen erschließt, sowie die Balance von Bestialität und Messianischem.
(Nach Michel Sanouillet: Dada: A Definition. 1979)
Nachdem Sanouillet einleitend die Rezeptionsschwierigkeiten, die Verknüpfung von Nihilismus und positiven Gedanken und die Nichtfestlegbarkeit des Dadaismus auf bestimmte Techniken anmerkt, stellt er eine zentrale Eigenart des Dadaismus heraus: anders als andere Ismen
steht im Zentrum des Dadaismus ein bedeutungsloses Wort, Dada
. Durch seine Bedeutungslosigkeit konnte dieses Wort Platzhalter für alles Mögliche werden, mancherorts ist es z.B. an Stelle Gottes gesetzt. Der Autor unterscheidet nun Dada
vom Dadaismus
: während letzterer eine historisch lokalisierbare Bewegung darstellt, ist Dada eine unerklärbare, nicht definierbare, bewegliche Paradoxie. Durch diese Eigenschaften ist Dada individuell und anpassungsfähig, es weist eine weiche Struktur
auf, seine Komplexität, Widersprüchlichkeit und Individualität machen es zu einer Herausforderung auch für die Gegenwart.
Was ist nun also Dada, was Dadaismus? Für den vorläufigen Abschluß dieser Fragen möchte ich einige Stichpunkte angeben.
Dadaismusauch von dem umfassenderen Wort
Dadaabgedeckt wird, nicht aber umgekehrt.
Das Ziel dieser Arbeit ist ein doppeltes. Zum einen sollen in theoretischer Hinsicht Aufschlüsse gewonnen werden, auf welche Weise es möglich war, nach dem Dadaismus weiterhin Kunst zu schaffen (ich habe die Implikationen dieser Frage schon oben ausgeführt); zum anderen sollen literarhistorische Erkenntnisse gewonnen werden – dies nicht nur zu den untersuchten Autoren selbst, sondern zum Dadaismus als ganzem. In der Forschung ist mehrfach der Gedanke aufgetaucht, daß der Dadaismus gewissermaßen der kleinste gemeinsame Nenner von ziemlich verschiedenen Künstlern war, und daß dieses Gemeinsame die Negation war (des Krieges, des Bürgertums, des Rationalismus, der Kunst etc.) – wie ja auch jede Darstellung des Dadaismus zuerst einmal die negativen Aspekte aufzeigt und dazu auch gewöhnlich viel mehr findet als bei den positiven. In diesem Verständnis wäre der Dadaismus (bewußt oder nicht) eine Übergangsphase für die Künstler, die individuell und über den Dadaismus hinausweisend positive Gedanken zunehmend vertreten, die in sehr verschiedene Richtungen führten. Der Wert dieser Untersuchung könnte nun darin liegen, die Aspekte der späteren Entwicklung bewußt mit der dadaistischen Phase der Autoren zu verknüpfen (im Gegensatz zu der Mehrzahl der Publikationen, die entweder nur an den wenigen Jahren, in denen der Dadaismus als Bewegung existierte, oder an den Einzelautoren interessiert sind). Aus der in späteren Jahren ausgeformten postiven Ästhetik sollen dann Schlüsse und Vergleiche gezogen werden, die das Gemeinsame dieser Überwindungsversuche zeigen können.
Schön wäre es, wenn man zu diesem Zweck alle Künstler heranziehen könnte, die im Umkreis der Avantgarde von 1916 bis etwa 1923 standen. Eine solche Arbeit wäre natürlich ein riesiges, interdisziplinäres Projekt, und schon wegen des Dilettantismusproblems muß ich mich auf die deutschen dadaistischen Schriftsteller und Dichter beschränken. Doch auch hier mußte noch einmal eine Auswahl getroffen werden, der vor allem Richard Huelsenbeck, Raoul Hausmann und Hans Arp zum Opfer fielen, so daß nur noch Hugo Ball und Kurt Schwitters übrig blieben. Die Zusammenstellung gerade dieser beiden Autoren mag verwundern21, haben diese doch (nicht nur auf den ersten Blick) außer ihrer gemeinsamen Verbindung zum Dadaismus, die obendrein sehr unterschiedlicher Art war, wenig gemein. Beide nahmen einander nicht einmal zur Kenntnis22; in mancher Hinsicht stehen sie an den entgegengesetzten Enden einer Skala. Doch eben diese Unterschiedlichkeit wertet die Gemeinsamkeiten, die zu finden hier versucht werden soll, erheblich auf, so daß bei all dem Fragmentarischen, das dieser Arbeit notwendig anhaften muß, die gefundenen Übereinstimmungen wohl von einiger Gültigkeit sein müssen.
Hugo Rudolf Ball wurde am 22. Februar 1886 in Pirmasens in der Rheinpfalz als fünftes von sechs Kindern geboren. Sein Vater Karl (1849-1929) war Handlungsreisender in Lederwaren, die Erziehung dürfte in den Händen seiner Mutter Josephina, geborene Arnold (1855-1923) gelegen haben. Prägende Erfahrungen des jungen Ball waren die provinzielle Enge der Kleinstadt, die finanziell oft angespannte Lage und die kleinbürgerlichen Moralvorstellungen vor allem seiner offenbar sehr autoritären Mutter. Josepha Ball, deren eine Schwester Nonne war, hatte eine besonders enge Bindung an ihren katholischen Glauben, mit dem die aus anderen Gebieten Deutschlands zugewanderte Familie in dem protestantisch geprägten Pirmasens in der Minderheit war, und erzog ihre Kinder entsprechend. Das spätere Verhältnis Balls zu seiner Mutter ist bezeichnend: obwohl sich Hugo Ball besonders zwischen 1910 und 1917 nicht nur weltanschaulich, sondern auch lebenspraktisch sehr von seiner Mutter entfernt hat, so daß es nach der Aufgabe des Studiums 1910 zum Bruch kam, hat er sie stets als Autoritätsperson in der Familie respektiert. Ball war ohnehin nicht für eine Gelehrtenlaufbahn vorgesehen. Trotz aller Intelligenz, Sensibilität und seines beachtlichen Fleißes, den er in dem sechsklassigen Progymnasium zeigte, mußte er 1902 gegen seinen Willen die Schule verlassen und in einer Lederhandlung eine Lehre beginnen. Ball fügte sich, setzte aber in seiner Freizeit seine ausgedehnte Lektüre sowie seine Anstrengungen auf dem Gebiet der Musik und der Dichtung fort. Neben (nicht erhaltener) Lyrik befaßte er sich insbesondere mit historischen Dramen nach dem Vorbild Hebbels. Wesentlich nachhaltiger aber war der Einfluß Friedrich Nietzsches, auf den Ball 16jährig stieß und der schockartig sein Weltbild veränderte. Der Versuch, mit ausgedehnten Studien seine enge Welt zu verlassen, ohne doch zugleich mit seinen bürgerlichen Lebensumständen brechen zu müssen, scheitert: Nerven und Gesundheit des stets sehr labilen Hugo Ball brechen zusammen, er erkrankt ernstlich und darf 1904 die Lehre abbrechen. Der Weg zum Abitur verläuft nun rasch und reibungslos: bereits im Juli 1906 hat er die Schule abgeschlossen.
In dieser Zeit werden auch die ersten Texte Balls publiziert. Zwischen April und November 1905 druckt die Zeitschrift Der Pfälzerwald
einige (erst vor wenigen Jahren gefundene23) Gedichte. Diese neben Nero
ältesten erhaltenen Dichtungen Balls sind im wesentlichen romantisch-epigonale Naturlyrik, wie sie sich zu jener Zeit der Popularität erfreute24. Die Titel Abendblick vom Hochstein
, Nachtidyll
, Waldgreis
und Sonnenuntergang
sprechen für sich. Auch in anderer Hinsicht zollen die Texte ihrer Zeit Tribut, so etwa in der teilweise sehr konventionellen, mythologisch geprägten Metaphorik:
Gern von meinem Fenster schau ich
Träumend in die schönen Nächte,
Wenn Selenes Silbernadeln
Emsig stickend, leis erklingen25
Gelegentlich jedoch findet sich eine auf den Expressionismus vorausweisende Bewegtheit und eine für Ball typische Entlegenheit in Wortschatz und Metaphorik:
Wolken ungeheuer, tauchen auf,
Perlmutterschuppig. Sie glotzen
Den Wächter dumm an und schleichen
Sich heimtückisch an ihm vorbei26.
Das dumm Glotzen
als Gegenbegriff zur Gottes-Ruh
des Mondes in der ersten Strophe weckt ebenso wie das ungeheuer
und das heimtückische Vorbeischleichen
expressionistische Reminiszenzen. Charakteristisch für den Sprachgebrauch sind Worte wie perlmutterschuppig
: entlegen, schwer auflösbar und kaum mit dem Kontext verbindbar. Ähnlich auch beim Abendblick vom Hochstein
(a.a.O. S.3f), wo es als Schluß heißt: Und durch die weichen Dunkel / Trippelt Prinz Schlafezwerg
. Nur der provokatorische Gestus unterscheidet dieses Bild vom Syphilliszwerg
aus Der Henker
, das sprachliche Verfahren ist beibehalten.
Im Herbst 1906 zog Ball nach München, um sich an der Universität für Germanistik, Geschichte und Philosophie zu immatrikulieren. Wie es scheint, hat er sein Studium mit Eifer und Enthusiasmus betrieben. Kontakte zur Bohème, die während seines zweiten München-Aufenthaltes seine eigentliche Heimat wurde, hatte er keine, statt dessen hielt er sich sehr häufig bei seinem in München wohnenden Cousin August Hofmann auf, der ihm in lebenslanger Freundschaft verbunden bleiben sollte. Kurzzeitig wechselte Ball nach Heidelberg und Basel, kehrte aber 1908 wieder nach München zurück, um dort sein Studium abzuschließen. Nietzsche, der ihn auch während seines Studiums nicht losgelassen hat, wurde zum Thema seiner Dissertation Nietzsche in Basel
, die in dem Dorf Schnaitsee 1909/10 entstand. Doch sprunghaft und konsequent zugleich, wie Ball war, hatte er mit dem Wissenschaftsbetrieb eher abgeschlossen als mit seiner Promotion. Sei es, daß sich der Überdruß des wissenschaftlichen Arbeitens schlagartig entlud, sei es, daß Ball sich, durch Nietzsche angeregt, vom Kamel
zum Löwen
verwandeln wollte, oder sei es, daß das Verhältnis zu seinem Forschungsgegenstand erste Risse bekam: im September 1910 ist Hugo Ball Regieschüler in Berlin.
Über der Etablierung des Dadaismus in der Rezeption als eigenständige Kunstrichtung (statt wie zuvor als dekadentes Anhängsel des Expressionismus oder chaotischer Vorläufer des Surrealismus) trat naturgemäß dessen anfangs enge Verbindung zum Expressionismus in den Hintergrund, so daß es heute fast überraschend anmutet, in dem Dadaisten Ball ein prominentes Mitglied der expressionistischen Bewegung zu erkennen – denn auch in der Ball-Rezeption selbst haben sich die wenigen Monate der Identifikation mit dem Dadaismus so unverhältnismäßig in den Vordergrund gedrängt, daß Balls frühere, keineswegs unwesentliche Beiträge im Rahmen des Expressionismus in Vergessenheit geraten sind.
1910-1914 war für mich alles Theater: das Leben, die Menschen, die Liebe, die Moral. Das Theater bedeutete mir: die unfaßbare Freiheit. (FadZ27 S.13; undatiert)
Neben dem großen Eindruck, den Nietzsche auf ihn gemacht hat, war es vor allem die Begeisterung für das Theater, die Ball aus der ihm vorbestimmten bürgerlichen Lebensbahn geworfen hat. Bereits als junger Lehrling beginnt er seine dichterische Laufbahn mit dramatischen Versuchen, von denen der um 1904 vollendete Nero
der bedeutendste ist. Die bald darauf begonnene Nase des Michelangelo
sollte nach jahrelangen Überarbeitungen seine erste Publikation werden, nachdem Ball zuvor sein Literatur- und Philosophiestudium kurz vor dessen Ende abgebrochen und sich damit gegen den Widerstand seiner Familie die letzte Möglichkeit einer bürgerlichen Karriere verstellt hat. Der Henker von Brescia
sollte folgen, doch zu dieser Zeit hatte sich der junge Ball längst über seine Theaterarbeit in der Bohème etabliert. Im September 1910 wird er Regieschüler von Paul Legband an der Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin, geleitet von Max Reinhardt; wenige Tage nach dem Ende seiner dortigen Ausbildung schickt er im Mai 1911 das Manuskript der Nase des Michelangelo
an Ernst Rowohlt, wo es im Herbst erscheint; der September 1911 sieht Ball beim Stadttheater Plauen für eine Saison unter Vertrag als Dramaturg mit Spielverpflichtung; auf eigene Initiative richtet er dort (nicht unumstrittene) Sonntagsmatineen ein; im Juli 1912 wechselt er an das Münchener Lustspielhaus, das damals künstlerisch bedeutendste Theater der Stadt, auf Vorschlag Balls in Kammerspiele
umbenannt. Am 24.11. des Jahres führt er zum ersten Mal Regie in der von der Münchener Freien Studentenschaft veranstalteten Uraufführung von Hauptmanns Fragment Helios
. 1913 bis 1915 veröffentlicht Ball Aufsätze und Kritiken über das Theater, vor allem in Zeit im Bild
, Phoebus
, Aktion
und Revolution
, daneben ist er für Bühnenverlage tätig und arbeitet an verschiedensten Projekten, insbesondere (nachdem seine Bewerbung um die Direktion des Dresdener Albert-Theater scheiterte) an der Erneuerung des Münchener Künstlertheaters, wodurch Ball eine prominente Stellung innerhalb des expressionistischen Schauspiels errungen hätte, wäre ihm nicht der Kriegsausbruch zuvorgekommen. Im August, in den ersten Kriegswochen, verläßt Ball München, nimmt jedoch nach einer kurzen Unterbrechung erneut am Theaterleben teil, indem er für eine politische Bühne kämpft (er tritt gegen die Übernahme der Berliner Volksbühne durch seinen unpolitischen ehemaligen Mentor Reinhardt ein) und weiter publiziert; erst sein Exil beendet die kurze, aber intensive Beschäftigung mit dem Theater.
Theoretisch war Ball beeinflußt von Nietzsche, Kandinsky, Wedekind und dem Expressionismus. Die Grundlage seiner Bühnenarbeit, wie sie am deutlichsten aus den Aufsätzen Das Münchener Künstlertheater
, Wedekind als Schauspieler
und Das Psychologietheater
, publiziert in Phoebus
Mai/Juni 1914, hervorgehen, war die Ansicht, der Mensch, die unterdrückte Individualität, sei von dem repressiven Druck einer überkommenen, verfallenden Kultur zu befreien; diese Befreiung, die Ball im Gegensatz zu Kandinsky auch politisch dachte, gehe wesentlich von der Kunst aus. Der kulturelle Wandel vollziehe sich in zwei Stufen. Die erste, das Psychologietheater, helfe durch die Aufschlüsselung und Analyse des menschlichen Verhaltens die alte Kultur zu zerstören. Das psychologische Herumschnüffeln
in der menschlichen Seele führt jedoch zu einer Kunst der Verstellung der eigenen Person, wie sie nur zu Zeiten der Repression Sinn macht. Eine Gestalt wie Wedekind markiert den Übergang: als Dramatiker Vollender des Psychologietheaters und damit Zerstörer der letzten Fundamente des Überkommenen, weist er schon durch die amoralische Wucht seiner Persönlichkeit, seine jenseits von Gut und Böse angesiedelte Präsenz auf das Neue voraus. Ziel müsse ein irrationalistisches, amimetisches Gesamtkunstwerk sein, das die Befreiung der Person in ihrer Emotionalität wie in ihrer Spiritualität mit quasi-religiöser Erhabenheit zelebriere, wie Ball im Einklang mit Kandinsky forderte. Differenzen zu Kandinsky ergaben sich jedoch dadurch, daß Ball keineswegs dessen Vertrauen in die selbstregulierenden Kräfte der anarchistisch freigesetzten Person besaß28 und den schlummernden schöpferischen Kräften ebenso hoffnungsvoll gegenüberstand wie er Angst vor den destruktiven29 hatte. Die entgegengesetzten Positionen vertreten auf der einen Seite30 Kandinsky, Claudel (durch seinen Katholizismus, der einen strengen Dualismus Geist – Materie etablierte und die Bedeutungslosigkeit der letzteren zugunsten der ewigen Hierarchie konstatierte) und das japanische Theater (für das Ball ebenso wie viele seiner Zeitgenossen31 reges Interesse zeigte; so wurde in Chushingura
ebenfalls die unbedingte Dominanz der Hierarchie zum Thema, während die Ästhetik im Gegensatz zu Claudel eher unter dem Schlagwort des gegenseitigen Aufgehens von Geist und Materie ineinander steht); auf der anderen Seite etwa Kokoschka (dessen Mörder, Hoffnung der Frauen
die entfesselten dämonischen Kräfte darstellt) oder von Gorsleben (der in seinem Rastaquär
vor dem chaotischen, zuweilen feindseligen Hintergrund den amor fati seines Protagonisten Landser zeigt, wofür er vom Schicksal belohnt
wird32); Ball schwebt zu dieser Zeit unentschlossen zwischen beiden, doch ist eine zunehmende Neigung zu der spirituellen Alternative unübersehbar – es sollte jedoch noch Jahre dauern, bis er die produktive Ambivalenz überwunden und sich eindeutig entschieden hatte.
Die Ideen Balls zur Reformierung des Theaters sind nicht einfach zu bewerten, weil sie in seinen dramatischen Arbeiten nur keimhaft ausgeprägt werden konnten und weitgehend Theorie blieben. Nur dreimal übergab man ihm die Regie (einmal in einem nichtssagenden Lustspiel von Emmerich Földes, zweimal in Sonderaufführungen von Hauptmann und Blei, die beifällig aufgenommen wurden), und Balls eigene, fast unbeachtet gebliebene Stücke lassen den reformerischen Impetus ebenfalls kaum ahnen. Nero
und Die Nase des Michelangelo
reichen in die vorexpressionistische Zeit Balls zurück, und auch der frühestens 1911 begonnene Henker von Brescia
, nur teilweise überliefert, bleibt noch weit hinter den revolutionären Plänen seines Autors zurück. Die überlieferten Texte berücksichtigen die drei Einheiten und die überkommenen theatralischen Konventionen – die Nase
etwa ist versifiziert und kommt mit vier Personen und einem Schauplatz aus, nur die tragikomischen, gelegentlich zur Groteske übersteigerten Dialoge weisen über den Klassizismus hinaus; auch die expressionistisch bewegte Prosa im Henker
wirkt zwar zeitgemäß, aber keineswegs revolutionär. Muß man so eine gewisse Kluft feststellen zwischen Balls Ästhetik und der formalen Konventionalität seines dramatischen Werks, so lassen sich doch inhaltlich einige der Probleme wiedererkennen, die ihn damals bewegt haben. In Torrigiano und dem Henker weisen die beiden bedeutendsten Dramen Balls auffallend ähnliche Figuren auf: beide sind Wilde, gesellschaftliche outcasts, Opfer der Verhältnisse, aber auch ihres eigenen Temperaments und keineswegs schuldlos. Die tiefsten Tiefen, die Bestialität ist ihnen nicht fremd, doch konnten sie sich eine expressionistische Sehnsucht nach Spiritualität und Erlösung wahren; eine Sehnsucht, die sie verwundbar macht gegenüber den Wölfen im Schafspelz, die gewissenlos, aber den Regeln konform nicht weniger irrationale und viel sinnlosere Ziele verfolgen (wie Cellini in der Nase
). So diskutiert die Nase
zwei verschiedene Konzepte von Bestialität und Irrationalismus, den Torrigianos neben dem Schwarmgeist des vornehmen, jungen Cellini, der einem sinnentleerten, zum Götzendienst verkommenen Freundschaftsideal hinterherläuft; daneben aber auch zwei Konzepte der Rationalität, den vernünftigen, mäßigenden Michelangelo, der Klugheit und Gewissen verbindet und als einziger wirklich interessiert ist, den Konflikt friedlich beizulegen, und den schlauen Papst, dem als rechten Renaissancefürsten alle Mittel gelegen sind, wenn sie dem einen Zweck der Macht- und Ordnungserhaltung dienen und der dafür auch – unter dem Anschein der Rechtswahrung – über die Leiche Torrigianos geht. Ball nimmt also eine zwiespältige Position gegenüber dem Dämonischen in der Person ein und kritisiert den bürgerlichen, kalkulierenden Intellekt – soweit eine expressionistische Konstellation. Er räumt aber, trotz aller Sympathien für den großen Kerl
Torrigiano trotz dessen früherer Fehler Michelangelo, der zwar ein genialer Künstler, aber keineswegs ein postrationaler Dionysos
ist, die überlegene moralische Position ein, und dies ist mit dem Expressionismus nur schwer vereinbar. Die größte Nähe zum Expressionismus weist das Stück in den Passagen auf, in denen sich Tragisches und Komisches, Hohes und Niedriges berühren, wenn etwa an den banalen Anlaß des tragischen Konflikts erinnert wird oder an die keineswegs ideale Körperlichkeit des großen Malers und Bildhauers33, groteske Effekte, die in Balls späterer Lyrik noch forcierter zum Ausdruck kommen – ohne daß das Drama deswegen den Anschluß an die Avantgarde von 1911 finden würde. Balls theatralisches Schaffen, dessen Bedeutung außer Frage steht34, bleibt ein Torso, sein volles Ausmaß kann nur erahnt werden.
Balls Kontakte mit dem Künstlermilieu, wie es sich insbesondere in München und Berlin fand, und damit auch seine Verbindung zu den führenden modernen Künstlern in Deutschland und mit dem Expressionismus datieren nicht auf Balls Umzug von der pfälzischen Provinz in die Großstadt (also Herbst 1906) – dort hatte Ball, konzentriert auf sein Studium, offenbar kaum Kontakte zu diesen Kreisen –, sondern erst auf die Zeit, als Ball beschlossen hatte, sein Studium an den Nagel zu hängen und die Theaterlaufbahn einzuschlagen. Von Herbst 1910 bis Mai 1911 läßt er sich an der renommierten Schule von Max Reinhardt in Berlin zum Regisseur ausbilden. Auf die neue Umgebung reagiert er erst einmal mit Befremden:
Also die Schule ist eine Art Indifferenzpunkt zwischen Kindergarten und Tollhaus. Hier sind Menschen, die dich in diesem Augenblick mit ihren Augen erstechen möchten vor Haß und Verachtung, um dir im nächsten Augenblick mit ausgebreiteten Armen einen Kuß zu geben. Es sind Wesen von einer Launenhaftigkeit, daß das raffinierteste Aprilwetter sie darum beneiden könnte. Menschen, mit einem Dünkel behaftet, daß sie unterm Druck der Geniekrone förmlich mit einem Schmerzengesicht herumlaufen müssen (...)35 Darum fühlte ich mich anfangs gar nicht wohl. (An Maria Hildebrand-Ball; Briefe S.17, von der Herausgeberin auf Januar 1911 datiert)
Dieses provinzielle
Befremden legte sich jedoch allmählich, und im Lauf der Jahre 1911/12 schloß sich Ball selbst den Lebensgewohnheiten der Bohème an. Im Herbst 1911 erscheint sein erstes Buch, das Drama Die Nase des Michelangelo
, an dem Ball seit 1908 gearbeitet hatte. In Plauen, wo er für diese Spielzeit als Dramaturg mit Spielverpflichtung arbeitet, erprobt er noch vorsichtig die Auseinandersetzung mit jener bürgerlichen Kultur, die er theoretisch in seinen Nietzsche-Studien längst überwunden hatte; dazu hat er weniger auf seinem eigenen Tätigkeitsfeld Gelegenheit, sondern in den von ihm organisierten Matineen. Auf diesen Veranstaltungen, deren Themen vergleichsweise unbedenklich scheinen (so berichtet Ball in seinem Brief an Maria Hildebrand-Ball vom 5.11.1911 – Briefe S.17f – von einer Hans-Sachs-Matinee), erlebt Ball doch zum ersten Mal die Ablehnung durch Autoritäten (die Kirche fühlte sich durch die Bezeichnung Sonntagsfeier
insinuiert und setzte ein Verbot durch), die Auseinandersetzung mit der Publizistik (Ball wollte einen Artikel dazu in der örtlichen Presse lancieren) und nicht zuletzt die Erfahrung, als eigenständig arbeitender Organisator und Rezitator den Reaktionen des Publikums unmittelbar ausgesetzt zu sein. Mit dem Wechsel ans Münchner Lustspielhaus (bzw. Kammerspiele
, wie es auf Vorschlag Balls umbenannt wird) im Juli 1912 nimmt Ball endgültig teil an einer brodelnden Subkultur, in der er Bekanntschaft schloß mit vielen schillernden Gestalten der Literatur- und Theaterszene. So trifft Ball etwa auf Klabund, Johannes R. Becher, Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn, Kurt Hiller, Franz Pfemfert, Carl Sternheim und Franz Blei, er findet Kontakt zu den zwei für ihn bedeutendsten Künstlern seiner Zeit, zu Kandinsky und Wedekind, er findet in Hans Leybold einen Freund und Weggefährten und schließlich in Emmy Hennings seine zukünftige Frau, die er wahrscheinlich im Simplizissimus
auftreten sieht; er lernt H.F.S. Bachmair kennen, der einen Verlag für die Zeitschriften Revolution
und Die neue Kunst
gründet, an denen Ball maßgeblich mitarbeitet, er findet in den Zeitschriften Zeit im Bild
, Jugend
und Aktion
Publikationsorgane. Balls eigene Produktion dieser Zeit ist noch relativ gering; sie umfaßt neben einigen Aufsätzen und Glossen das Drama Der Henker von Brescia
sowie Gedichte, einige davon in Co-Autorschaft mit Leybold, die unter dem Pseudonym (oder Psychofakt
, wie Ball es ausdrückt) Ha Hu Baley erschienen. Das Wesen dieser Bohème36 prägte die Entwicklung von Ball und dem Dadaismus entscheidend mit. Das soziale Leben spielte sich vor allem in den Cafés ab; der gemeinsame Gedankenhorizont war ein rousseauistisch gefärbter Anarchismus, der sich zu den Outcasts der Gesellschaft hingezogen fühlte. Soziologisch ist sie dabei als eine aggressive Reaktion auf die Ablehnung der modernen Kunst (und des Künstlers selbst) in einer weitgehend erstarrten Gesellschaft zu sehen, als eine Anti-Gesellschaft, die die einzelnen Künstler (und Möchtegernkünstler) zu einer lockeren Gemeinschaft zusammenschließt, die durch gegenseitige Anerkennung und Anregungen einen Halt gewährt gegenüber Anfeindungen und auch finanziell die Erfolgschancen erhöht, konnte doch über dieses Milieu der Kontakt zu aufgeschlossenen Mäzenen und zu bereits etablierten Namen hergestellt werden. Damit wurde aber ein selbsttätiger Mechanismus in Gang gesetzt. Die relative Sicherheit, die Gruppendynamik und der Profilierungszwang, die dieses Milieu bot, führten zu einer immer schärfer werdenden Kritik am bürgerlichen Wertesystem, was wiederum die ablehnende Haltung des (besonders des Klein-) Bürgers gegen die Bohème verschärfte. Ball hat die Bohème, ohne die die Entstehung des Dadaismus nicht denkbar ist, später, vor allem im Flametti
, kritisch reflektiert.
Widmung für Chopin
Drei Meere tanzen hochgeschürzt ans Land,
Des Droschkenkutschers Hut durchbohren Mondesstrahlen.
Als Kehrichtwalze holpert der Verstand,
Wir glänzen durch die Nacht gleich singenden Aalen.
Giraffenhals ragt schräg zum Nordlichthimmel.
Die Mondesratte knüpft ihm bleichen Kragen.
Am Tropenkoller würgt ein Polizistenlümmel.
Bald werden wir ein neues Land erfragen.
Aus unsrem Ohr lustwandeln Eiterströme.
Das Auge rankt sich wüst um das Monokel.
An einem Drahtseil leckt ein schlichter Böhme.
Ein Schwein steht segnend auf dem Marmorsockel.
Zehntausendfarbenschnee. Cocytus. Kinotempel.
Ein Mann greift weibernd nach dem Hosensack.
Auf Eselsrücken brennen handgroß Feuerstempel.
Und Hähne machen Kopfsprung in den Chapeau claque37.
Dieses Gedicht zeigt, wie überraschend fließend die Grenzen zwischen Expressionismus und Dadaismus sind und erklärt, warum eine Beschäftigung mit Balls expressionistischer Phase auch in diesem Zusammenhang angezeigt ist. Es macht wenig Sinn, den Dadaismus auf einen Schlag im Frühjahr 1916 beginnen zu lassen, ohne Vorläufer und Vorstufen38, ebenso wie es wenig Sinn macht, Balls dadaistisches Werk auf die Lautgedichte zu beschränken. Der Dadaismus war auch die Konsequenz einer sich stetig radikalisierenden Bohème, und wenn wir diese Texte der Übergangsphase untersuchen, gilt es, sie auf ihre expressionistischen und dadaistischen Tendenzen zu filtern.
Bei dem zur Untersuchung in Frage kommenden Gedichtmaterial handelt es sich um die Texte Frühlingstänzerin
, Der Gott des Morgens
, Der Henker
, Die weiße Qualle
, Die Katze
, Buddha und der Knabe
, Der Verzückte
, Das Insekt
, Versuchung des Heiligen Antonius
, Die Sonne
und Cimio
, alle zwischen Juli 1913 und 1914 in Aktion
, Neue Kunst
und Revolution
publiziert; dazu kommen noch 6 unter dem Pseudonym Ha Hu Baley in der Aktion
veröffentlichte Gedichte (neben dem oben zitierten Ein und kein Frühlingsgedicht
, Der Geliebten
, Narzissus
, Der blaue Abend
, Der Rasta-Querkopf
), bei denen nicht genau geklärt ist, wie hoch Balls Anteil war; diese Texte sollen separat untersucht werden.
Die Ball-Gedichte dieser Zeit bestehen durchwegs aus rhythmisch freien, teilweise gereimten Langversen39 und sind relativ lang (im Schnitt eine Druckseite / -spalte). Auffällig ist das starke Interesse Balls an der Verwendung eines sehr weiten Wortschatzes40, der auf Neologismen ebenso wie auf unerwartete Zusammensetzungen, vergessene und ungebräuchliche Wörter oder Spezialausdrücke zurückgreift; dadurch kommt es zu einer exotisch-erlesenen Diktion – so ist etwa in der Weißen Qualle
von Raubblume
, Scharlachbaum
, Affen und grüne[n] Geigen und Unzuchtsbäume[n]
die Rede. Die Suche nach dem Wort, der exzessive Sprachgebrauch verrät ein Ungenügen nicht nur an der Welt des Alltags, sondern auch an ihrer Sprache. Dieses Streben nach einem extrem erweiterten Register führt nicht nur zu einer teilweise grotesken Überfrachtung – die sprachliche Ausgestaltung tritt in gleichem Maß in den Vordergrund wie sich die Bindung an einen Sinn
löst – sondern ist auf die gleiche Ursache zurückzuführen wie das letztliche Aufgeben der Sprache (sofern dies in einem Text überhaupt möglich ist) in den Lautgedichten. Diese Exotik im Ausdruck hat natürlich auch eine Entsprechung auf der Bildebene:
Als auch der Perpendickel aus dem Eingeweid der Uhr
Heraushing blutig wüst, ein ärztlich Instrument aus Messingblechen
Und sich die Bilder an der Wand verschoben
Wie großer Geisterhände sacht vorhandene Flächen,
Da schwang sich der grünen Bestie [der Katze] maßlose Erregung
Sich pfeifend auf des Spiegelschrankes Bogen,
Den Rücken hochgekrümmt wie Augenbrauen,
Die sich japanische Prinzessen vormals zogen. (Die Katze)
In diesem Beispiel ist auch zu verfolgen, wie der Drang zur Spracherweiterung allmählich auch syntaktisch den Boden der Konvention verläßt. Die Grazie
, die ziere Erfindung
, der Schmuck
41, den das Gedicht vermittelt, dringen in Wortstellung und Grammatik ein; die Texte Balls werden dadurch oft schwer lesbar.
Ebensowenig wie sich Wort- und Bildebene strikt trennen lassen, so gilt dies auch für Bildlichkeit und Thematik; Gedichttitel wie Buddha und der Knabe
führen aus der gewohnten Welt ebenso hinaus wie Der Verzückte
, Die Frühlingstänzerin
oder Der Gott des Morgens
. Eine mit expressionistischem Pathos vorgetragene feierliche Flucht aus dem als erniedrigend empfundenen Alltag läßt sich denn auch als wichtige Gemeinsamkeit der Texte festhalten. Bis hierher befinden wir uns eindeutig im Bereich des Expressionismus, doch beginnen hier die Brücken, die zum Dadaismus führen. Dort wo von ekstatischer Sprachwut getragene Metaphern den Boden der Realität weit unter sich lassen, ist auch die Gefahr der Verstiegenheit nicht weit; ja, ekstatische Selbstentgrenzung und Überspanntheit sind nur durch das Wohlwollen des Rezipienten auseinanderzuhalten, wesentlich sind sie gleich. In einer der romantischen Ironie42 ähnlichen Denkfigur wird das Zusammenfallen dieser scheinbaren Extreme, mindestens jedoch die gleitenden Übergänge ineinander zelebriert, so daß sich die naive Frage, ob der Dichter das ernst gemeint habe, nicht einfach beantworten läßt. Wirft man etwa einen Blick auf Balls Skandal43-Gedicht Der Henker
, so mag man die lächerlich wirkende Überzogenheit von der Syphiliszwerg stochert in Töpfen voll Gallert und Kleister
der historischen Distanz und dem Streben nach Provokation um jeden Preis, nicht zuletzt wohl auch dichterischem Versagen anlasten, aber wenn es weiter heißt:
Hilf, heilige Maria! Dir sprang die Frucht aus dem Leibe
sei gebenedeit! Mir rinnt geiler Brand an den Beinen herunter. (...)
Als dein Wehgeschrei dir die Zähne aus den Kiefern sprengte
da brach auch ein Goldprasseln durch die Himmelssparren nieder.
Eine gigantische Hostie gerann und blieb zwischen Rosabergen stehen
ein Hallelujah gurgelte durch Apostel- und Hirtenglieder.-
so kommen allmählich Zweifel an der ungebrochenen Ernsthaftigkeit
auf. Als Grundintention des Textes läßt sich eine Gleichsetzung von religiöser mit sexueller Ekstase44 festhalten – eine Gleichsetzung, die für den heutigen Rezipienten nicht mehr allzu aufregend wirkt, aber die Kraßheit im Detail läßt das enorme blasphemisch-provozierende Potential des Textes immerhin noch nachvollziehen. Die Attraktivität dieses Themas für den Expressionismus liegt auf der Hand: Religion und Sexualität – verbunden mit Gewalt – bieten die stärkste Entgrenzung von der Alltagswelt. Die Polarität dieser Bereiche, wie sie sich etwa in gängigen Moralbegriffen zeigt (gut vs. böse), verlieh einer Zusammenstellung zur Analogie noch mehr Reiz: Gegensätzlichkeit hat ja partielle Gleichheit zur Voraussetzung. Die Analogisierung von Sexualität und Religion hat daher schon von sich aus doppelbödigen Charakter: ein erster Effekt von Ironie (allgemein als Begriff für Doppelbödigkeit) stellt sich durch die Gegenüberstellung hoch-niedrig, gut-böse, heilig-sündhaft, körperlich-geistig etc. ein, für die das Thema steht; diese Ambivalenz erfährt jedoch eine weitere Brechung in der partiellen Gemeinsamkeit der Vergleichsgegenstände: der polaren Gegensätzlichkeit steht eine Komplementarität zweier verschiedener Formen der Ekstase, die damit beide eine ebenbürtige Dignität haben, gegenüber. Diese moralisch indifferente, ironische Analogisierung allein hat eine stark provozierende Wirkung, und diese Provokation mußte einen erheblichen Anreiz für die rebellierende junge Generation darstellen, der in dem Gedicht Der Henker
dem Interesse am Thema selbst mindestens gleichwertig ist. Die gesucht degoutante Detailhaftigkeit verbirgt sich nicht hinter den Metaphern, sondern wird durch sie verstärkt, indem auf der Bildebene Vergleiche des Ekelhaften mit Gegenständen religiöser Würde kontrastiert werden.
Der physische Ekel vor der Sexualität, der an die Stelle des moralischen tritt, steht in klaffendem, unvermitteltem Widerspruch zu deren pseudoreligiöser Dignität, die ihr als Weg zur Überwindung von bürgerlicher Erstarrung zukommt. Was dieses Gedicht so herausfordernd macht, ist seine Extremität, mit der es bei der Analogisierung der Gegensätze verfährt: die Gegenüberstellung ist zu einem Punkt fortgetrieben, der das Lächerlich-überzogene daran entblößt. Dem Konzept der Karnevalisierung verpflichtet, fordert das Gedicht nicht nur dadurch heraus, daß es Gegensätze ironisch gleichsetzt und der grelle Kontrast in dieser Gleichsetzung das Degoutante um so deutlicher hervortreten läßt, sondern auch, indem es sich mit den Mitteln der Groteske über gängige Wertvorstellungen lustig macht. Diese letzte Provokation, die durch die Ironisierung nicht nur bestehender Wertesysteme, sondern auch des eigenen Gedichts und seiner selbst hervorgerufen wird, ist (innerhalb des Expressionismus) Kennzeichen des grotesken Frühexpressionismus. Die Haltung gegenüber pathetischer Exaltation ist hier noch durchaus ambivalent. Während man sie einerseits suchte, opponierte man andererseits gegen die blasierte Selbstüberhebung, die man aus der bisherigen Kunst nur allzu gut kannte45. Die revolutionäre Lebenslust verlor sich später, der Expressionismus wurde institutionalisiert; der Dadaismus verdankt jedoch dem Frühexpressionismus nicht weniger als der eigentliche Expressionismus, indem er sich auf dessen anderen Pol konzentrierte, wobei die pathetische Exaltation zurücktrat (aber niemals verschwand!).
Nicht in allen von Balls Gedichten dieser Zeit sind grotesk-expressionistische, protodadaistische Elemente gleichermaßen vertreten. Die fließenden Übergänge sträuben sich gegen eindeutige Zuordnungen, doch lassen sich Texte wie Die Frühlingstänzerin
oder Buddha und der Knabe
offenbar relativ schwer als Grotesken lesen, wohingegen das spätere Gedicht Die Sonne
als das radikalste Beispiel aus Balls Produktion erscheint. In allen diesen Texten aber besteht ein latenter Hang zu travestierender Überzogenheit – sei es im Bereich der Exotik (Die weiße Qualle
), der Sexualität (Der Henker
), der Religion (Versuchung des Heiligen Antonius
, Der Henker
, Das Insekt
) oder durch eine Wahrnehmung, die die empfangenen Bilder nicht mehr zu koordinieren versteht und den Sinn für Proportionen verliert:
Meine Beine strecken sich aus bis zum Horizont. Eine Hofkutsche knackt
Drüber weg. Meine Stiefel ragen am Horizont empor wie die Türme einer
Versinkenden Stadt. Ich bin der Riese Goliath. Ich verdaue Ziegenkäse.
Ich bin ein Mammuthkälbchen. Grüne Grasigel schnüffeln an mir.
Gras spannt grüne Säbel und Brücken und Regenbögen über meinen Bauch. (Die Sonne)
Die Flucht aus der bürgerlichen
, intelligenten
, merkantilen
Welt steht im Mittelpunkt aller dieser Texte – mal auf idyllische, mal auf obszöne Art, blasphemisch oder ekstatisch, sehnsüchtig, angstvoll oder, wie zuletzt, in grotesker Verschiebung. Der scheinbar lustvoll vertretene Irrationalismus wird auch als Gefahr erkannt. Ist Und manchmal überfällt mich eine tolle Seligkeit
ein diametraler, unvermittelter Gegensatz zu den Höllenphantasien der Versuchung des Heiligen Antonius
(Ich hole zum Schlag aus. Hilfe! Es weicht nicht. Eine gelbe Wolke. / Zeter und Mordio. Irrsinn. Irrsinn!
)? Es mag ein Gegensatz sein, doch sind die Gemeinsamkeiten unverkennbar, der Unterschied ist geringer, als es scheint. Auch die Hölle überwindet die verhaßte Alltäglichkeit46, und der paradiesische Rausch hat ebenfalls das rationale, ausgleichende Ich verloren. Etwa in der Mitte zwischen Himmel und Hölle und zugleich ironisch die Distanz zum Ekstaseideal mitreflektierend balanciert Die Sonne
:
Eine Menge blutbunten Volks wird sich stauen: Kindsbetterinnen und Ammen,
Kranke im Fahrstuhl, ein stelzender Kranich, zwei Veitstänzerinnen,
Ein Herr mit einer Ripsschleifenkrawatte und ein rotduftender Schutzmann.
Ich kann mich nicht halten: Ich bin voller Seligkeit. Die Fensterkreuze
Zerplatzen. Ein Kinderfräulein hängt bis zum Nabel aus einem Fenster heraus.
Ich kann mir nicht helfen: Die Dome zerplatzen mit Orgelfugen. Ich will
Eine neue Sonne schaffen. Ich will zwei gegeneinanderschlagen
Wie Zymbeln, und meiner Dame die Hand hinreichen. Wir werden entschweben
In einer violetten Sänfte über die Dächer euerer
Hellgelben Stadt wie Lampenschirme aus Seidenpapier im Zugwind.
Vergleicht man Balls Texte mit denen, die er in Co-Autorschaft mit Leybold verfaßt hat, so fällt unschwer auf, daß die Radikalität der Groteske, die in Balls Gedichten eher die Ausnahme war, bei den Baley-Gedichten zur Regel wird. Der junge, als genialisch, arrogant und zynisch beschriebene Leybold war für Ball antreibendes Moment, und so nimmt es nicht wunder, daß die Gedichte der beiden (ebenso wie die von Leybold alleine) bereits an einem extremen Rand des Expressionismus standen. Etwa bei dem Gedicht Widmung an Chopin
, das oben zitiert wurde, fallen mehrere charakteristische Unterschiede auf gegenüber den Gedichten Balls. Wo es bei diesem schwer ist, einen Sinn
aus dem Text herauszulesen, ist es bei dem oben zitierten Text kaum noch möglich, einen anderen Sinn als den der Sinnverweigerung herauszulesen. Das Gedicht bietet Vers für Vers oft schon in sich kaum aufzulösende Bilder, die in ihrer Gesamtheit einer Interpretation (im engeren, traditionellen Wortsinn) unüberwindlichen Widerstand entgegensetzen. Es kann kein Zufall sein, daß der erste Vers (Drei Meere tanzen hochgeschürzt ans Land
), sei es bewußt oder nicht, eine Reminiszenz an van Hoddis' Weltende
darstellt: die seltsamsten Inhalte werden in der extrem schematischen Form eines in kreuzgereimten Strophen à vier meist fünfhebigen, jambischen Versen strukturierten Gedichtes vermittelt – ein Muster, dem mindestens vier der sechs Baley-Texte genügen und das exakt der äußeren Form von Weltende
entspricht. Die innere Auflösung, der Zeilenstil als wichtigstes formales Kennzeichen des Frühexpressionismus, ist hier aber noch weiter fortgeschritten. Denn wo bei van Hoddis auch im Unterlaufen von Kohärenz noch ein wenigstens ironischer Bezug auf das Thema vorliegt, das der Titel anstimmt, so ist die Widmung für Chopin
weder als solche noch als irgend etwas anderes plausibel zu deuten; über Zusammenhänge kann nur noch spekuliert werden. Schon äußerlich ist der Text geradezu zerhackt: 14 der 16 Verse enden mit einem Punkt. Dazu kommt noch, daß auch innerhalb der Verse die Kohärenz allmählich aufgebrochen wird. So ergibt Des Droschkenkutschers Hut durchbohren Mondesstrahlen
(V.1) ein expressionistisch-bewegtes (durchbohren
), leicht schauriges Bild, der darauffolgende Vers dagegen Als Kehrichtwalze holpert der Verstand
ist ungleich schwerer auflösbar. Eine Deutung ist schon deswegen problematisch, weil das Wort Kehrichtwalze
ungebräuchlich, möglicherweise ein Neologismus ist (eine Walze, die die Straße reinigt? Die auf der Müllhalde den Müll zusammendrückt? eine Walze aus Abfall?) und sich damit je nachdem andere Bedeutungen der Metapher ergeben; nur die allgemeine Tendenz der Abwertung des Verstandes läßt sich herauslesen. Der darauffolgende Vergleich, Wir glänzen durch die Nacht gleich singenden Aalen
, erscheint noch weiter hergeholt, deutlich läßt sich das assoziative Vorgehen verfolgen: das glanzvolle
Auftreten in der großstädtischen Nacht erinnert an die glänzende Geschmeidigkeit eines Fisches, der sich obendrein auf die Mondesstrahlen
reimt; singend
dürfte Bezug nehmen auf die ausgelassene Fröhlichkeit von wir
, obendrein stellt es natürlich ein Paradox auf zu den stummen Fischen. Nicht einmal mehr der assoziative Zusammenhang einzelner Verse läßt sich immer rekonstruieren, wie V.11 zeigt (An einem Drahtseil leckt ein schlichter Böhme.
). Satirische Elemente finden sich häufig im Werk Leybolds; der Text mit seinen einzelnen politisch-satirischen Elementen (V.12: Ein Schwein steht segnend auf dem Marmorsockel.
) muß daher auch als Literatursatire gelesen werden, wie es sich etwa aus V.8 herauslesen läßt: Bald werden wir ein neues Land erfragen.
erscheint auf den ersten Blick als expressionistisch-pathetisches Signal zum Aufbruch, doch bleibt die Formulierung weit hinter dem Inhalt zurück, wenn der Aufbruch zum Neuen bald
höflich erfragt
wird. Die literarische Satire, die sich in Der Rasta-Querkopf
gegen ein genau verortbares Ziel richtet47, ist hier ausgedehnt auf die expressionistische Lyrik, schließlich auf Literatur und Kunst allgemein, wenn gängige Mechanismen der Wahrnehmung mit aggressivem Humor unterlaufen werden und das Gedicht nur noch durch ein völlig ausgehöhltes Formschema zusammengehalten wird. Darin ist auch, ähnlich wie wir es oben beim Henker
gesehen haben, Selbstironie im Spiel:
Wir waren sehr verekelt und verbiestert,
Dem Priapus verschrieben und dem Pan.
Wir rollten von den Dächern, sternverschwistert,
Und glaubten selbst an dieses nicht daran.48
Der expressionistische Gesellschaftsekel, seine Sehnsucht nach ekstatischer Entgrenzung, seine Sternverschwisterung
böten hier die Möglichkeit für ein happy end
in poetischem Furor, doch wird sie im letzten Vers, geradezu brutal in das Reim- und Metrik-Schema gepreßt, ausgeschlagen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Gedichte, die Ball in Co-Autorschaft mit Leybold verfaßt hat, sich in diesen Punkten von Balls eigenen unterscheiden:
Wortstilund von dort aus zum
Buchstabenstilvon Balls Lautgedichten ist es nur noch eine Frage der Konsequenz.
Es ist unerhört und scheußlich, daß dieser junge Mann aus dem Kriege nur die physische Konsequenz ziehen mußte, während die geistige ihm versagt blieb. (Leybold S.36)
Sein früher Tod49 brachte Hans Leybold tatsächlich um die Konsequenzen, die die Radikalisierung des Expressionismus nach sich zog. Hätte er, die offenkundig radikalere Hälfte Baleys, 1916 noch erlebt, wäre er zweifellos einer der führenden Dadaisten geworden. So jedoch lag es an Ball, das gemeinsam Erarbeitete fortzuführen. Nach seinem Frontabenteuer und dem Tod Leybolds übersiedelte Ball im Oktober 1914 nach Berlin. Dort lernt er einen jungen Mann kennen, der anfangs wohl einen Ersatz für den verlorenen Leybold darstellte – zumindest ist es ein merkwürdiger Zufall, daß sowohl Hans Leybold als auch Richard Huelsenbeck intelligent, begabt, gutaussehend, arrogant und jeglichem Fanatismus
, jeglicher Anarchie
50 zugetan waren. Die Freundschaft zwischen Ball und Huelsenbeck muß als Keimzelle des Dadaismus angesehen werden. Dieser Prä-Dadaismus der ersten Jahreshälfte 1915 (dann emigrierte Ball nach Zürich) trat vor allem durch zwei Veranstaltungen ans Licht: die Gedächtnisfeier für gefallene Dichter
(12.2.) und der Expressionistenabend
(12.5.). Besonders die erste dieser Veranstaltungen hat immense Bedeutung für die Entwicklung des Dadaismus gehabt. So war es keineswegs eine rührende, anklagende Trauerfeier, im Gegenteil, die Kälte
wurde kritisiert, kein bißchen Musik
51 erzeugte Stimmung. Insbesondere die Reden Huelsenbecks (über Péguy) und Balls (über Leybold) wurden in ihrem spöttischen Ton als unangemessen beanstandet. Wenn Ball seine (schon mehrfach zitierte) Totenrede schließt:
Er ist hin. Es muß ihm sehr schwer gefallen sein, wie ich ihn kenne. Aber es ist nichts zu machen. Gedenken Sie seiner! Haben Sie Mitleid! Seien Sie freundlich! Sie alle haben seinen Tod mitverschuldet. Alle, wie Sie auch hier unten sitzen. Möge Ihnen sein Name einfallen, wenn Sie Ihre Kinder säugen! Ich habe dem nichts hinzuzufügen. (Leybold S.36)
und sich darauf, wie ein Rezensent peinlich
berührt bemerkt, leichtes Kichern regt52, so hat Ball nicht nur auf die wohl einzig mögliche Art über Leybold gesprochen53, er hat zugleich dem Literarischen Manifest
entsprochen, das am Ende der Veranstaltung als Flugblatt ausgegeben werden sollte54. Ganz im Sinn Leybolds (Er negierte mein Gesäß. Er reizte mich maßlos.
Leybold S.33) wollten die Literaturstänker
Ball und Huelsenbeck Aufreizen, umwerfen, bluffen, triezen, zu Tode kitzeln, wirr, ohne Zusammenhang
. Der kurze, aber äußerst vielschichtige und widersprüchliche Text ist zwischen Expressionismus, Futurismus und Dadaismus angesiedelt. Das Programm der aktionistischen, vitalistischen Anarchobohèmiens propagiert Expressionismus, Buntheit, Abenteuerlichkeit, Futurismus, Aktivität, Dummheit
, Intensität
, Nüstern
, Askese
, methodischen Fanatismus
, die Partei der Bilderstürmer und jeglicher Radikalisten
, den Stoffwechsel, den Saltomortale, den Vampyrismus und alle Art Mimik
, das Heute
und endet Negationisten wollen wir sein
. Bekämpft werden die Intellektualität
, die Bebuquins
, die gänzlich Arroganten
, Gehirnwesen, Geistlinge, Systemlinge
, Aktionierer und lyrische Tenöre
,
, Programmatiker
und SektenbildnerSchönheit, Kultur, Poesie
, aller Geist, Geschmack, Sozialismus, Altruismus und Synoymismus
, schließlich alle
. Die Widersprüche treten an der Schnittstelle von Expressionismus und Dadaismus auf. Wenn zum einen Expressionismus propagiert wird, zum anderen alle Ismen und Anschauungen befehdet werden oder wenn einerseits ganz im Sinn des Dadaismus Dummheit und Dilettantismus gefordert werden, andererseits aber die Autoren ismen
Parteien und Anschauungen
die geistige Führerschaft übernehmen
wollen, oder wenn schließlich in der gleichen Zeile der Kampf gegen alle Ismen angekündigt wird und der Satz Negationisten wollen wir sein
steht, zeigt sich, daß die Gedanken des Manifests noch nicht ausgereift sind, daß wir noch in einer Prä-Phase sind. Die Zentralbegriffe des Expressionismus – Intensität, Gegenwärtigkeit und Geist – werden übernommen, doch ergeben sich Komplikationen, weil die für den Expressionismus ebenfalls charakteristische Rationalismuskritik hier bereits so weit gefaßt ist, daß es zu teilweisen Überlappungen mit dem positiv besetzten Geist
kommt. Wie wir sehen werden, zieht sich dieser Widerspruch auch durch die Geschichte des Dadaismus55, doch ist dieser Konflikt hier offenbar noch so neu, daß er von den Autoren nicht reflektiert worden ist und darum um so flagranter ist. Die Erklärung für den Expressionismus im Manifest ist mit Vorsicht zu genießen; unter Expressionismus
wird hier ein Sammelbegriff für die jüngste Literatur verstanden, die die Autoren unterstützen; heftig kritisiert dagegen werden einzelne Tendenzen innerhalb des Expressionismus – so ist der Angriff gegen Aktionierer
und Sozialismus
Ausdruck des inzwischen gestörten Verhältnis Balls zu Pfemfert (was ihn im Gegenzug vorübergehend dessen Widersacher Hiller annäherte, der auch auf der Gedächtnisfeier las); Kritik wird auch am Fortschrittsglauben und der Zukunftsorientiertheit des Futurismus geübt, mit dem das Manifest ansonsten viel gemeinsam hat56. Mit der Kritik der Ismen ist auf das Sektierertum innerhalb der Großbewegung des Expressionismus angespielt – was allerdings zu einer Paradoxie führt, die Ball ebenfalls während seiner Dada-Phase noch zu schaffen machen sollte. Nicht nur, daß sich gerade die individualistische Aufspaltung in Gruppen und Grüppchen als generationstypisches Merkmal festhalten läßt, sondern auch die Kritik am Sektierertum in die Gründungsveranstaltung einer neuen Sezession (denn als solche muß die Gedächtnisfeier wohl verstanden werden, und wenn man den Bogen zur exakt ein Jahr später erfolgten Gründung des Cabaret Voltaire spannt, war sie darin ja auch erfolgreich) aufzunehmen, ist ein handfester Selbstwiderspruch, der ebenfalls nicht reflektiert wird im Text; nicht viel anders verhält es sich im Bekenntnis zu einem Programm der Programmlosigkeit, zu einem Negationismus
. Auf dieser Ebene zeigen sich schließlich auch die wichtigsten Unterschiede zum eigentlichen Dadaismus: elementare Grundpositionen des Dadaismus werden dargestellt, doch wurde noch nicht realisiert, daß diese Positionen Auswirkungen auf die Präsentationsweise, auf das Manifest selbst haben müssen; die den neuen Ideen innewohnende Paradoxie, die Tendenz zur Selbstaufhebung57 wurde noch nicht erkannt. Überspitzt könnte man also sagen, das Literarische Manifest
ist ein expressionistisches Manifest, das dadaistische Gedanken vertritt.
Auf dem Weg zur Moderne bzw. in dieser selbst trifft man nicht selten auf das Phänomen, daß sich prominente Mitglieder von Bewegungen und Strömungen, nicht selten sogar deren Initiatoren, von diesen distanzieren – so wie Karl Marx, der sich sicher war, kein Marxist zu sein58. Würde man diese Selbsteinschätzungen in vollem Umfang ernst nehmen, führte dies dazu, daß viele geistesgeschichtliche Strömungen enorm entvölkert würden, so daß ein in bestimmten Kriterien gedachtes Ideal
der Bewegung einer Vielzahl von Einzelindividuen mit mehr oder weniger Berührungspunkten zu diesem Ideal gegenübersteht. Wendet man diesen Mikroskopblick
auf den Dadaismus an, so stellt sich ein ähnlicher Effekt ein – einzelne Künstler driften zum Konstruktivismus, andere zum Surrealismus, die nächsten zur Neuen Sachlichkeit, andere Vertreter einer
Bewegung haben sich befehdet usw. Mag eine solche Sicht der Geistesgeschichte nicht ohne Berechtigung sein, so soll hier doch aus Gründen der Praktikabilität einer eher traditionellen Zuweisung der Künstler der Vorzug eingeräumt werden, die einer gleichzeitigen Vergegenwärtigung der z.T. erheblichen Differenzen nicht im Wege stehen braucht.
Doch wie verhält es sich mit Hugo Ball? Ausgerechnet derjenige, der gewöhnlich als Erfinder
des Dadaismus gesehen wird, stellt offensichtlich ein Sonderfall dar. Seine bald nach den kurzen dadaistischen Gastspielen erfolgte Wendung unterscheidet ihn so deutlich von den anderen Dadaisten, daß seine Zuweisung zu dieser Bewegung ernsthaft in Frage zu stehen scheint. Denn nicht erst 1920, das Jahr seiner Generalbeichte, markiert die Wende zum Katholizismus. Bereits zu Ende der Galerie Dada häufen sich die christlich-mystischen Eintragungen, Aufzeichnungen über Baader59 und Nostradamus finden sich, und bald nach dem endgültigen Rückzug vom Dadaismus studiert er in den Acta Sanctorum
, gleichsam als Erholung. Keine Orientierungsphase ist dazwischen eingeschoben, kein Übergang – dies wirft ein anderes Licht auf den Dadaismus
Balls selbst. Können Tenderenda
, die Lautgedichte, der Auftritt als magischer Bischof
, schließlich der Dadaismus
selbst unter diesem Gesichtspunkt noch als die Blasphemien gesehen werden, für die Ball sie später selbst hielt, oder als Vorstufen der endgültigen Orientierung zur Kirche als Idee wie als Institution? Die Fragestellung muß also lauten: War Balls Dadaismus
ein Übergang von den Blasphemien eines wildgewordenen Expressionismus zur christlichen Orthodoxie? Und wenn dem so ist, unterscheidet sich denn Ball nicht so sehr von den anderen Dadaisten, daß man mehr von einem zufälligen bzw. kontingenten Zusammentreffen oder von einer Lawine, die Ball gewissermaßen durch ein Mißverständnis auslöste, sprechen sollte? Die Einschätzung Schwitters', Ball sei nie Dadaist gewesen, fügt sich in diesen Zusammenhang.
Trotz aller vordergründiger Plausibilität kann dieser erste Erklärungsversuch nicht befriedigen: das nach wie vor blasphemische Potential der Ballschen Dada-Texte darf auf keinen Fall verharmlost werden, unglaubwürdig wirkt auch, den Dadaismus auf ein Mißverständnis zurückzuführen. Ein Versuch, den Dadaismus und Hugo Ball zusammenzudenken, ist natürlich unausweichlich, und er kann nur eine Gestalt haben: daß nämlich diese Wendung zur Religion, sogar zur Orthodoxie, dem Dadaismus nicht so fremd war, wie dies auf den ersten Blick scheinen möchte. Ein genauerer Blick auf den Dadaismus liefert Indizien dafür zuhauf. So etwa las Richard Huelsenbeck im Februar 1915 eine Totenrede auf den christlichen Dichter Charles Péguy; auffällig ist auch das Programm der vierten und letzten Soirée der Galerie Dada, Alte und Neue Kunst
, am 12. und 19.5.1917, in der Jacopone da Todi, Mechthild von Magdeburg, Jakob Böhme und andere religiöse Literatur gelesen wurde60. Die Frage nach den religösen und spirituellen Ansichten Balls zu seiner Dada-Zeit bietet sich somit als Einstieg in das Dada-Kapitel an.
Alles funktioniert, nur der Mensch selber nicht mehr. (FadZ S.84; undatiert zwischen 5.3. und 7.3.1916)
Selten hat Ball seine Zeitkritik so knapp formuliert wie in diesem Eintrag. Die organisierte Maschinenwelt als höchste Errungenschaft und Charakteristik der Zeit ist nicht zu beanstanden, sie arbeitet reibungslos; doch dieses Funktionieren hat den Menschen zerstört. Dem Menschen ist eben das maschinenhafte Funktionieren fremd, es vernichtet das wesentlich Menschliche an ihm. Was also braucht der Mensch zum Gesunden, worin ist er krank?
Hugo Balls wohl wichtigster Aufsatz, die Kandinsky
-Rede in der Galerie Dada vom 7.4.1917, ein hochinteressantes Zeitdokument, faßt die Diagnose in drei Punkten zusammen:
Drei Dinge sind es, die die Kunst unserer Tage bis ins Tiefste erschütterten, ihr ein neues Gesicht verliehen und sie vor einen gewaltigen neuen Aufschwung stellten: Die von der kritischen Philosophie vollzogene Entgötterung der Welt, die Auflösung des Atoms in der Wissenschaft und die Massenschichtung der Bevölkerung im heutigen Europa61.
Was positiv gesehen der Kunst zugute kommt, ist das totale Chaos:
Gott ist tot. Eine Welt brach zusammen. (...) Eine Zeit bricht zusammen. Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären. (...) Der Sinn der Welt schwand. Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Zufall, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. (...) Die Welt wurde monströs, unheimlich, das Vernunfts- und Konventionsverhältnis, der Maßstab schwand. (...) Die Dimensionen wuchsen, die Grenzen fielen. (...) Inmitten von Finsternis, Angst, Sinnlosigkeit hob eine neue Welt voll Ahnungen, Fragen, Deutungen schüchtern ihr riesenhaftes Haupt. (...) Das individuelle Leben starb, die Melodie starb. (...) Maschinen entstanden und traten anstelle der Individuen. (...) Eine Welt abstrakter Dämonen verschlang die Einzeläußerung, verzehrte die individuellen Gesichter in turmhohen Masken, verschlang den Privatausdruck, raubte den Namen der Einzeldinge, zerstörte das Ich und schwenkte Meere von ineinandergestürzten Gefühlen gegeneinander.
Die Entgötterung der Welt bringt also den Verlust von Hierarchie und Sinngebung mit sich; die modernen Naturwissenschaften offenbarten an der verbleibenden, rein physischen Natur eine monströse Gewaltigkeit, die hinter den vertrauten Alltagserfahrungen steht; die Massengesellschaft, rationalistisch organisiert, degradiert das Individuum zum austauschbaren Funktionsträger.
Die Zeitdiagnose in der Kandinsky
-Rede stellt also in dreifacher Hinsicht eine Abwertung des Einzelwesens fest, die auf den ausschließlichen Gebrauch der Ratio als Erkenntnisinstrument zurückzuführen ist. Das unverwechselbare Individuelle hat in dieser Welt der Monstrosität keinen Platz mehr, eine Geisterwelt von Maschinen aus Stahl oder Fleisch ist an seine Stelle getreten.
Zur Rettung des Menschlichen muß als Akt der Notwehr somit eine nichtrationale Erkenntnisweise eingeführt werden, die den Wert des Einzelmenschen zu verstehen hilft. Hugo Ball, von Jugend an vertraut mit der Philosophie des Irrationalismus, hat mit verschiedenen Möglichkeiten experimentiert, die dafür zur Verfügung stehen: er hat die spezifisch menschliche, individuellen Wert verleihende künstlerische Tätigkeit versucht, er hat sich besonders um 1916/17 mit Esoterik befaßt, also mit archaischer Magie und christlicher Mystik, und er hat sich schließlich der orthodoxen, überlieferten Religion zugewandt.
Die Magie besitzt Attribute, die für Ball äußerst anziehend gewesen sind: sie ist dem Rationalismus ebenso entgegengesetzt wie dem Materialismus, und sie ist archaisch, so daß sie deren beider Widerlegung ante festum darstellt. Ball hat die Magie als höchsten Ausdruck der Isolation des Individuums verstanden, was bedeutet, daß dessen natürliche Kontakte zur Umwelt zerstört sind, daß der Magier in sich selbst zurückkehren muß; aber sie ist in paradoxer Weise auch die höchste Einheit mit der Umwelt, da der Magier auf geistige Weise an ihr partizipiert, wozu er deren kontingente Unterscheidungen überwinden muß62. Somit war Ball zweifellos sehr fasziniert von der Idee des Magischen: Magie und Kreuz sind für Ball zwei Alternativen zur Überwindung der Gegenwart, deren anfängliche Verbundenheit sich erst nach und nach löst. Balls Wunsch nach kindlicher Religiosität und sein bis zur Naivität gesteigerter Wunderglaube bezeugen, daß er im Katholizismus eine magisch-archaische Gemeinschaft suchte.
Dies erscheint um so plausibler, falls man den Begriff der Magie zusammennimmt mit dem der Kunst, eine nahe Verwandtschaft, wie sich allein schon erweist, wenn die obigen Kriterien – Antirationalität, Antimaterialität, archaisches Alter, Ausdruck von Isolation und Verbundenheit des Individuums mit der Welt zugleich – auf letztere angewendet werden. Die Vermengung von Kunst, Magie – zeitweise fast Synonyma –, mystischer und orthodoxer Religion zu einem unentwirrbaren, nicht selten widersprüchlichen Gemenge zeigt sich etwa an Balls literarischen Interessen während seiner Dadaphase und an dem legendenumwobenen Auftritt als magischer Bischof
; als Beleg soll hier nur ein weiterer Blick in die Kandinsky
-Rede stehen:
Die stärkste Verwandtschaft haben ihre [der Künstler dieser Zeit] Werke noch mit den Angstmasken der primitiven Urvölker (...). Die Künstler in dieser Zeit sind der Welt gegenüber Asketen ihrer Geistigkeit. (...) Ihre Werke tönen in einer nur erst ihnen bekannten Sprache. (...) Man versteht sie nicht, wenn man an Gott glaubt statt an das Chaos. (...) In Picasso, dem Faun, und in Kandinsky, dem Mönch, hat unsere Zeit ihre stärksten künstlerischen Nenner gefunden. Bei Picasso die Finsternis, das Grauen und die Qual der Zeit, ihre Askese, ihre infernalische Fratze (...).
Kandinsky ist Befreiung, Trost, Erlösung und Beruhigung. Man sollte wallfahren zu seinen Bildern (...). [W]enn man sich die Bilder Kandinskys verkleinert denkt im Format, (...) findet man die Farben und Intensität glasgemalter Heiligenbilder. (...) Dann findet man das rührend einfache, christlich-reine, unberührte (...) Rußland (...). Ist das russische Christentum nicht das stärkste und letzte Bollwerk der Romantik im heutigen Europa?
Damit sind jedoch die Fragen, was für Ball Magie und artverwandte Gegenstände leisten konnten, vor allem auch, was sie nicht leisten konnten, noch nicht erschöpfend geklärt. Ein wichtiger Eintrag in FadZ vom 9.1.1917 (S.140) führt in das Zentrum des Problems.
Die Selbstbehauptung legt die Kunst der Selbstverwandlung nahe. Der Isolierte sucht sich zu behaupten unter den ungünstigsten Bedingungen; er muß sich unangreifbar machen. Die Magie ist die letzte Zuflucht der individuellen Selbstbehauptung, vielleicht des Individualismus überhaupt.
Ähnlich:
Die letzte Konsequenz des Individualismus ist die Magie, sei sie schwarz, weiß oder romantisch-blau. Nach diesem Brevier63 werde ich zurückkehren zu meinemPhantastischen Roman, in dem ich eine magischanarchische Welt, eine gesetzlose und darum verzauberte Welt bis zur Absurdität zu entfalten suche. DieNaturringsum gemessen und für grotesk erfunden. (FadZ S.145; undatiert zwischen 28.2. und 5.3.1917)
Magie wird also zuerst einmal verstanden als die Kunst, sich selbst zu verwandeln, um dadurch unangreifbar zu werden; sie erfüllt also für das isolierte Ich eine wichtige Schutzfunktion. Damit ist ein interessanter Zusammenhang hergestellt zwischen einigen anderen Einträgen:
Es gilt, unangreifbare Sätze zu schreiben. Sätze, die jeglicher Ironie standhalten. (FadZ S.42; undatiert zw. 8. und 14.7.1915)
Man muß sich vielleicht nur jeder Kritik unterwerfen, und immer wieder unterwerfen, bis auch die letzte verstummt. (FadZ S.127, 7.11.1916)64
Es ist ein Irrtum, an meine Anwesenheit zu glauben. (...) Alle Mühe habe ich, mir selber eine reale Existenz vorzutäuschen. Verkauft mir ein Kommis ein Paar Hosenträger, so lächelt er süffisant und auf unmißverständliche Weise. Mein schüchterner Tonfall, mein zögerndes Auftreten haben ihm längst verraten, daß ich einKünstler, ein Idealist, eine Luftfigur bin. (...) Darum vermeide ich auch, mich sehen zu lassen. (FadZ S.44; undatiert zwischen 31.8. und 15.9.1915)
Abgesehen von all den psychologischen Fragestellungen, die sich hier ergeben, verweist die Zusammenstellung dieser Einträge auf eine (schon oben angesprochene) bemerkenswerte Paradoxie. Der Künstler als Idealtypus des Individuums, Schöpfer der magisch erfüllten Vokabel
(FadZ S.102; 18.6.1916), magischer Bischof
(FadZ S.106; 23.6.1916) und magischer Eklektizist
(FadZ S.160, 7.5.1917; auch S.163, 14.5.1917) ist als Person kaum noch präsent; sein scheinbar direkter, unverstellter Zugang zur Natur offenbart sich als verzweifelte Notlösung, als Rückzug65, Ausdruck seiner Isolation; eine Isolation, die das Individuum, wo es in seiner Vollendung erscheint, zu zerbrechen, genauer: aufzulösen scheint. Das Individuum erreicht also seine höchste Vollendung, indem es zugleich verschwindet, und den innigsten möglichen Kontakt mit der Natur aus Notwehr und Verzweiflung. Die Magie als Schlüsselbegriff in Balls Dadaphase faßt also den Widerspruch zwischen Aktivität und Passivität66, zwischen defensiver und offensiver Haltung der neuen Zeit gegenüber, zwischen Modernität und Primitivismus in eins; sie weist aber zugleich voraus auf seine weitere Entwicklung:
Die Konsequenz der vita contemplativa ist eine magische Verbundenheit mit den Dingen, und im weiteren Verlauf der Askese, als eine bewußte Methodik der Vereinfachung und Beruhigung in Sprache und Bild.
Die vita contemplativa widerstreitet dem abstrakten Denken (FadZ S.153; 11.4.1917).
Oder anschließend an ein Baader-Zitat, in dem Paracelsus und Böhme gegen die moderne, kantianische Philosophie ausgespielt werden:
Der Spiritus phantasticus, der Bildergeist, gehört also zur Naturphilosophie. Die Metapher, die Imagination, und die Magie selbst, wo sie nicht auf Offenbarung und Tradition gegründet sind, verkürzen und garantieren nur die Wege zum Nichts; sie sind Blendwerk und Diabolik. Vielleicht ist die ganze assoziative Kunst, mit der wir die Zeit zu fangen und zu fesseln glauben, ein Selbstbetrug (...) eine rein bildnerische Antithese zur Natur und zum Geschehen ringsum ist nicht aufrechtzuerhalten. (FadZ S.161f; 11.5.1917)
Der Weg der Vereinfachung und Beruhigung
führt also von Kontemplation67 über Magie zur Askese, wie das erste Zitat zeigt. Die introvertierte Kontemplation als Aspekt der Isolation des Individuums steht ihrem Pendant, der magischen Verbundenheit
, gegenüber – doch ist dies nicht der Endpunkt. Die Vereinfachung der Subjekt-Objekt-Beziehung kann durch die Askese noch weiter gesteigert werden. Dies kann nur so gemeint sein, daß der Magie, der rational nicht erklärbaren Anverwandlung von Subjekt und Objekt aneinander, die Hinwegsetzung des Subjekts über die Dingwelt überhaupt erfolgt. Das zweite Zitat bestätigt diese Vermutung, indem es der Magie an sich plötzlich einen sehr untergeordneten Rang zuweist, der bereits in die spätere Mißbilligung überleitet.
Die Kritik der Magie als zu nichts führend kommt allerdings nicht ganz unvermutet. Heißt es in dem letzten Eintrag in FadZ (S.164f; 19.5.1917), der sich mit dem einst hochgeschätzten Kandinsky beschäftigt Kandinskys dekorative Kurven -: sind sie vielleicht nur gemalte Teppiche (auf denen man sitzen sollte, und wir hängen sie an die Wand)?
, so konnte Ball den Gedanken der Minderwertigkeit der Magie (bzw. des ähnlichen Begriffs der Intuition) verwundert erstmals zur Kenntnis nehmen, wenn er in einem Buch über Shiwa las Intuition, Hören, Riechen, Sehen, Schmecken, Fühlen: das sind die sechs satvamhaften Widerwärtigkeiten (also auch die Intuition)
(FadZ S.40; 3.7.1915). Die Magie, zwar der besseren
Natur (FadZ S.145, oben zitiert), aber eben doch nur der Natur zugehörig, ist also zunehmend nur noch Mittel für einen übergeordneten Zweck; das künstlerische Schaffen hat letztlich keinen Sinn in sich – das meinte Hugo Ball, als er schrieb, daß eine rein bildnerische Antithese zur Natur und zum Geschehen ringsum
nicht aufrechtzuerhalten sei.
Wir befinden uns bereits in jenem Bereich, in dem die Umstrittenheit Balls ansetzt. Wurden schon seine magischen
Neigungen als Vergewaltigung der Objekte durch das Subjekt kritisiert (so Stein und im Anschluß an ihn Philipp), so trifft seine radikale Zurückstufung der Natur (im umfassenden, philosophischen Wortsinn) auf noch schärfere Ablehnung. Ball verstand seine Gegenwart als Krise, als Chaos, als Prüfung, und das bedeutet, er suchte Auswege aus dieser Zeit, wobei er sich am Archaischen orientierte – und zwar weit konsequenter (was keine Wertung ist!) als seine Mit-Dadaisten, bei denen entsprechende Tendenzen68 lange übersehen worden sind. Der Weg, den er letztlich ging, die Radikalität und die persönliche Opfer nicht scheuende Konsequenz, mit der er suchte, scheinen eine nicht-wertende Auseinandersetzung enorm zu erschweren69: wo Ball geschätzt wird, spricht man ihn in der Regel gleich heilig (besonders in der älteren, katholisch geprägten Literatur – Ball-Hennings, Egger, z.T. auch Steinbrenner), wer anderer Ansicht ist, verurteilt aufgrund dieser Entscheidung Balls Werdegang gänzlich (tendenziell bei Stein, Philipp); typisch ist jedoch die Wertschätzung der Entwicklung bis 1917 und die Kritik bzw. Mißachtung der späteren Jahre (z.B. bei Steinke, Mann). Die Dadaphase als krisenhafter Übergang von Kunst, Magie, Mystik und Orthodoxie ineinander, als der Punkt, an dem die Weichen für die spätere Entwicklung gestellt wurden, ist der Ort, an dem einige der typischen Kritikpunkte an Hugo Ball untersucht werden sollen.
Philipp (v.a. S.143-146 und 187-197) versteht Balls Flucht aus der Zeit
als eine Art Rückzug vor der Leblosigkeit der Abstrakta und dem Verfall der Konkreta in einen verabsolutierten Privatkosmos, in eine Privattheologie. So sieht er z.B. die Lautgedichte unter dem Gesichtspunkt der Aufgabe der Kommunikationsfähigkeit der Sprache, einer subjektiven Willkür, als Preis für deren vorgebliche Läuterung70. Als Beleg dafür zieht er interessanterweise den Kandinsky
-Vortrag heran, in dem Ball ausführt, wie der moderne Künstler, um sich in der von allen Seiten ins Unermeßliche verzerrten Wahnsinnswelt (s. oben) zu behaupten, nach einer neuen, gleichsam überrationalen, göttlichen
Sprache sucht, auch wenn diese keine Verständigung herstellen kann. Der griffige, oft vorgetragene Vorwurf der Flucht (biographisch manifestiert durch die Tessiner Schrebergartenidylle), an dessen Entstehung Ball selbst schuld ist (Buchtitel Flucht aus der Zeit
), der freilich auch nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, ist schnell zur Hand; doch wäre etwas mehr Umsicht angebracht. Denn warum trifft der Vorwurf der Flucht Ball und nicht Kandinsky, auf den er sich bezieht, und auch nicht all die anderen expressionistischen71 und dadaistischen Autoren, die nach einer Läuterung des Ausdrucks, einer postrationalen Kommunikationsform strebten?
Mehr noch: es ist richtig, daß Balls Rückzug in den für unkorrumpiert gehaltenen Bereich des Subjekts etwas Fluchtartiges72 anhaftet: doch führt dies nicht zu Unverbindlichkeit, handelt es sich dabei nicht um eine Spielwiese (in diesem Fall wäre die Beschäftigung mit Ball allenfalls von pathologischem Interesse). Der Rückgriff auf das Innere des Subjekts ist kein Selbstzweck, sie war auch verbunden mit der Hoffnung auf ein neues Erkenntnispotential. Die Preisgabe der Kommunikationsfähigkeit wurde nicht aufgefaßt als endgültig und absolut, vielmehr sollte die überrationale, inspirierte Sprache die alte auf einem höheren Niveau ablösen, indem sie auf magische Weise den direkten Weg über das Wesen statt über die Oberfläche der Dinge ging – daß dies natürlich eine Utopie war, ändert nichts an der Einschätzung für sich. Analog zu dem Ball wohlvertrauten Gedanken, Anarchie nicht als Chaos, sondern als die Möglichkeit der Entfaltung der Eigenstruktur der Dinge nach Wegfall der Heteronomien zu sehen, sollte die subjektive Willkür in Sprache, Kunst und Weltanschauung die immanente Organisation der Welt freisetzen. Der Rückzug ins Innere sollte das inkorrupte Bild
erscheinen lassen (FadZ S.165; 19.5.1917), und die Paradoxie, daß dieses Bild als solches nicht mehr kenntlich, das Wort nicht mehr referentialisierbar ist, ist uns mittlerweile vertraut. Das Ziel war vage, wies aber doch über eine Flucht in die Subjektivität hinaus.
Dada ist eine neue Kunstrichtung. Das kann man daran erkennen, daß bisher niemand etwas davon wußte und morgen ganz Zürich davon reden wird. Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach73.
Mit diesen lakonischen Sätzen beginnt Das erste dadaistische Manifest
, verlesen im Cabaret Voltaire am 14. Juli 191674. Schon der erste Satz wirkt an dieser Stelle verwunderlich – keine schwungvolle Zertrümmerung konkurrierender Kunst-Ismen, keine selbstsichere Zurschaustellung der revolutionären Errungenschaften und des menschheitsverbessernden Programms, sondern eine schlichte Setzung ohne jede Erklärung: in der Tat furchtbar einfach
. Der zweite Satz signalisiert denn auch den Grund für das fehlende Programm: eine neue Kunstrichtung erkennt man nicht etwa an Werken oder Programmen, sondern daran, daß man davon spricht. Um davon zu sprechen, genügt jedoch das Wort: Nur ein Wort und das Wort als Bewegung
, und da dieses Wort noch dazu aus dem Lexikon stammt, kann von origineller künstlerischer Kreativität keine Rede mehr sein. Diese angebliche Simplizität rechtfertigt sich Wenn man eine Kunstrichtung daraus macht, muß das bedeuten, man will Komplikationen wegnehmen.
– erneut ein Verweis auf die Nivellierung des individuell Künstlerischen im übergestülpten Ismus
75. So offenbart sich das tatsächlich erste Dada-Manifest als kaum verhüllte Absage an die Freunde
(FadZ S.109), und es verwundert nicht, daß es Balls einziges Dada-Manifest blieb: Nur zwei Wochen später reiste er ins Tessin. Zu einem Zeitpunkt, da er innerlich mit den Freunde[n] und Auchdichter[n], allerwerteste, Manufakturisten und Evangelisten Dada Tzara, Dada Huelsenbeck
gebrochen hatte76, kritisiert er aus einer schon distanzierten Haltung die bohèmehafte Simplizität, aus dem Nichts einen neuen Ismus
auszurufen und sich auf triviale Weise ins Gespräch zu bringen, indem man dem nachrennt, was eben en vogue ist. Inhalte spielen dabei keine Rolle:
Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man Dada sagt. Wie wird man berühmt? Indem man Dada sagt. Mit edlem Gestus und mit feinem Anstand. Bis zum Irrsinn. Bis zur Bewußtlosigkeit. Wie kann man alles Journalige, Aalige, alles Nette und Adrette, Bornierte, Vermoralisierte, Europäisierte, Enervierte, abtun? Indem man Dada sagt. Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou. Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.
BürgerlichkeitDadas
Bezeichnenderweise ist die Charakterisierung Dadas in diesem sprachlichen Amoklauf nicht unzutreffend. Mit feinem Anstand
ist ein ironischer Verweis auf die Bürgerlichkeit der Bewegung, die sich in der Diskrepanz von Kunstidealen und Lebenspraxis äußert; sie steht in unvermitteltem Widerspruch zu den Idealen der Bewegung selbst, die in die Begriffe Bewußtlosigkeit
und Irrsinn
gefaßt sind, irrationale, dionysische Entgrenzung also. Die ironische Schlußfolgerung ist, daß zur Befreiung von den Übeln der bourgeoisen Kultur das bloße Dada
-Sagen genügt. Zieht man etwa die Feststellung des in der Einleitung referierten Aufsatzes von Sanouillet heran, Dada sei ein bedeutungsloses Wort, das zum Platzhalter für alles werden konnte, gerade auch für Begriffe von religiöser Wertigkeit, so erklärt sich daraus die willkürlich anmutende Paradoxie der Füllungen dieses Platzhalters; wenn Ball so Dada mit Hegels Weltseele gleichsetzt, ergibt sich daraus eine Komplexität von Implikationen, welche 1. die Dignität Dadas hervorhebt; 2. die die Welt koordinierenden Prinzipien der Primitivität und Infantilität bezichtigt77; 3. das Platzhalterwesen
Dadas reflektiert, da auch die Weltseele die verschiedensten Gesichter annimmt; 4. Dada als adäquaten Ausdruck der Zeit markiert, als die Station, auf der die Weltseele nun angekommen ist; und 5. damit den kritischen Aspekt des modischen en-vogue-Seins verbindet (Ball war ein Gegner Hegels). Solche Äußerungen auf der einen Seite, solche auf der anderen wie Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt
78 – zugleich ein superlativisches Lob und eine kommerzielle Trivialisierung – offenbaren die komplexe Ambivalenz von Dada selbst ebenso wie von Balls Verhältnis dazu. Balls Haltung zum Dadaismus spiegelt sich wieder in seiner Auseinandersetzung mit Tristan Tzara. Am 15.9.1916 schreibt er ihm aus Ascona:
Ich habe ein anderes System, jetzt. Ich will es anders machen. Ich bin noch viel mißtrauischer geworden. Ich erkläre hiermit, daß aller Expressionismus, Dadaismus und andere Mismen schlimmste Bourgeoisie sind. Alles Bourgeoisie, alles Bourgeoisie. Übel, übel, übel.
Die Auseinandersetzung dreht sich also um die Frage, ob Dada als Ismus
gesehen werden sollte, wie es Tzara wünschte. Diese Position fand Balls entschiedene Ablehnung von Anfang an:
Man plant eineGesellschaft Voltaireund eine internationale Ausstellung. (...) H.[uelsenbeck] spricht gegenOrganisierung; man habe genug davon. Ich bin ganz seiner Meinung. Man soll aus einer Laune nicht eine Kunstrichtung machen. (FadZ S.91; 11.4. 1916)
Wer hier mit man
gemeint ist, läßt sich unschwer erraten – eine Woche später, als Ball zum ersten Mal das Wort Dada gebraucht, heißt es Tzara quält wegen der Zeitschrift
(FadZ S.95). Damit ist der hauptsächliche Gegenstand von Balls dadaistischer Dada-Kritik festzuhalten: die von ihm als bürgerlich empfundene Organisierung und Erstarrung. Diese Bürgerlichkeit macht Ball auch in anderen Zusammenhängen aus:
Als Huelsenbeck seine Umbas gestern kräftig wieder intonierte, mußte ich unwiderstehlich an Freiligrath denken. Von Seekühen und Affen schreiben, während man in aller Gemütsruhe den Stiefelzieher eines chambre garni benützt, dieses kann nicht richtig sein. (...) Rimbaud ist wirklich geflüchtet (...) Wir andern dagegen schwärmen für den Wüstenkönig und sind sanftlebige Tartarins. (FadZ S.92; 13.4.1916)
Ähnlich, aber noch kritischer stand Ball in dieser Hinsicht auch Tzara gegenüber. So schreibt er wenige Tage, nachdem er dessen Bekanntschaft gemacht hatte:
Wenn er mit einer verzärtelten Melancholie sagt:Adieu ma mère, adieu mon père, fallen die Silben so rührend entschlossen, daß alle in ihn verliebt sind. Er steht dann auf dem kleinen Podium kräftig und hilflos, wohl bewehrt mit einem schwarzen Kneifer, und man überzeugt sich leicht, daß ihm Kuchen und Speck von Vater und Mutter nicht übel angeschlagen haben. (FadZ S.81; 28.2.1916).
Die Diskrepanz zu der üblichen Dada-Rezeption ebenso wie zur revolutionären Selbstdarstellung Tzaras fallen sofort ins Auge. Durchaus selbstkritisch verurteilt Ball hier den Widerspruch von künstlerischer Forderung und eigener Lebenspraxis, wie er sich auch in dem am Ende von Balls erster Dadaphase entstandenen Manifest ausdrückt; nicht ohne eine gewisse Berechtigung nennt er diese Haltung bürgerlich
. Gerade für Ball mußte dies ein scharfer Vorwurf sein (nicht umsonst wirkt das Attribut bürgerlich
im Zusammenhang mit dem Dadaismus zuerst befremdlich), ist bei ihm doch zeitlebens das Bemühen zu verfolgen, der durch Belanglosigkeit erkauften Gemütlichkeit und Absicherung (in welcher Form auch immer) ein Ende zu bereiten und statt dessen Anschauungen und Lebenspraxis ohne Rücksicht auf persönliche Opfer zur Kongruenz zu bringen79. Ein wesentliches Motiv für die Gründung des Cabarets war zweifellos der Versuch dieser Überbrückung; als sich herausstellte, daß es in dieser Hinsicht versagte, ging Ball allmählich auf Distanz:
Es ist mir daran gelegen, das Kabarett zu behaupten und es dann aufzugeben. (FadZ S.95; 21.4.1916).
Es waren Japaner und Türken da, die recht verwundert dem Treiben zusahen. Ich empfand zum ersten Mal mit Beschämung den Lärm unserer Sache, das Durcheinander der Stilarten und der Gesinnung, Dinge, die ich physisch schon seit Wochen nicht mehr ertrage80. (FadZ S.98; 3.6.1916).
Die Überwindung des Bürgerlichen scheitert, Ball empfindet Erschöpfung und Ekel vor seinem eigenen Tun. Die Hoffnungen, die er in den Dadaismus gesetzt hatte ebenso wie die Enttäuschungen sind eng mit dem Begriff der Kindlichkeit verknüpft.
Stand Balls Tätigkeit im Cabaret von Anfang an unter dem Zeichen von heiterer Lebendigkeit81 und paradoxer Phantastik82, die besonders durch die Aggressivität Huelsenbecks eine instinktive, primitivistische Färbung erhielt83, so faßte Ball diese respektlose, antiautoritäre Haltung in dem Begriff der Torheit
und der Kindlichkeit
zusammen:
Unser Kabarett ist eine Geste. Jedes Wort, das hier gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das eine, daß es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen. Was wäre auch respektabel und imponierend an ihr? Ihre Kanonen? (...) Ihr Idealismus? (...) Die grandiosen Schlachtfeste und kannibalischen Heldentaten? Unsere freiwillige Torheit, unsere Begeisterung für die Illusion wird sie zunichte machen. (FadZ S.92; 14.4.1916).
Für Deutsche ist es [Dada] ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen. (FadZ S.95; undatiert zwischen 18. und 21.4.1916)
Annemarie [Emmy Hennings' 10jährige Tochter] durfte uns zur Soirée begleiten. (...) DasKrippenspiel(Concert bruitiste, den Evangelientext begleitend), wirkte in seiner leisen Schlichtheit überraschend und zart. Die Ironien hatten die Luft gereinigt. Niemand wagte zu lachen. (...) Wir begrüßten das Kind, in der Kunst und im Leben. (FadZ S.97; 3.6.1916).
Und schließlich:
Es gibt eine gnostische Sekte, deren Adepten vom Bilde der Kindheit Jesu derart benommen waren, daß sie sich quäkend in eine Wiege legten und von den Frauen sich säugen und wickeln ließen. Die Dadaisten sind ähnliche Wickelkinder einer neuen Zeit. (FadZ S.100; undatiert zwischen 13. und 15.6.1916).
Insbesondere die letzten beiden Einträge machen deutlich, welche Qualitäten die Kindlichkeit für Ball besaß. 1. Die unverfälschte Naivität war einerseits dazu geeignet, die komplizierten, vernünftigen
Irrwege als organisierten Wahnsinn zu desavouieren, dem das Kind
keine positiven Qualitäten abgewinnen kann; 2. ist an die zeugungsfrohe Verbundenheit mit dem Kinderwagen
in doppelter Hinsicht zu denken, nämlich zum einen an die frische Geschaffenheit des Kindes selbst, die auf die Jugend der Bewegung verweist, und vor allem an seine natürliche, unverstellte Kreativität, wie sie etwa Nietzsche in seinen Drei Verwandlungen
betont; 3. aber drängten sich immer stärker religiöse Implikationen in den Vordergrund – nicht, weil sie, wie man vielfach meint, für Ball nach seiner Dadaphase neu gewesen wären, sondern weil alleine die Subsumierung der anderen Qualitäten unter die religiöse die Dignität des Kindlichen wahren konnte, die durch die Nachteile (siehe unten) gefährdet war. Das kulturkritische und das kreative Potential der Infantilität formieren die Stützen für die Idee der ewigen Erneuerung des Menschen, die Ball durch das Christentum gewährt sah, symbolisiert in dem Zentralkult der Kommunion84. Doch die Problematik der Kindlichkeit zeigt sich schon im Sprachlichen beim Vergleich von kindlich
und kindisch
. Mag man bereits aus der Äußerung über Sade, er sei völlig hemmungslos und infantil
(FadZ S.104; 22.6.1916) gewesen, einen kritischen Unterton heraushören85, so führt Ball die Auseinandersetzung mit dem Problem der Infantilität erst post festum im Tessiner Exil
.
Über die Insassen der Irrenhäuser denke ich heute anders als vor zehn Jahren. Die neuen Theorien, die wir aufstellten, streifen in ihrer Konsequenz bedenklich diese Sphäre. Die Kindlichkeit, die ich meine, grenzt an das Infantile, an die Demenz, an die Paranoia. Sie kommt aus dem Glauben an eine Ur-Erinnerung, an eine bis zur Unkenntlichkeit verdrängte und verschüttete Welt, die in der Kunst durch den hemmungslosen Enthusiasmus, im Irrenhaus aber durch eine Erkrankung befreit wird. Die Revolutionäre, die ich meine, sind eher dort, als in der heutigen mechanisierten Literatur und Politik zu suchen. Im unbedacht Infantilen, im Irrsinn, wo die Hemmungen zerstört sind, treten die von der Logik und vom Apparatus unberührten, unerreichten Ur-Schichten hervor, eine Welt mit eigenen Gesetzen und eigener Figur, die neue Rätsel und neue Aufgaben stellt, ebenso wie ein neuentdeckter Weltteil. Im Menschen selbst liegen die Hebel, diese unsere verbrauchte Welt aus den Angeln zu heben. (FadZ S.110; 8.8.1916).
Ein seltsam ambivalenter Text. Das bei Ball stets positiv konnotierte Ursprüngliche (versehen mit den Attributen unberührt
und unerreicht
) wird zur Ausgangsbasis für die revolutionäre Veränderung der Weltordnung, was ein bei Ball immer wieder auftretender Gedanke ist; der Begriff der Revolution ist ebenfalls klar positiv besetzt. Befreiung
steht hier gegen Mechanisierung
(für Ball das rationalistische Scheinleben der toten Materie), die Ur-Schichten
, die Ur-Erinnerung
an die verdrängte und verschüttete Welt
gegen Logik
und Apparatus
.
Doch gerade im ersten Teil des Textes finden sich Indizien, daß Ball mit dieser Hemmungslosigkeit
86 nicht ganz wohl gewesen sein mag. Denn warum sollte es sonst bedenklich
(statt einfach konsequent) sein, daß sich die dadaistischen Theorien in der Nähe der Geisteskrankheiten bewegen87? Und auch die Steigerung, daß die von Ball gemeinte Kindlichkeit an Infantilität
, Demenz
und Paranoia
grenze, läßt einige Distanz spüren. Sechs Wochen später, als Ball seinen bisherigen Werdegang reflektiert, bezieht er eindeutig Position.
Als Dadaisten forderten wir, daß man den jungen Menschen mit all seinen Vorzügen und Mängeln, mit all seinem Bösen und Guten, mit all seinen zynischen und verzückten Aspekten suchen und vorkehren müsse, unabhängig von jeder Moral, und doch von der einen Moral ausgehend, daß zu der ganze Mensch zu erheben sei (...). Das war ein Irrtum. Ist die natürliche Kindheit und Jugend denn göttlich? Es ist sehr unwahrscheinlich. (FadZ S.116; 22.9.1916).
Es ist der physische Aspekt der Unruhe, der Balls Skepsis88 an ungehemmter Kindlichkeit und seine Sehnsucht nach der Stille des Tessins weckt:
Es ist nur ein Lärm. Ob mit Kanonen oder mit Debatten, das ist ja kein großer Unterschied. (FadZ S.126; undatiert zwischen 2. und 5.11. 1916).
Die Empfindung schmerzhafter Häßlichkeit, die physische und nervliche Überlastung, die Querelen mit Tzara und den anderen, die mit Beunruhigung registrierte Nähe zu Geisteskranken wecken Skepsis und schließlich Widerwillen gegen die zeugungsfrohe Verbundenheit mit dem Kinderwagen
, die, wenn ihr das Attribut göttlicher Dignität abgestritten wird, ihre Existenzberechtigung verliert. Wie sehr die Infantilität damit an Wert einbüßt, zeigt eine Äußerung von Anfang Februar 1917:
Die Farce dieser Zeit, die sich in unseren Nerven spiegelt, hat einen Grad der Infantilität und Gottverlassenheit erreicht, der sich in Worten nicht mehr wiedergeben läßt. (FadZ S.143; undatiert zwischen 6. und 10.2.1917).
Auf diese Weise entfaltet Balls Äußerung vom furchtbar einfachen
Dadaismus seine volle Bedeutung: es ist ein falscher Weg zum göttlichen Kind, das im Menschen verborgen ist. Ball suchte nach wie vor nach der elementaren Simplizität, aber er suchte woanders:
Sie schreiben mir über die neuen Materialien in der Kunst (Papier, Sand, Holz und so). Und ich antworte ihnen, daß ich mich in den taubstummen Kuhhirten verliebt habe und deskriptive, zeichnerische Dinge suche, um mirreale Garantienzu schaffen für meine Gegenwart89. (FadZ S.107; 4.8.1916).
Schließlich kamen auch die donquichotischen
90, tragikomischen Aspekte dadaistischer Infantilität in Mißkredit, da die ihnen eigene Lächerlichkeit nicht zur neugefundenen Religion passen konnte. Der Dadaismus zeigt sich für Ball somit nicht als satanische Negierung von Sinngebung und Religion, wie dies gelegentlich geäußert wurde, sondern als verfehlter Weg zum richtigen Ziel.
Die Kritik ging dabei so weit, daß Ball sich nicht scheute, den Dadaismus mit dem gleichzusetzen, das er am entschiedensten bekämpfte – mit dem Bürgertum, mit der Farce dieser Zeit
und sogar mit dem Militarismus:
Die Besprechung des Herrn Guilbeux91 hat mich sehr interessiert. Er hat sehr recht. DasCabaret Voltaireist nichtsnutzig, schlecht, dekadent, militaristisch, was weiß ich, was noch. Ich möchte so etwas nicht mehr machen. (An Tzara, 27.9.1916, Briefe S.63f)
Anders als die Vorwürfe nichtsnutzig, schlecht, dekadent
ist die Kritik am angeblichen Militarismus des Dadaismus ähnlich überraschend wie dessen Bürgerlichkeit
, läßt sich doch in jeder Literaturgeschichte nachlesen, daß der Dadaismus (im Gegensatz zum Futurismus) gerade in Opposition zum und aus Verzweiflung über den Krieg begründet worden ist. Ball begründet seinen Vorwurf nicht, aber in dem Brief heißt es weiter:
Grazie, Grazie, Grazie, will sagen ziere Erfindung, Bonhommie, Geltenlassen, Schmuck, Schmuck, Schmuck, Wohlbehagen, Gaieté, Plaisanterie, kleinmännische Bouffonerie, voilà mein neues Programm. KeineBlasphemiemehr, keineIronie(das ist schmutzig, gemein) keine Satire mehr (wer hat das Recht dazu?) keineIntelligenzmehr. Nur nicht! Genug davon! Ecrasez! (...) Keine Marinettis mehr, keine Apollinaires mehr (ach, die Fingerfertigkeit!) KeineUeberraschungenmehr (was ist das für eine Perfidie!) Sondern Plausibilitäten. Wirklichkeiten.
Ach das ist viel schwerer, viel abenteuerlicher als das andre. Genau besehen ist jedes Wort einen Kohlkopf wert und das meine ich. Nichts mehr gegen die Bourgeois. Bourgeois sein, ist sehr interessant, sehr schwer ebenfalls. Nichts mehr gegen die Literaten, und zwar deshalb, weil Herr Rubiner keiner ist. (...)
Aber: heilsame Sachen machen, gegen die große deutsche Pest. Keine Gewalt mehr, keine Gewaltsamkeiten. –
Grazie
, ziere Erfindung
, Bonhommie
, Bouffonerie
, Plausibilitäten
und Wirklichkeiten
bilden das neue Programm
im Gegensatz zu Blasphemie, Ironie, Satire, Intelligenz und Ueberraschungen
, verbunden mit den Namen Marinetti und Apollinaire, an die Stelle der Gewaltsamkeiten
sollen – mit französischen Begriffen formulierte – heilsame Sachen
treten.
Sucht man nach den Gemeinsamkeiten, die hinter diesen beiden Begriffsreihen stecken, so wird man diese im Gegensatz kritische Distanz – naiv-natürliche Unmittelbarkeit verorten. So setzt sich die Blasphemie in Gegensatz zu den die Weltordnung stützenden Zentralwerten, die Ironie distanziert sich vom eigenen Ausdruck, während sie ihn noch formuliert, die Satire ist etwa zwischen beiden angesiedelt als künstlerische Form der Kritik; Intelligenz, ein bei Ball als dem Rationalismus zugehöriger Begriff stets potentiell kritisch gesehen, ist ein Erkenntnisvermögen aus der Distanz. Warum aber Ueberraschungen
und Gewaltsamkeiten
? All diese Distanzbegriffe nehmen einen kritischen Abstand von der Tradition, sei es im Bereich von Kunst, Philosophie, Politik oder Religion, und das Ich stellt sich nicht einfach neben die bisher gültigen Maßstäbe, es stellt sich auch (explizit oder nicht) als zur Kritik befugte Instanz über sie. Ball kritisiert nun diese Selbsterhöhung des Ichs als Egozentrismus und Individualismus92 und neigt dazu, die Überhebung des Ichs als Überheblichkeit zu brandmarken, womit, und dies ist der Grundtenor seiner Bohème-Kritik, diese Überheblichkeit als eigentliches Movens der Distanzierung ausgemacht wird: Wer hat das Recht dazu?
. Wenn aber das Ich nicht ohne weiteres das Recht hat, sich in Distanz zur Tradition zu setzen, kann Blasphemie, Ironie, Satire und Intelligenz als Rechtsbruch und damit als Gewalttat gesehen werden.
Der Traditionsverlust hat jedoch noch weitere Folgen. Wo anstelle von unmittelbar einsichtigen Realitäten und verbindlichen Wertsystemen ein Programm der Auflösung, Nihilismus, vertreten wird, ergeben sich bald neue Anforderungen und Zwänge für den Künstler (und damit mittelbar für den Menschen allgemein). Wenn das Alte seine Dignität verliert, wo keine verbindlichen Hierarchien mehr in Geltung sind, entsteht im Rezipienten rasch das Bedürfnis nach immer neuen Reizen, das Überraschungsmoment der Innovation verdeckt die fehlende Sinngebung. Ball spielt mit seiner Kritik der Ueberraschung
auf den raschen Wechsel der Ismen
an und opponiert gegen den verselbständigten Mechanismus, der die Innovation zum Selbstzweck verkommen ließ, die in keinem Zusammenhang mit Ausdruck und Bedeutung, ja sogar im Gegensatz zu ihr steht93: Innovationen werden gewaltsam erzwungen, aber sie geben sich auch selbst immer gewaltsamer, was produktionsästhetischer Reflex dieser Situation ebenso wie rezeptionsästhetischer Zwang ist, da sich das gesucht Neue eben in der Blasphemie
findet, in der möglichst weitgehenden Negation des Bestehenden. Diese Form der Ueberraschung
ist ebenso wie die anmaßende Selbstüberhebung von keinen positiven Ideen mehr getragen, sie ist verselbständigt, künstlich forciert und damit gewalttätig
, oder, was fast dasselbe bedeutet, nihilistisch.
Balls Auseinandersetzung mit dem Nihilismus zeigt einen charakteristischen Bedeutungs- und Wertewandel. Der Begriff taucht zum ersten Mal im Umkreis von Balls intensiver Beschäftigung mit dem Anarchismus auf. Nach dem ersten Eintrag in FadZ, der sich mit dem Anarchismus beschäftigt (Ball reflektiert Leben und Ansichten Kropotkins), heißt es am 25.11.1914:
Die Nihilisten berufen sich auf die Vernunft (ihre eigene nämlich). Aber gerade mit dem Vernunftprinzip muß gebrochen werden, aus Gründen einer höheren Vernunft. Das Wort Nihilist bedeutet übrigens weniger als es besagt. Es bedeutet: auf nichts kann man sich verlassen, mit allem muß man brechen. Es scheint zu bedeuten: nichts darf bestehen bleiben. Sie wollen Schulen, Maschinen, rationelle Wirtschaft, all das, woran es in Rußland noch fehlt, wovon wir aber im Westen bis zum Verhängnis zuviel und im Überfluß haben. (FadZ S.22).
Als nihilistisch begreift Ball hier eine historisch verortbare Position, bei der es sich nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, um das Zentralideologem des Anarchismus handelt (denn diese Theorie setzt einen hohen Grad an Idealismus voraus und ist überhaupt nur mit einem ganz und gar nicht nihilistischen
Glauben an das Gute im Menschen propagierbar), sondern um eine von diesem sehr verschiedene Haltung, die auf Rationalismus und Fortschrittsdenken basiert; nicht der Anarchismus, sondern der Marxismus ist im Umkreis des Nihilismus anzusiedeln94. Rationalistische Destruktion im Zeichen eines abstrakten Fortschritts
, ein Signum des deutschen Wesens95, ist das Prinzip des Nihilismus. Damit ist der Begriff als anachronistisch abqualifiziert:
Der Nihlilismus (...) war der Protest solcher Gruppen, die unter erträglichen materiellen und sozialen Bedingungen lebten, aber unter dem Druck hergebrachter Sitten und Ideen litten. Sie erstrebten die Freiheit des einzelnen und bekämpften alle intellektuellen und moralischen Fesseln. (Von alledem haben wir übergenug. Die Nachahmung könnte nur einen Anachronismus bedeuten. Während man die praktischen Konsequenzen aus unseren veralteten Theorien zieht, rüsten wir schon zur ideologischen Umkehr.) (FadZ S.184; 29.8.1917)96
So wird der Nihilismus in einer zunehmend verhärteten, aber auch reflektierten Position als Teil der deutschen Pest
verstanden. Der Begriff, den sich eine historisch eingrenzbare Position verwirrenderweise angemaßt hat, wird nun, nachdem die ihn tragende Strömung – nämlich die des sozialistischen Materialismus – in einem größeren Zusammenhang abgelehnt und verurteilt ist, wörtlich genommen (auf die Differenz zwischen wörtlicher und tatsächlicher Bedeutung des Begriffs Nihilismus hat Ball ja am 25.11.1914 bereits hingewiesen) und die Kritik der historischen Strömung auf den Begriff selbst übertragen, was man zuerst einmal als Fehlschluß ansehen kann – doch das allein griffe zu kurz. Die Kritik einer Position der Negativität (wie sie etwa das Literarische Manifest
von 1915 noch demonstrativ vertrat) mag aus der Kompromittierung durch den Materialismus, wie sie der historische Nihilismus durch seine Verquickung mit dem Marxismus erfuhr, zusätzliches argumentatives Gewicht erfahren, aber sie bleibt nicht dabei stehen; die unbedingte Negativität wird vielmehr als letzter Rest, genauer gesagt als tiefster Urgrund von Militarismus und Germanophilie begriffen:
Auch habe ich über den Dadaismus, den ich selbst gegründet habe, rasch wieder umgelernt. (...) Wie gesagt: ich habe das [eine Dada-Publikation] unterlassen. Daran waren nicht zum wenigsten die Franzosen schuld und deren Kritik desKabaretts. Sie sagten, ein Deutscher hat's gemacht, um Propaganda für sein Volk zu machen. Er ist ein Blasphemiker, und das bedeutet, er ist ein Dekadent, und diese Dekadenz ist eine Folgeerscheinung des drückenden Militarismus. Da verging mir die Lust. Lieber will ich untersuchen, wie weit sie recht haben. Und Heilmittel suchen gegen besagte Dekadenz. (Briefe, S.66; an August Hofmann, 7.10.1916)97
Die Kritik der aus dem Militarismus erwachsenen Dekadenz, dem umfassenden Verlust positiver Werte, leitet über in die politische und katholische Werkphase; sie, und nicht etwa ein plötzlich erwachtes Interesse an der Politik oder eine neu gefundene Religiosität macht die Zäsur von 1916/17 aus. Statt grundsätzlich gegen
zu sein, wie im Literarischen Manifest
, ist Ball nun der Ansicht, wir hätten von all dem übergenug
und bereitet die ideologische Umkehr vor: die Destruktivität, mit der der Gesellschaft begegnet wurde, hat ihren Sinn verloren, da die andauernde Schärfe des Krieges Balls großsprecherische Äußerung vom 7.8.1914 gründlich widerlegt hatte:
Mir graust vor der Zukunft. Der Krieg ist noch das Einzige, was mich noch reizt. Schade, auch das wird nur eine halbe Sache sein. (Briefe, S.35; an Maria Hildebrand-Ball)
Nachdem erst einmal das destruktive Potential des Krieges (auch am eigenen Leib) erfahren war, sah Ball keinen Sinn mehr darin, weiterhin protestantische
98 Destruktivität zu propagieren und zu praktizieren. Diese Wendung im politischen Bewußtsein fiel zurück auf das ästhetische Programm. Wenn, wie sich Ball allmählich überzeugte, der Krieg nicht nur die Schuld Deutschlands war, sondern auch logische Konsequenz einer Jahrhunderte dauernden Entwicklung, wenn aber diese amoralische Aggressivität, die keineswegs plötzlich losgebrochen war, auf eine individualistische Selbstüberhebung, auf eine von Zivilisations- und Religionsverlust verursachte Hybris des gesamten Volks, auf einen materialistischen Nihilismus also zurückging, dann war für ein neues Wertesystem zu kämpfen. Der Dadaismus läßt sich aus dieser Position heraus als Irrweg begreifen, der gerade in die entgegengesetzte Richtung führt. Es wird in den nächsten Abschnitten zu klären sein, von welcher Seite und in welcher Form Ball sich die deutsche Konversion
vorstellte.
Tenderenda
Tenderenda der Phantast
ist wohl eines der ungewöhnlichsten Bücher der Literaturgeschichte. Der nicht einmal 40 Seiten starke Roman
ist in zahlreiche, unzusammenhängende Einzelkapitel gegliedert – durchsetzt von einigen Gedichten –, die in einem größeren Zeitraum (von Herbst 191499 bis zum 15.7.1920) entstanden sind und somit als poetisches Dokument die entscheidenden Jahre von Hugo Balls Entwicklung begleiten; nach einem eher halbherzigen Versuch Balls, das Werk zu publizieren, erlebte es seine Erstauflage 1967. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Tenderenda
das bedeutendste dichterische Werk seines Autors ist, da es Ball sonst nur in wenigen Gedichten gelungen ist, seine radikalen künstlerischen Ideen zu manifestieren; es wäre zu wünschen, daß die Dadaismus- und Ball-Forscher ihre Aufmerksamkeit von den bis zum Überdruß interpretierten Lautgedichten ab und diesem rätselhaften, ungemein ergiebigen Text zuwenden.
Denn die Literaturwissenschaft hat sich hier bislang nicht eben mit Ruhm bekleckert. Zwar gibt es mittlerweile zwei Monographien über Tenderenda
, gehört ein halbherziger Abschnitt über den Text in jede Hugo-Ball-Studie, doch hinterläßt die Sekundärliteratur meist ein unbefriedigendes Gefühl: Zwischen den Gemeinplätzen, die ein aufmerksamer Leser auch ohne Hilfe herausfindet, und einem Stellenkommentar klafft eine Lücke – die der Text durch seine avantgardistische Schreibweise freilich vorgibt. Von dieser Kritik ist auch die neueste, umfangreichste und gehaltvollste Studie über Tenderenda
von Claudia Rechner-Zimmermann nicht ganz frei: Allzu gern wird das Versagen der Standard-Hermeneutik zum Anlaß genommen, in den noch viel überholteren Positivismus zurückzufallen, der hinter der Maske streng wissenschaftlichen Vorgehens oft kaum weniger phantastisch als der behandelte Text ist und über diesen die eigentlich entscheidenden Aussagen auch nicht treffen kann. Daß andererseits hier nicht der Raum ist, eine vollständige Neuinterpretation zu wagen, versteht sich von selbst.
Ich kann das Büchlein nur mit jenem wohlgefügten magischen Schrein vergleichen, worin die alten Juden den Asmodai eingesperrt glaubten. Immer wieder in all den sieben Jahren habe ich mich zwischen Qualen und Zweifeln mit diesen Wörtern und Sätzen verspielt. Nun ist das Büchlein fertig geworden und ist mir eine liebe Befreiung. All jene Anfälle der Bosheit mögen darin begraben sein, von denen der Hl. Ambrosius sagt:
Procul recedant somnia Et noctium phantasmata Hostemque nostrum comprime ... |
[Mögen die Träume weit zurückweichen Und die Gespenster der Nacht Und wehre Du unserem Widersacher ...] (FadZ S.265; 15.7.1920) |
Die Stelle wirft ein interessantes Licht auf Balls Befindlichkeit, zwei Wochen, nachdem er in Hamburg den Vortrag Abbruch und Wiederaufbau
gehalten hat, mit dem die Forschung den Indifferenzpunkt zwischen seiner politischen und seiner katholischen Phase markiert. Ball versucht, das Böse in ihm selbst zu bekämpfen, ähnlich seiner eineinhalb Jahre später vollzogenen Generalbeichte, doch noch mit den ihm eigenen Mitteln, ohne sich auf eine Autorität zu berufen. Da der Text stilistisch keine erkennbaren Brüche aufweist, muß Ball mit therapeutischer Rechtfertigung bis in die Zeit seiner Rekonversion hinein dadaistische Schreibweisen praktiziert haben. Allein aus der zitierten Stelle könnte geschlossen werden, daß das Buch einen sehr persönlichen Charakter trägt, und in der Tat ist dies nicht nur der Grundkonsens der Sekundärliteratur, sondern auch das, was den Text überhaupt noch zusammenhält. Sei es Machetanz, sei es Lilienstein, Bulbo100, Tenderenda oder Goldkopf, fast in jedem Kapitel
ist eine Seite von Balls Person porträtiert. Zumeist verschlüsselt, dann wieder (mit oft groteskem Effekt) sehr konkret finden sich autobiographische Anspielungen, insbesondere auf den Krieg und den Dadaismus, aber auch etwa auf Balls Flametti
und seine Auseinandersetzung mit Pfemfert, so daß man den Tenderenda
als magische Autobiographie
lesen kann.
Um mehr über den Text sagen zu können, ist eine Probebohrung
notwendig, die stellvertretend für das komplexe Ganze stehen muß. Als exemplarisch wähle ich dafür den Abschnitt Laurentius Tenderenda
, dem der Titel und der besonders starke Bezug auf seinen Autor sowie seine herausgehobene Stellung am Ende des Textes (ihm folgen nur die Zauberformel
Baubo Sbugi Ninga Gloffa
und das Schlußkapitel Herr und Frau Goldkopf
, das offenbar auf Balls Leben im Tessin bezogen ist) den Rang eines primus inter pares verleihen. Wie alle Kapitel des Textes beginnt der Abschnitt mit einer kursiv gesetzten Zusammenfassung
:
Unverblümter Ausbruch oder Expektoration des Titelhelden. Der Autor nennt ihn einen Phantasten, er selbst nennt sich in seiner verstiegenen WeiseKirchenpoet. Auch alsRitter aus Glanzpapierbezeichnet er sich, was auf den donquichotischen Aufzug hinweist, in dem Tenderenda bei Lebzeiten sich zu bewegen liebte. Er gesteht, seiner Fröhlichkeit müde zu sein und erfleht sich den Segen des Himmels. Besonderes Lob verdient die Benediktionsformel, deren heiteres Tongefälle dem himmeltänzlerischen Wesen Tenderendas gerecht wird. Da er Chimären in den Stall bringt, könnte man ihn für einen Exorzisten halten. Die Nachstellungen des Teufels, über die schon der heilige Ambrosius klagt, und deren Abschwörung ein anderer Heiliger als Bedingung nennt für den Eintritt in den Mönchsstand. Ansonsten ist Tenderendas Situation elegisch und massenscheu. Die Wortspiele, Wunder und Abenteuer haben ihn mürbe gemacht. Er sehnt sich nach Frieden, Stille und nach lateinischer Abwesenheit. (S.410)
Die Selbstdistanz, die Ironie sprechen jeder hagiographischen Deutung Balls hohn. Die Grundproblematik dieses Textes wie auch des sich anschließenden Kapitels ist die Ambivalenz zwischen Phantast und Kirchenpoet, die bereits in dem Namen Laurentius Tenderenda101 zum Ausdruck kommt. Der ironisch-auktoriale Gestus des Erzählers gegenüber dem Selbstporträt ist dabei gespickt mit sprachlichen Doppelbödigkeiten und Falltüren. Der unverblümte Ausbruch
verheißt eine besondere Bedeutung des Abschnitts, doch wer dabei mit einer eindeutigen, klaren Sprache rechnet, sieht sich schon im gleichen Satz getäuscht: Expektoration
ist nicht nur ein altertümliches Wort (wie Ball es offenbar geliebt hat) für Aussprache, Herzensergießung, sondern auch der medizinische Ausdruck für Auswurf, Mundschleim – eine typische Ambivalenz von Geist und Grauen, Sinn und Karneval. Tenderenda ist an einem Wendepunkt seines Lebens angekommen, und es ist bemerkenswert, daß von jenseits dieses Wendepunktes über ihn wie von einem Toten (zu Lebzeiten
) gesprochen wird. Der Ritter aus Glanzpapier
102, der donquichotische Mensch
103, der Phantast mag nicht mehr, er ist mürbe
geworden und sehnt sich nach der elegischen
, massenscheuen
lateinischen Abwesenheit
des Klosters. Er bringt seine Chimären
, seine alptraumhaften Phantasien, in den Stall, also zur Ruhe und zugleich nach Hause, und scheint (im Irrealis!) sich somit als Exorzist zu erweisen – in Balls Verständnis somit als Seelenheiler von der Warte der Kirche aus, der allein die Krankheit der Zeit besiegen kann.
Doch die ironische Erzählhaltung, das Reden von einem bereits Toten legt den Finger auf die Bedenklichkeit des Unternehmens. So spricht Tenderenda von sich als Kirchenpoeten, doch wird ihm dieser Anspruch aberkannt; obwohl tot, ist er immer noch im Präsens der Ritter aus Glanzpapier
. Und bei der angepriesenen Benediktionsformel
handelt es sich offenbar um das dem Kapitel folgende Lautgedicht Baubo Sbugi Ninga Gloffa
, besser bekannt als Katzen und Pfauen
. Tenderenda steht somit als Himmelstänzler
da, der nur scheinbar (und ohnehin aus dem Gefühl der Schwäche heraus) eine Orientierung gefunden hat, in Wahrheit bedarf es noch erheblichen himmlischen Beistands
.
Das Kapitel selbst beginnt so:
Mit einem Dröhnen hub es an: Laurentius Tenderenda, der Kirchenpoet, eine Halluzinade in drei Teilen. Laurentius Tenderenda, oder der Tollmätcher der Zwangsläufigkeit. Laurentius Tenderenda, die Wesensessenz der Astralkanonade. Das sollte ein Schabernack sein für delektierbare Zwerchfelle. Aber es ward ein Trauerspiel des gesunden Menschenverstandes und eine Gimpelei für die Modepinsel und Wortflagellanten. (S.410f)
Die Anspielung auf den Dadaismus ist deutlich. Dada tritt erneut als bloße Laune, als donquichotisch-verzweifelte Lustigkeit mit Possenreißerei gegen die Zwangsläufigkeiten
der Zeit104 auf, als Halluzinade
mit bruitistischem Lärm – doch damit machen sich die Akteure nicht nur lächerlich, sie bieten auch eine Basis für die Präsentationssucht derjenigen, die um jeden Preis en vogue sein wollen105; und wenn Ball in diesem Zusammenhang von Wortflagellanten
spricht, so dürften damit nicht (nur?) Dichter wie er selbst gemeint sein, die selbstquälerisch die Reinigung der Sprache betreiben, sondern eher die Verstümmler des Wortes, triebhaft und nicht religiös motiviert – wie ja auch Tenderenda selbst bekennt, ist er von Haus aus
ein Kind der Leidenschaften
(S.412), sein Weg zum Kirchenpoeten führt denn auch nur (ähnlich wie bei Machetanz, der eine vergleichbare Biographie aufweist) über die freilich reinigende Selbstzerstörung durch ein vierzigtägiges Natronbad. Dabei ist noch nicht einmal gesichert, ob ein solches Unternehmen auch sinnvoll ist:
Ich könnte das Pönital rezitieren und das heilige Kreuzzeichen machen. Wem wäre gedient damit? (S.412)
Nach zwei Seiten wild wuchernder Sprache schließt das Kapitel:
Dies ist der Parabasen elfte und letzte. Der Ritter aus Glanzpapier ist seiner Fröhlichkeit müde. Die Orgel hat seinen Abgang gelockert. Die Chimären sind in den Stall gebracht, und der Kirchenvater Origines [sic] sonnt seine Glatze im Abendrot. Ewigen Samen verleihe uns, o Herr, einen guten Cordial Medoc, und das Orchester der dreimal geschnäbelten Wasserpfeifen verstumme einen Augenblick.
Benedicat te Tenderendam, dominus, et custodiat te ab omnibus insidiis diaboli. O Huelsenbeck, o Huelsenbeck, quelle fleur tenez-vous dans le bec? Die Wurzeln begatten einander in den Heiligtümern. Detektive sind unser Hutschmuck, und das gadji beri bimba
verrichten wir als Nachtgebet.
Tenderenda den Kreuzschläger werden sie mich nennen. Auf der Sedia gestatoria werden sie meine Gebeine zeigen. Mit Weihwasser werden sie nach mir spritzen. Vollmönch der Präservation und Filtriertuch der Unsauberkeiten werden sie mich nennen. Eselskönig und Schismatikaster. In nomine patris et filii et spiritus sancti.
Ein Glück nur, daß mir die Pfingstlaune durch gar zu krasse Außenseiter nicht gestört wird. Ein Glück, daß ich gut in Form bleiben kann. Hätte ich ein Notizbuch zur Hand, oder böte sich sonst einen Occasion, so würde ich aufschreiben, was mir mehr einfällt. Die ganze Zeit fällt mir ja ein. Es ist ein großer Einfall und Hinfall, den ich mit hinfälliger Einfalt festhalten möchte. (S.412)
Eine Abschiedsrede wird hier (in Form einer Parabase an das Publikum) gehalten, ein nötiger Abschied, der durch die Kirche nur erleichtert wird (Die Orgel hat seinen Abgang gelockert
), zu dem freilich der Wunsch nach ewigem Samen (d.h. Erneuerung) nicht ganz zu passen scheint – doch ist die Paradoxie des Wunsches nach Erneuerung und nach Ruhe sehr charakteristisch für Balls Verhältnis zur Kirche. Der zweite Absatz weist die für den Tenderenda
insgesamt typische Verquickung von Dadaismus und Religion auf, wenn der Erzähler ein Lautgedicht als Nachtgebet vorschlägt und unvermittelt einen Vers ausgerechnet von Tristan Tzara106 in den Text montiert. Absatz drei des zitierten Textes konzentriert sich auf das ebenfalls höchst zwiespältige Verhältnis zwischen Tenderenda und der Kirche. Als Kreuzschläger
107 – schuld am Tod Jesu oder selbst gekreuzigt –, genießt er höchst zweifelhafte Ehrungen (seine Gebeine werden auf der päpstlichen Sänfte getragen, man spritzt Weihwasser nach ihm, d.h. man heiligt ihn oder treibt ihn als Teufel aus) und Ehrentitel (Eselskönig
), die entfernt an die Verspottung Jesu erinnern. Die Ursache für diese Widersprüche ist offenbar, daß Tenderenda von den schlimmsten Verwerfungen berührt ist, denn er dient als Filter
– wir sehen uns also erneut auf Balls Anspruch der Läuterung verwiesen, den er zuerst an der Sprache und dann an sich selbst einzulösen suchte. Der Schlußabsatz fällt überraschend wieder in die Lebenslust und vitalistische Fröhlichkeit des Ritters aus Glanzpapier zurück. Mit donquichotischen
Wortspielen nimmt der Dichter, dem die ganze Zeit einfällt
, der also ständig Ideen hat (eine Bezugnahme auf die assoziative Schreibweise des Texts) wie auch die Zeit (um-? ver-?)dichtet, Bezug zur Gegenwart: Einfall und Hinfall, Einfalt und Hinfälligkeit ist das groteske Porträt einer grauenhaften Zeit.
Ist Hugo Ball Laurentius Tenderenda? Es wäre höchst leichtsinnig, in einem so komplexen Text einfach Erzähler, Hauptfigur und Autor gleichzusetzen (bekanntlich eine germanistische Todsünde), andererseits ist der Text mehr als üblich ein persönliches Dokument, Ausdruck und Therapieversuch der Befindlichkeiten seines Schöpfers. Man mag die Figuren als groteske Masken Balls sehen oder als überzeichnete Facetten seiner Person, so oder so tragen sie seine Züge, ihre Probleme sind die, die er selbst kannte. Der Text ist Dokument für Balls Konfusion, für die inneren Kämpfe und Spannungen, die die Unterwerfung unter das Kreuz in ihm ausgelöst hat, für den Widerstand, den seine Irrationalität dem Dogma leistete. Ball schrieb im Juli 1915:
Ich beobachte, daß ich meine häßlichen (politisch-rationalistischen) Studien nicht betreiben kann, ohne mich durch gleichzeitige Beschäftigung mit irrationalen Dingen immer wieder zu immunisieren. (FadZ S.40)
Die ursprünglich ebenfalls irrationale Religion, zu der Ball sich hingezogen fühlte, erforderte eine Zähmung seiner Phantastik auf ein orthodoxes Maß. Tenderenda der Phantast
ist Ausdruck des Krieges, den der orthodoxe, vernünftige
Irrationalismus gegen den ungebändigten, hoffnungslosen, donquichotischen führte. Die Deutung der Irrationalität in Dämonie und Triebhaftigkeit degradierte sie, die Uminterpretation der Auseinandersetzung zur notwendigen Therapie versetzte ihr den Todesstoß. Das neue Verständnis dadaistischer Äußerungsformen als Ausdruck und zugleich heilsame Expektoration
der Zeitkrankheit ist die Paradoxie einer sich selbst bekämpfenden, aufhebenden Avantgarde, ein den Dadaismus überwindender Dadaismus. Die Entscheidung war gefallen, der Weg zur Generalbeichte frei, und Ball mühte sich weiter, den in ihm immer wieder aufkeimenden Nonkonformismus zu unterdrücken, ohne vor der Aufgabe seiner eigenen Person halt zu machen.
Flametti: ein Rückblick aus der Distanz
In einer seltsamen Art von Wesensspaltung habe ich heuteFlamettibeendet, einen kleinen Roman von etwa 170 Seiten. Als eine Gelegenheitsschrift, als eine Glosse zum Dadaismus mag er mit diesem verschwinden. (FadZ S.123; 13.10.1916)
Es ist verblüffend, mit welcher Beiläufigkeit Ball hier immerhin von seinem (neben dem Jugenddrama Nero
) umfangreichsten dichterischen Werk spricht, eine Beiläufigkeit, die Ball fälschlich auch seinem
Dadaismus beimaß. Dieses Desinteresse am Roman äußert sich auch darin, daß Ball später von Zur Kritik der deutschen Intelligenz
als seinem Erstling spricht und damit seine früheren Publikationen von 1911 und 1918 (als Flametti oder Der Dandyismus der Armen
bei Reiß in Berlin erscheint) annulliert. Erstaunlich ist ferner, daß Ball seinen Roman als Glosse zum Dadaismus
sieht, eine Verbindung, die sich zumindest nicht gerade aufdrängt. Und sollte schließlich Flametti
tatsächlich als Glosse zum Dadaismus
konzipiert worden sein (was eher unwahrscheinlich ist), muß er in sehr kurzer Zeit entstanden sein, da Ball erst Ende Juli Zürich verlassen hat und seitdem hauptsächlich mit Bakunin-Studien beschäftigt war.
Vordergründig handelt der Roman nicht von Balls Dada-Zeit, sondern vielmehr von der dieser unmittelbar vorausgehenden Zeit beim Maxim-Ensemble (Oktober bis Dezember 1915), einer Varieté-Truppe. In einem keineswegs avantgardistischen Stil – bei wenigen expressionistischen und grotesken Einsprengseln richtet sich der Text im wesentlichen nach dem Paradigma des realistisch-naturalistischen Romans108 – fängt Flametti
die Atmosphäre der Bohème, der Künstler
und der beschädigten Existenzen ein. Die Titelfigur lehnt sich an Ernst Michel, genannt Flamingo, Chef des Ensembles an; auch andere Romanfiguren sind nach der Wirklichkeit gestaltet, Ball selbst tritt dabei als Herr Meyer auf (eine der unscheinbarsten Personen im Text), Emmy Hennings als Soubrette. Die Handlung umspannt Auf- und Abstieg des Ensembles, Kulminationspunkt ist die Premiere eines Apachen-Stückes, in dem Flametti nicht nur einen künstlerischen Erfolg erlebt: die Rolle des trägen, aber dominanten und vitalistischen Häuptling Feuerschein ist dermaßen auf ihn zugeschnitten, daß er sich mit ihr zu identifizieren beginnt.
Probleme mit der Polizei und innere Spannungen im Ensemble zerreiben dieses jedoch nach und nach, der Roman schließt mit der Verurteilung Flamettis wegen sexueller Übergriffe auf eine minderjährige Ensembleangehörige und dem Scheitern der neugegründeten Truppe von Herrn Meyer, was auch eine Parallele zur Realität ist: Ball bildete zur Jahreswende 1915/1916 die kurzlebige Gruppe Arabella
aus Mitgliedern der Maxim-Truppe, bevor er das Cabaret Voltaire gründete (das in seinen ersten Wochen der Tingeltangel-Kleinkunst noch sehr nahestand109).
Es gibt verschiedene Ansätze, den Roman zu verstehen. Der Untertitel sowie das unterdrückte Vorwort legen eine Deutung als Ausdruck der Humanität und der Solidarisierung mit dem Menschenmaterial
und Lumpenproletariat
nahe110. Zieht man diese Linie weiter, könnte sich unter gewissen Einschränkungen eine Art Gesellschaftsroman ergeben (1). Wer das Buch auf seine philosophischen Hintergründe abklopft, wird sehr bald auf die Lebensphilosophie stoßen; die Figuren, insbesondere Flametti selbst, sind ausgesprochen vitalistisch (2). Ein weiterer Interpretationsweg wäre, Flametti
als Künstlerroman zu verstehen (3).
Philipp (S.137) sieht den Text als Gesellschaftsroman: wesentlich sei der Sieg der Ordnung
über den Dandyismus und Vitalismus der Bohème, die durch interne Streitigkeiten ihrem eigenen Zerfall zugearbeitet hat. Balls Entscheidung für den Anarchismus zuungunsten des Marxismus war wesentlich durch die Sympathie des von letzterem abgelehnten Lumpenproletariats
und einer scharfen Kritik an dem Begriff des Menschenmaterials
111 motiviert. Insbesondere während seiner frühen Züricher Zeit nahm Balls Interesse an diesem Thema einigen Aufschwung, nicht nur durch seine Kontakte zum Brupbacher-Kreis, sondern auch, weil er selbst zeitweise bis zu diesem Lumpenproletariat
herabgesunken war; ein gesellschaftlicher Abstieg, den Ball mitunter anzustreben schien (als eine Art Buße und Läuterung112). Somit wäre der Text als eine Art Gesellschaftsroman aufzufassen, da er nur vor diesem Hintergrund zu denken sei.
Ich halte diese Interpretation nun nicht eben für falsch, aber sie verfehlt das Wesentliche. Die Gesellschaft
ist im Text kein Thema, sie ist marginal und funktional, nicht Ziel der Darstellung; sie ist die Folie, die Norm, die ganz selbstverständlich gegen den Wilden
steht, ohne daß nach irgendwelchen Hintergründen gefragt würde. Die Künstler sind geborene outcasts, Gezeichnete, ihr Nonkonformismus ist für sie ein Schicksal, an dem nichts zu ändern ist und für das keine Schuldigen ausgemacht werden können. Eher schon könnte man Flametti
als Roman der Anti-Gesellschaft der Bohème sehen, zumal die inneren Spannungen weit mehr thematisiert werden als die äußeren Repressalien; doch meine ich, daß die geistigen Hintergründe die eigentlich sozialen Entwicklungen dominieren. Ein mehr soziales Interesse hätte unweigerlich eine stärkere Akzentuierung der ökonomischen Seite nach sich ziehen müssen113, was dem Antimaterialisten Ball letztlich fremd blieb.
Die zentrale Frage nach den Ursachen des Niedergangs des Ensembles kann viel besser auf die Problematik des Vitalismus und der Künstlerexistenz allgemein zurückgeführt werden, natürlich ohne daß deswegen soziale Aspekte völlig ausgeblendet sind. Der Vitalismus weist eine gewisse Affinität zu den untersten, nicht bürgerlichen Schichten auf, doch hat er letztlich kein Interesse an gesellschaftlichen Fragen; zentrales Merkmal eines Menschen ist seine Lebenspotenz, in der die im täglichen Überlebenskampf verstrickten, weniger dekadenten
Außenseiter im Vorteil sind. Faßt man Flametti
als philosophische Frage nach den Problemen und dem Scheitern der vitalistischen Lebenseinstellung, so ergeben sich zwei interessante Implikationen.
Vitalismusund
Lebenspotenzsprechen, so könnte man dies für die darwinistische Eigenschaft halten, auch unter widrigsten Umständen zu überleben, sich immer wieder aus eigenen Kräften aufzurappeln. Flametti, zweifellos die
vitalistischsteGestalt, von einer Präsenz, wie sie an Balls Aufzeichnungen über Wedekind erinnert114, ist diejenige, deren tragisch wirkender Sturz gerade Thema des Romans ist. Überhaupt ist Flametti kein tollkühner Draufgänger, sondern eine recht passive Gestalt. Seine volle Wirkung entfaltet er erst als Künstler, auf der Bühne, während er im
wirklichen Lebenallmählich die Kontrolle über sein Ensemble verliert und letztlich hilflos gegen die Schikanen der Polizei ist. Das herausragende Individuum hat also gegen die Gemeinheit im doppelten Wortsinn keine Chance, Anpassung oder tragischer Heroismus ist die Alternative, da der Einzelne nicht gegen die Masse gewinnen kann. Anhand dieser Gedanken im Sinn Nietzsches zeigt sich übrigens, daß Ball zwar eine gesellschaftliche Hierarchisierung ablehnt, daß ihm aber andererseits elitäre Vorstellungen keineswegs fremd waren. Nur in der besseren Welt der Kunst kann das große Individuum seine vollen Möglichkeiten ausschöpfen – auch darin ist Ball mit Nietzsche konform. Die vitalistische Potenz eines Menschen äußert sich also weder durch besondere Aktivität noch durch ungewöhnliche Überlebensfähigkeit, sondern sie hat mit Lebensbejahung und künstlerisch-magischer, schöpferischer und natürlich auch sexueller Kraft zu tun, wie sie sich vorwiegend bei den
ramponierten Personnagenfindet.
Ich weiß jetzt, wie es hier unten aussieht, und finde die sozialistischen Theorien, soweit sie mit einem Enthusiasmus der Massen rechnen, reichlich romantisch und abgeschmackt. Die derlei Theorien erdachten und davon zehrten, mögen warmherzige Volksfreunde gewesen sein; Kenner ihrer Schützlinge waren sie nicht. (FadZ S.59)115
Die bittere Einsicht, daß die bürgerlichen Glücksvorstellungen wie Reklame noch die letzten Winkel der Gesellschaft erreichen, daß es Natürlichkeit nur noch in herausragenden Individuen, nicht in einer ganzen Gesellschaftsschicht gibt, ist in Flametti
eingegangen. Insbesondere an einer Gruppe ausrangierter Zirkusartisten – doch in geringerem Ausmaß in jedem der Bohèmiens – läßt sich die Kritik des Vitalismus festmachen: einerseits gehen sie primitiv-vitalistisch einem hemmungslosen Hedonismus nach, sind undiszipliniert, intrigant und gefräßig; andererseits jedoch können gerade diese Figuren den schöpferischen Idealismus der Varietekünstler nicht nachvollziehen und trauern einem vergleichsweise bourgeoisen Ideal der Zirkuswelt nach.
Ähnliche Ideen finden sich in einer Notiz Balls vom 3.10.1915 (FadZ S.48). Zuerst stellt er fest, daß heute nur ein unbürgerliches Leben mit dem Gewissen vereinbar sei:
Das entschiedene, überzeugte, das anständige Leben präsentiert sich zu gewissen Zeiten in fragwürdigen Formen. Das ist nicht neu. Doch es kann dahin kommen, daß die Fragwürdigkeit als Attest und Beweis einer redlichen Führung gilt.
Ball trifft dann jedoch eine interessante Unterscheidung:
Der Abenteurer ist immer ein Dilettant. (...) Er sucht nicht Erkenntnisse, sondern Bestätigungen seiner Überlegenheit. (...) Anders der Neugierige, der Dandy. Auch er sucht die Gefahr auf, aber er dilettiert nicht mit ihr. Er faßt sie als ein Rätsel auf, er sucht sie zu durchdringen. Was ihn von einem Erlebnis zum andern führt, ist nicht seine Laune, sondern die Konsequenz eines Gedankens und die Logik der geistigen Tatsachen.
Die genauere Bekanntschaft mit Unten
mußte zu einer Differenzierung der vitalistischen Gedanken führen, wenn sie nicht obsolet werden sollten. Das Schöpfertum, das bewußte Leben, ist Schlüssel zu Balls eigenartigem Verständnis des Begriffs Dandy
, der durch die Wertschätzung von Baudelaire und Wilde sehr positiv besetzt ist. Man könnte natürlich fragen, wie weit diese Ausdifferenzierung mit all ihren politischen Konsequenzen zu einer Verwässerung des Vitalismus führt und die Grenzen zu einer idealistischen Weltanschauung allmählich verwischt werden. Doch gerade die ambivalente Betrachtungsweise des Gauklertums
qualifiziert den Text als Dada-Retrospektive.
Die hohe Wertschätzung des Künstlertums im Vitalismus (zumindest im Verständnis Balls) lassen eine streng getrennte Sichtweise als Künstlerroman nicht zu, einiges zu dieser Deutung wurde bereits gesagt; erinnert sei hier nur an die starke Bindung Flamettis an sein Künstlertum, das bei ihm eine naturgegebene Grundeigenschaft ist. Will man Balls Bemerkung, der Roman sei eine Glosse zum Dadaismus
ernstnehmen, so muß man von hier aus nach dem Wert von Kunst, genauer gesagt: Gaukelei116, fragen; die Ambivalenz zwischen beschwörend-magischer, urtümlicher Kunst und dem Kunststück, zwischen der ramponierten Person des Varietékünstlers, für den der künstlerische Ausdruck eine Funktion seiner Person ist, und dem gelernten Zirkuskünstler, zwischen eigener Tragfähigkeit anarchisch-bohèmehafter Werte und einer ex negativo aufgestellten Notgesellschaft sind Anregungen für eine weitergehende Interpretation, die Balls knappe Bemerkung geben kann.
Die Verachtung für das repressive, autoritäre Klima in Deutschlands, die Ball mit allen Expressionisten teilte, scheint ihn früh seinem Land entfremdet zu haben; die höhnische Position des von Ball bewunderten Nietzsche ist dafür symptomatisch. Nichtsdestotrotz zeigte sich bis zum Kriegsausbruch in dieser Hinsicht die übliche nationale Indoktrination offenbar als stärker, so daß Ball unreflektiert durchaus patriotische Empfindungen hegte. Die kurze Kriegsbegeisterung sollte daher auch keineswegs von diesen Motiven getrennt werden, doch sind die Beweggründe ungleich komplexer:
Gestern stellte ich mich als Kriegsfreiwilliger (...) Die Theater sind heute polizeilich geschlossen worden (...) Ich werde beantragen gleich [in der Kaserne] bleiben zu dürfen. Dann kommt 6 wöchentliche Ausbildung und es soll gegen Galizien gehen. Kunst? Das ist nun alles aus und lächerlich geworden. In alle Winde zersprengt. Das hat alles keinen Sinn mehr. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie mir zu Mut ist. Und man sieht ja noch gar nicht die Folgen ab (...) Mir graust vor der Zukunft. Der Krieg ist noch das Einzige, was mich noch reizt. Schade, auch das wird nur eine halbe Sache sein. (Briefe, S.35; 7.8.1914 an Maria Hildebrand-Ball)
Der Brief verrät völlige Verwirrung und Desorientierung. Der Widerspruch zwischen dem Bedürfnis, möglichst schnell in den Krieg zu ziehen und dem Grauen vor der Zukunft springt ins Auge, ist dieses Grauen doch offensichtlich die Angst vor dem Zusammenbruch, der Apokalypse117, dem eigenen Tod, dem aber Ball mit einem verzweifelten Mut entgegenrennt. In einer für die Expressionistengeneration typischen Ambivalenz begreift Ball jenseits aller patriotischer Motive den Krieg nicht nur als die längst ersehnte Selbstvernichtung des repressiven Systems und in dionysischer Befreiung gesteigertes Leben, sondern begegnet dem nahenden Inferno mit einer Mischung aus Grauen und Empfindung der Sinnlosigkeit des bisher Getanen, weshalb er in einem Akt der Verzweiflung den Tod in rauschhafter Selbstentgrenzung herbeisehnt und zugleich fürchtet. Doch um die Desorientierung noch zu vervollständigen, nimmt Ball am (bereits in anderem Zusammenhang zitierten) Ende noch eine etwas aufgesetzt wirkende dandyistische Ennui-Haltung ein, in der er sich als gelangweilter Beschauer des hektischen Spektakels gibt und seine existenzielle Betroffenheit verleugnet. Patriotische Empfindungen und die nicht zu unterschätzende Suggestivkraft der herrschenden Massenhysterie reißen ihn mit, doch ist von Begeisterung nichts zu spüren – zu groß war hier bereits die Distanz zum System. Das Verhalten Balls ist Beleg dafür, daß seine politische Position noch so undifferenziert und ungefestigt ist, daß es zu schweren, im Nachhinein kaum erklärbaren Verirrungen kommt. Nach dem Ende seiner Reise an die Front118 jedoch wird sich Ball über das Grauen des Krieges im klar; bislang eher unpolitisch, drängt ihn die Zeit zu Entscheidungen:
P.[femfert] und der intimere Kreis seiner Redaktion sind überzeugte Kriegsgegner und Antipatrioten. Sie wissen offenbar mehr als einer, der sich bis dahin mit Politik nicht beschäftigt hat. Warum soll ein Land sich nicht verteidigen und für sein Recht kämpfen dürfen? Nur freilich scheint es auch mir mehr und mehr, daß Frankreich und vor allem Belgien dieses Recht in Anspruch nehmen dürfen, und soweit geht mein Patriotismus nicht, daß ich den Krieg auch um ein Unrecht119 gutheißen könnte. (FadZ S.21, undatiert [November 1914])
Ich lese Krapotkin, gehe hie und da zu Pfemfert (...) Kerr ist Nationalist. Unglaublich. Schrieb ich Dir, daß Leybold gefallen ist? (Briefe, S.35; an August Hofmann, 23.11.1914)
Ich lese hier Krapotkin, Bakunin, Mereschkowski (...) und muß sagen, das ist sehr interessante Lektüre. (Briefe S.35; an Hofmann, 18.12.1914)
Politik und Rationalismus stehen in einem unangenehmen Zusammenhang (...) (FadZ S.23; undatiert zwischen 25.11. und 4.12.1914)
Es ist sicher kein Zufall, daß Ball seine Flucht aus der Zeit
(nach einer kurzen Rückschau auf die unmittelbare Vorkriegszeit) mit Einträgen vom November 1914120 beginnen läßt, datiert doch sein Versuch, über die Grenzen der Kunst hinweg am politischen Geschehen teilzuhaben, auf diese Zeit. Nach der schockhaften Erfahrung des Krieges offenbart sich die politische Naivität und Unbedarftheit des Expressionisten Ball: er, der 1913 an einer Zeitschrift mit dem Namen Revolution
121 maßgeblich mitgewirkt hatte, mußte sich über die Problematik von Patriotismus, Nationalismus und Krieg erst allmählich klar werden.
Seine fehlenden politischen Kenntnisse sucht Ball bei der linkspazifistischen Gruppe um Pfemfert nachzuholen, die ihn wohl auch mit anarchistischem Gedankengut in Kontakt brachte. Schon hier entstehen die frühesten Ansätze zu seiner Kritik der deutschen Intelligenz
: der Staat wird in Verbindung mit Rationalismus und Utilitarismus gebracht, in drei aufeinanderfolgenden Einträgen wird zuerst der Staat, dann der Bürger als Gebrauchsgegenstand bezeichnet und dieser Mißbrauch schließlich auf die Welt des Geistigen
ausgeweitet:
Auch der Dichter, der Philosoph, der Heilige sollen Gebrauchsgegenstände werden (für den Bürger) (FadZ S.23)122
Ein anderer, in der KddI wieder aufgenommener Punkt ist die an blinden Haß grenzende Kritik an Kant:
Kant – das ist der Erzfeind, auf den alles zurückgeht. Mit seiner Erkenntnistheorie hat er alle Gegenstände der sichtbaren Welt dem Verstande und der Beherrschung ausgeliefert. Er hat die preußische Staatsraison zur Vernunft erhoben und zum kategorischen Imperativ, dem sich alles zu unterwerfen hat. Seine oberste Maxime lautet: Raison muß a priori angenommen werden; daran ist nicht zu rütteln. Das ist die Kaserne in ihrer metaphysischen Potenz. (FadZ S.21; undatiert November 1914)
Ein Jahr, bevor die Fehde mit Luther und dem Protestantismus aufgenommen wird, sucht Ball bereits den
Schuldigen an der deutschen Misere, über die er sich eben erst klar geworden ist, und macht ihn in Kant aus, den er mit plattem Rationalismus und Militarismus in Verbindung bringt. Seine ästhetische, expressionistisch geprägte Denkweise überträgt Ball auf Geistesgeschichte und Politik, was ihn nicht nur zu beachtlichen Einsichten führt, sondern auch die Schwäche dieses Stils (zumindest in Balls Ausprägung) bloßlegt: um der allgegenwärtigen Nivellierung der Werte zu entgehen, die der Expressionist selbst provozierend in seine künstlerische Sprache aufgenommen hat (etwa im Reihungsstil), setzt sich Ball einem extremen Dualismus123 aus mit der gefährlichen Implikation monokausaler Erklärungen und einer Anfälligkeit für Ideologie (ein bei ihm stets positiv besetzter Begriff). Die Komplizierung des Wertegefüges ist integraler Bestandteil des modernen Bewußtseins – die polemische Vehemenz, mit der Ball diesen Umstand vom unmittelbaren Beginn seiner politischen Interessen an angreift und nur teilweise zu Recht als Nivellierung benennt, erweist sein Leiden an der Moderne, ein Leiden, das ebenfalls typisch für die Generation der Expressionisten ist. Bezeichnend ist dabei, daß es gerade Kant ist, der zum Angriffsziel erkoren wird. Das vielgestaltige Denken Kants, das selbst maßgeblichen Anteil an der weltanschaulichen Komplizierung hatte, an der Ball so leidet, wird auf planen Rationalismus und Apologie des Preußentums festgelegt; Elemente, über deren Verortung bei Kant man für sich schon streiten kann, aber seine Reduzierung darauf muß auf jeden Fall zu einer am Gegenstand vorbeigehenden Polemik führen. Daß Ball hier Kants System zur Kaserne in ihrer metaphysischer Potenz
erklärt und den kategorischen Imperativ verächtlich mit der preußischen Staatsraison gleichsetzt, macht aufgrund der Tatsache, daß er wenige Wochen zuvor begierig darauf brannte, selbst in eine Kaserne sehr realer Potenz einzuziehen, um einem Staat unter preußischer Führung zu dienen, einen leicht ironischen Eindruck und zeugt von der Fähigkeit Balls, rasch einen neuen Standpunkt zu beziehen.
Festzuhalten bleibt jedenfalls, daß Balls früheste politisch-philosophische Aufzeichnungen bereits alle Elemente seines späteren Denkens auf diesem Gebiet vorwegnehmen, einzig die Religion verschafft sich erst nach und nach Raum. Wenn auch die Auseinandersetzung mit Kant bis zur Niederschrift von KddI und FdR naturgemäß durch längere, systematischere Beschäftigung mit der Materie etwas differenzierter wird, so bleibt doch der – nach wie vor sehr einseitige – Kern der Kritik erhalten, wie wir noch sehen werden. Festzuhalten ist ferner, daß die Kant-Kritik nur Ausgangspunkt für eine umfassendere Kritik des deutschen Geisteslebens war. Schon zwischen dem 25.11. und dem 4.12. findet sich der folgende Eintrag:
Wir haben die Metaphysik für alles mögliche und unmögliche benutzt. Um die Kaserne mundgerecht zu machen (Kant). Um das Ich über alle Welt zu erheben (Fichte). Um den Profit auszurechnen (Marx). Seit man aber dahintergekommen ist, daß solche Metaphysiken meistens nur Rechenkunststücke ihrer Erfinder waren und sich auf simple, oft sogar spärliche Sätze zurückführen ließen, ist die Metaphysik sehr im Wert gesunken. (FadZ S.23)
In diesem Abschnitt ist eine für Ball typische und spätere Werke wie die KddI geradezu konstituierende Figur zu bemerken, nämlich eine Neigung zu Rundumschlägen
von sehr eigener Prägung. So ist es nicht überraschend, in einer Diskussion über den Wert der Metaphysik die Namen Kant und Fichte zu nennen, überraschend ist aber, wenn ihnen Marx, den man doch eher auf der Gegenseite
erwarten würde, zur Seite gestellt wird. Die Gefahren eines solchen Denkens fallen ebenso ins Auge wie dessen Qualitäten: so ist auf der Haben-Seite die bemerkenswerte Originalität zu verbuchen, die jenseits gängiger politisch-philosophischer Denkmuster angesiedelt ist (und die Ball bei dem Versuch der Annäherung an die katholische Dogmatik Ball später große Schwierigkeiten verursachte); sie läßt ihn ungekannte, aber plausible Zusammenhänge durchschauen und macht die Beschäftigung mit Ball zur spannenden Herausforderung. Das Problem dabei ist jedoch, daß Ball wie viele originelle Denker die Tragkraft seiner Gedanken überschätzt und sich auf ein System versteift, daß schon lange vor der Annäherung an die Orthodoxie dogmatisch ist. Es ist Balls Verdienst, Gemeinsamkeiten zwischen Marx und Kant entdeckt zu haben; es ist sein Fehler, über diesen Gemeinsamkeiten die enormen Unterschiede zwischen beiden Denkern wo nicht zu übersehen, so doch zu verwischen. Immer deutlicher zeigt sich bei ihm die Neigung, in weiten, die gesamte Geistesgeschichte umspannenden Bögen dem jüngsten Gericht vorzugreifen und in gut
und böse
zu sortieren. Daß dieser Dualismus gerade die Nivellierung nach sich zieht, der Ball zu entgehen hoffte, ist nur eine der Paradoxien, an der sein Denken scheitert.
Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, erhielt Balls (Selbst-) Kritik des Dadaismus wichtige Nahrung aus Frankreich; die Auseinandersetzung mit der im Gegenzug zur Verdammung der deutschen utopisch überhöhten Kultur Frankreichs (welches von Balls Geburtsstadt Pirmasens zwar nur einen Katzensprung entfernt liegt, aber seltsamerweise offenbar nie von ihm besucht wurde) erlangte eine für ihn wesentliche Bedeutung in der Überwindung seiner kurzen dadaistischen Phase: so ist ein zentrales Thema seiner Einträge in FadZ um 1916 die Diskussion französischer (bzw. französisch geprägter) Autoren wie Rimbaud, Sade, Baudelaire, Flaubert und Wilde und zunehmend Proudhon, Bloy, Barbey d'Aurevilly und Péguy, eine Auseinandersetzung, die zugunsten der Franzosen endete und die die politische Entscheidung begleitete und maßgeblich prägte. Die Überzeugung von der moralischen und kulturellen Überlegenheit Frankreichs setzte sich offenbar kurz nach der Erfahrung der ersten Kriegswochen bei Ball fest. So bemerkt Ball interessiert an Bakunin:
Je mehr er französisches Wesen kennenlernte, zog er sich von den Deutschen zurück. (FadZ S.24; 4.12.1914)
Ähnliche, gleichsam noch tastende Bewegungen in diese Richtung sind der französische Ausruf A bas la guerre!
Silvester 1914/15 (FadZ S.27f) und der Aufsatz Jaurès über die französische Armee
(publiziert am 12.11.1914)124, der die noch keineswegs ungeteilte Sympathie für Frankreich wiedergibt. Das Interesse Balls an der französischen Kultur wird auch durch die bereits besprochene Gedächtnisfeier für gefallene Dichter
beleuchtet. So heißt es dazu:
Man wollte die Notiz nicht bringen, weil auch eines Franzosen darin gedacht war. Vier der Redner ließen verlauten, daß die Gefeierten nicht einen Tod der Begeisterung gestorben seien. Sie starben im vollen Bewußtsein, das Leben sei sinnlos geworden; Péguy vielleicht ausgenommen. (FadZ S.28; 12.2.1915)
Mehrere Umstände lassen die Sympathie für Frankreich erkennen:
Gedenkfeierdie wichtigste prädadaistische Veranstaltung war, und daß die Würdigung Péguys nicht durch A. R. Meyer oder Kurt Hiller, sondern durch Richard Huelsenbeck erfolgte, so zeigt sich, daß der Dadaismus bereits avant la lettre einen starken Bezug zu Katholizismus und Mystik hatte.
Ästhetikerzum
Moraliker– schon in den ersten Kriegsmonaten angelegt sind.
Weitere Belege für die Beschäftigung mit französischer Literatur – so etwa ab November 1915 durch die ganze Dadaphase hindurch127 – müssen hier nicht erbracht werden. Zentral ist, daß sich Ball im Verlauf des Krieges immer entschiedener zu Frankreich bekannte und daß diese Einschätzung im wesentlichen zurückzuführen war auf die gleichsam naive Einheit von Kunst, Weltanschauung und Leben, von ungebrochener geistiger (katholischer) Tradition und revolutionärem Impetus, die er in der französischen Kultur – soweit sie den Traditionen von 1789
folgte – zu finden glaubte, im Gegensatz zu der Gebrochenheit der Deutschen, ihrer Loslösung der Kunst von der Lebenspraxis durch das Fehlen eines gemeinsamen ideologischen Horizonts. Damit ist wieder auf einen wesentlichen Kritikpunkt Balls am Dadaismus zurückgegriffen, der ja von ihm als Kulminationspunkt einer als entwurzelt gesehenen Kultur verstanden wurde. So begreift Ball in seinem Aufsatz Die junge Literatur in Deutschland
128 deren Aufgabe:
Der Kampf, den die junge Literatur in Deutschland heute zu führen hat, geht um die Bildung einer oppositionellen Partei. (...) Die Situation ist schwierig. Zunächst: Es fehlt jede Tradition. (...) Revolutionäre Propaganda in Deutschland ist ein Unding. (...) Damit in Zusammenhang steht die Richtung auf das Ästhetisierende, Formale, Dekorative, von der die jüngste Literatur noch immer beherrscht ist: Sympathie und Tendenz mit und nach Frankreich. (...) So neigt der junge Literat zu Frankreich; das, müde der großen Vergangenheit, mehr und mehr die Tradition von 1789 verliert; (...) zu Frankreich, dessen ästhetische Kultur ihm die notwendige politische ersetzen muß. (...) Der junge Literat bürgerlicher Herkunft findet heute keinen Boden und kein Publikum mehr. Irgendwie empfindet er in Lebensfragen realer, radikaler als je. (...) Irgendwie fühlt er sich ohne Schutz und Subsistenz. (...) Wie die Dinge heute liegen, ist nur zu wünschen, daß die Situation sich noch verschlimmert. Denn nur so kann in Deutschland die Verbindung zwischen Proletariat und Intelligenz zustande kommen (...).
Die Entwurzelung des jungen Literaten in der Traditionslosigkeit deutscher Kultur führt also zu einem abzulehnenden Ästhetizismus, wo die politischen und weltanschaulichen Fragestellungen dringend Vorrang haben müßten – es kann von daher keine Überraschung sein, daß Ball nach der Absetzung von den dadaistischen Ästhetikern
im Winter 1916/17 Kontakte zu den Moralikern
Schickele und Frank aufnahm129. Die kritische Distanz gegen Frankreich im obigen Zitat sollte nach dem zuvor ausgeführten nicht weiter verwirren, bezieht sie sich doch lediglich auf das Frankreich der Gegenwart; im übrigen ist seine für Ball herausragende Bedeutung allein daraus zu entnehmen, daß es als maßgebliche kulturelle Instanz angeführt wird130. Schließlich ist der Text aus einer Zeit, in der sich Ball noch keineswegs mit der katholischen Tradition Frankreichs zu identifizieren suchte, sondern sie lediglich interessiert rezipierte – der Aufsatz stammt nämlich nicht, wie man meinen könnte, aus Balls politischer
Phase, sondern wurde am 14.8.1915 in Brupbachers Revoluzzer
veröffentlicht – es handelt sich also um eine weitere vorweggenommene Dada-Kritik.
Kritik der deutschen Intelligenz
Der Grundfrage an die Deutschen lautet also, warum sie im Gegensatz zu ihren westlichen Nachbarn nicht fertigbrachten, das spießbürgerlich-militaristische Joch revolutionär abzuschütteln, weder vor noch nach dem Krieg. Mit anderen Worten:
Wenn man will, ist der Sinn dieses Buches, dass es die während des vierjährigen Krieges gegen die Regierungen der Mittelmächte erhobene Schuldfrage systematisch ausdehnt auf die Ideologie der Klassen und Kasten, die diese Regierungen möglich machten und stützten. (KddI S.V)
Die Kritik richtet sich somit weniger gegen die Regierung selbst, sondern gegen das Volk, das dieses Regime zugelassen hat und ihm in nationaler Begeisterung gefolgt ist; und damit in der Konsequenz gegen die intellektuelle Elite, die vor der Aufgabe, das Volk im Sinne von Humanität zu bilden, versagt haben. Vor diesem Hintergrund werden auch Vorwürfe an die eigene Adresse, die gelegentlich in geradezu masochistische Selbstkasteiungen ausarten, verständlich:
Wie mag einem Menschen zumute sein, wie muß einer leben, der sich zugehörig empfindet und in verhängnisvoller Weise geneigt erschiene, alle Art Abenteuer, alle Verwirrung der Probleme und der Delikte auf seine eigene, alleinige Konstitution zu beziehen? (...) Wenn uns die Sprache wahrhaft zu Königen unserer Nation macht, dann sind ohne Zweifel wir es, die Dichter und Denker, die dieses Blutbad verschuldet haben. (FadZ S.46; September/Oktober 1915)
Denn:
Ich neige dazu, meine privaten Erlebnisse mit denen der Nation zu vergleichen. (FadZ S.49; 4.10.1915)
Kritik der Deutschen ist Kritik der Intellektuellen, und diese schließt auch Selbstkritik mit ein131. Im Laufe des Kriegs hat sich nicht nur Balls Überzeugung von der alleinigen Kriegsschuld der Deutschen verfestigt, es wuchs auch die Bedeutung dieser Einsicht und das Bedürfnis, in der eigenen Arbeit daraus Konsequenzen zu ziehen132. Die Ansätze zu dem umfassenden Rundumschlag einer Kritik der deutschen Intelligenz finden sich bereits in den ersten FadZ-Aufzeichnungen nach Kriegsbeginn; das Interesse an Bakunin, die Kontakte zu Schickele und Brupbacher vertieften die politischen Interessen. Als Ball Ende Mai 1917 die Galerie Dada geschlossen und im August das Bakunin-Brevier
vollendet hat, übersiedelt er nach Bern – offenbar eine bewußte Entscheidung des endgültigen Richtungswechsels:
Nun fühle ich mich in dieser fremden Stadt recht verlassen. In Zürich die ästhetische, hier die politische Hälfte; ich aber fühle mich in meinen Interessen so geteilt, daß ich eigentlich auf dem Punkte stehe, den Ästheten der Politik aufzuopfern. (FadZ 7.9.1917; S.191)
Noch im gleichen Monat beginnt Balls Engagement bei der noch jungen Freie Zeitung
, für die er bis zu ihrer Einstellung arbeiten sollte. Die Freie Zeitung war ein überwiegend von deutschen Emigranten publiziertes Periodikum, das von dem ehemaligen Konsul Hans Schlieben 1917 gegründet wurde und bis März 1920 bestand. Die Gründung ging auf die Unzufriedenheit mit den Sozialistenkongressen in Zimmerwald und Kiental 1915/16 zurück, die die Kriegsschuld im internationalen Kapital suchten; Position der Freien Zeitung war es dagegen von Anfang an, die Deutschen als Kriegsverursacher zu brandmarken. Die Zeitschrift wurde daher offenbar auch von den Aliierten gefördert und als Propagandainstrument mißbraucht, so daß die Linie des zeitweise von Ball geleiteten Freien Verlages
zwischen Sozialismus, Anarchismus, westeuropäischer Demokratie und Antibolschewismus hin- und herschwankte. Ball war einer der leitenden Köpfe der Zeitschrift und veröffentlichte kontinuierlich Glossen und Essays; 1919 gab er den Almanach der Freien Zeitung
heraus, u.a. mit Beiträgen von Bloch133, Bakunin, Schlieben und ihm selbst.
Eine weitere Anregung zu einer politischen Publikation kommt von René Schickele. Am 9.11.1917 schlägt er Ball vor, ein Buch über die deutschen Intellektuellen zu verfassen (FadZ S.204); Ball ist interessiert. Am 14.11. schreibt er:
Das Exposé ist fertig. Aber wie ist das doch? Die Gedanken drehten sich mir in der Feder um. Es sollte ein Buch werden über die modernen Intellektuellen, etwa über die Autoren derWeißen Blätter, und es ist ein Aufriß der deutschen Entwicklung und eher ein Entwurf gegen dasManifest der 93 Intellektuellen134 geworden. (...) Ich fühle, daß es nur dieser Anregung bedurfte; mein ganzes Innere zieht sich zusammen. Ein Strom, der über mich hinweggeht. (FadZ S.205)
In den nächsten 13 Monaten schreibt Ball an diesem Thema, das Buch Zur Kritik der deutschen Intelligenz
erscheint 1919 im Freien Verlag. Im Vergleich zu den inhaltlich verstreuten Essays für die Freie Zeitung liefert KddI den weiträumigen historischen Zusammenhang, wobei Gedanken und Passagen der FZ-Aufsätze übernommen werden.
Die Grundthesen des Buches sind:
das protestierende Volkohne dass doch ersichtlich sei, wofür sie protestierten, (KddI S.1),
sie verdrehten die Werte, suchten ihren Stolz im Widerspruch und spielten einen Heroismus aus, vor dessen (...) Pose die übrige Welt in Gelächter ausbrach(KddI S.1),
sie fanden nie die freundliche, höfliche Einstellung zu den Dingen135, sie identifizierten sich nicht mit den eignen Gedanken(KddI S.1), sind
geborene Schwarzseher(KddI S.2), fühlen sich als
Richter, Rächer und Vormund(KddI S.2) und
misstrauten aus Prinzip(KddI S.2). Ihre Mentalität ist
trauriges Zeugnis der Prinzipienund Herzlosigkeit, des Mangels (...) an instinktiver Moral(KddI S.2), ihre protestantische Gewissensverkrampfung läßt sie an
Schwermut und Hypochondrie(KddI S.50) leiden,
grillenhaft, launisch und mißvergnügt,
Kritteln und Nörgeln und geistige Impotenz(KddI S.50) sind ihre Eigenschaften.
Durch die Sucht nach Originalität, einem sich selbst genügenden, hochmütigen Bedürfnis nach Anderssein, koppelten sich die Deutschen von einer ursprünglichen Einheit von Weltanschauung, Religiosität, Kunst und Leben ab.
3. Historisch manifestiert sich diese Kultur der Negativität in der Spaltung der gemeinsamen katholischen Kirche durch den Protestantismus. Der Sieg des barbarischen Luther über den idealistischen Revolutionär Müntzer präfiguriert die nächsten vier Jahrhunderte deutscher Geschichte. Die barbarisch wilden Deutschen, durch die päpstliche Kulturmission der Verteidigung des Christentums nur notdürftig gezähmt, benutzten die Gelegenheit einer Schwächeperiode der Kirche, um sich von dieser zu lösen.
4. Bei Luther136 finden sich einige der typischen Eigenschaften der Deutschen und ihrer Intellektuellen: Barbarismus und Originalitätssucht, derbe Sinnlichkeit anstelle von tragfähigen Überzeugungen, gesunder Menschenverstand
und bürgerliche Behäbigkeit statt Spiritualität, Trennung abstrakter Überlegungen von der Lebenspraxis, eine Radfahrermentalität
– im Gegensatz zu Müntzer, dem Revolutionär, der mit seinem Leben für seine Überzeugungen eintrat und diese nicht abstrakt von der Lebenspraxis zu trennen bereit war. Müntzer dachte die durchaus positiven Ansätze Luthers konsequent weiter, befreite das individuelle Gewissen aus der institutionellen Erstarrung der Amtskirche und kämpfte für die politische Umsetzung dieser Freiheit. Mit Luthers und Melanchthons Bündnis mit den Mächtigen in der Augsburger Konfession setzte sich jedoch die Zerstörung anstelle der Reinigung der spirituellen Traditionen durch. Luthers starre Berufung auf den Evangelientext ist der Triumph des engstirnigen Philologensinns und des jüdisch-knechtischen Geists des AT (anders als das rebellische NT).
5. Die deutsche Kultur war im folgenden wesentlich durch den Protestantismus geprägt; andere führten den Weg Luthers fort. Mit Kant habe sich die selbstgefällige, professorale Abstraktion des intellektuellen Lebens, die Rationalität gegen die Spiritualität durchgesetzt, während in der Ethik die Unterwerfung unter den preußischen Staat gefordert wurde; die Humanitätsideen der allgemein überschätzten deutschen Klassik (die höchstens als der nicht mehr genügende Anfang einer Kulturbegründung eingeschätzt werden können – KddI S.62f) seien an ihrem Versuch, Moral auf Individualismus zu begründen, gescheitert und hätten unter dem schädlichen Einfluß Kants nur den prussophilen Abklatsch einer Revolution wie 1789 zustande gebracht, da sie die intelligible mit der realen Freiheit verwechselten, allenfalls die Romantik habe das Potential gehabt, die Tradition von 1517 zu durchbrechen; Hegel habe unter Rückgriff auf mittelalterliche Mythen von Auserwähltheit und Universalstaat die ganze Weltgeschichte auf Preußen hin arrangiert und in ebenso behäbiger wie zynischer Scharlatanerie eine Apologie des Bestehenden betrieben; der jüdische Geist137 geht mit dem Protestantismus bei Marx und Lassalle erneut eine unheilvolle Verbindung ein, indem unter Pervertierung der christlich-sozialistisch-anarchischen Befreiungsideen die Zerstörung der Spiritualität durch einen kalkulierenden Materialismus vorangetrieben werde – im übrigen bei höchst zweifelhaften persönlichen Motiven dieser Revolutionäre
; in Bismarck, Wilhelm II, Hindenburg und Ludendorff schließlich kommt der deutsche Barbarismus und Größenwahn zu seinem Höhepunkt. Diesen Negativgestalten werden positive Figuren gegenübergestellt: so wahrt die Philosophie Franz von Baaders die christlichidealistische Tradition, mit Wilhelm Weitling findet sich auch in Deutschland ein Vertreter des christlich-anarchistischen Sozialismus, während in der Gegenwart Eisner und Landauer seine Sympathie gehört, die bei Erscheinen des Buches bereits ermordet waren. Positiv rezipiert werden auch Randfiguren des literarischen Lebens wie Lichtenberg, Hölderlin und Büchner. Heine und vor allem Nietzsche sieht Ball ambivalent: einerseits greift er auf ihre scharfsinnigen Kritiken der Deutschen zurück, aber da ihre Kritik das Wesentliche verfehlt und sie – aufgrund ihrer Herkunft als Jude bzw. Pastorensohn, darf man ergänzen – von zweifelhaftem Charakter waren, arrangierten sie sich letztlich mit dem System.
6. Mit dem Höhepunkt des deutschen Wahnsinns 1914-18 ergibt sich auch eine Chance: zum einen habe die Welt das Problem erkannt, sich zu einem Bündnis gegen die deutsche Mentalität zusammengefunden und einen moralischen Sieg errungen, zum anderen hätten die vernichtend Geschlagenen die Gelegenheit, die mürbe gewordenen Fesseln des eigenen Hochmuts abzuschütteln, sich bedingungslos zu ihrer Schuld zu bekennen und einen echten Neuanfang zu wagen – bittere Notwendigkeit auch, um ein ferneres deutsches Attentat
(KddI S. VI) zu verhindern.
7. Die Prinzipien, denen dieser Neuanfang folgen muß, heißen Freiheit und Heiligung
(KddI S.12), das Ziel ist eine Kirche der Intelligenz
(KddI S.11). Balls Utopie ist eine rebellische, neutestamentarische, europäische Intelligenz mit individuell moralischem Verantwortungsbewußtsein und spiritueller Empfänglichkeit. Vorbilder sind dabei neben großen Einzelnen wie Bakunin und Mazzini Frankreich und Rußland, die religiösen Enthusiasmus, zärtlichen Patriotismus und unbändige Freiheitsliebe miteinander verbinden, repräsentiert etwa durch Pascal, Bloy, Barbey d'Aurevilly, Péguy, Tolstoi, Dostojewski und Tschaadajew. KddI S. 107f, nachdem Ball seine Wertschätzung wie auch seine Kritik an der Romantik formuliert hat, gibt er folgendes Credo:
Wir glauben an Don Quixote und an das Phantastischste aller Leben. Wir glauben daran, dass die Ketten fallen und dass es keine Galeeren mehr gibt. So sehr sind wir bereit, Opfer zu bringen, dass Kants Pflichtideal uns als moralischer Dilettantismus erscheint. Wir glauben nicht an die sichtbare Kirche, aber an eine unsichtbare und wer in ihr kämpfen will, ist ihr Glied. Wir glauben an eine heilige christliche Revolution und an die unio mystica der befreiten Welt138.
Die Problematik von Balls politischem Denken, wie sie oben bereits angesprochen wurde, kommt in diesem Buch voll zum Tragen. Von glühendem Enthusiasmus getragen und im Bewußtsein, an einer Schnittstelle der Zeit zu stehen, kommt Ball – obwohl er betont, weder Pamphlet noch Satire schreiben zu wollen – mitunter zu krassen Fehlurteilen, so, wenn er über Heine schreibt, er sei mit geistreich verschlossenen Augen als skeptischer Nationalist und Gourmand auf die Seite derer, die Purpurmäntel und Braten verteilen, getreten
(KddI S. 105) und dessen Forderung nach einer Allianz geistiger und materieller Interessen kommentiert:
Das sind allerdings keine Romantiker, das sind Positivisten aller Wege. Das sind die Herren Heine, Marx, Lassalle, Rathenau: Adoptivprotestanten aus materialistischer Wahlverwandtschaft.
Das alte antisemitische Argument des Materialismusvorwurf ist hier aufgegriffen, und es ist ein bedenkliches Symptom, daß die aufgezählten linken und bürgerlich-liberalen Vordenker auf der schwarzen Liste aller erdenklichen rechtsgerichteten und nationalistischen Kräfte ganz oben standen. Von hier aus stellt sich eine sehr grundlegende Frage über den Wert Balls als politischer Denker: die Frage über den Wert des Irrationalismus in der Politik, mit dem das 20. Jahrhundert bekanntlich ja sehr schlechte Erfahrungen gemacht hat. Ergibt sich neben der Paradoxie, daß Ball, um der Nivellierung zu entgehen, alle Differenzierungen verwischte, die zweite Paradoxie, daß sein Kampf gegen nationale Überheblichkeit ihn gerade in die Nähe des Faschismus führte? Der Vorwurf ist nicht so absurd, wie es zunächst scheint. Neben der gemeinsamen ideologischen Grundlage des Irrationalismus (also gegen Materialismus und Rationalismus, somit also gegen Kapitalismus, Demokratie und Marxismus gerichtet) läßt sich Balls Neigung zu totalitären Lösungen anführen und seine zunehmende Bereitschaft, das Individuelle (z.B. in Form der Askese) für die höhere Idee zu opfern. Ich möchte diesen grundlegenden Vorwurf allerdings erst im nächsten Kapitel behandeln.
Aufgrund der oben angesprochenen Neigung zu Schwarz-Weiß-Denken ist es klar, daß das Buch zahlreiche Vergröberungen aufweist, die die Plausibilität der Gedanken erheblich erschüttern und sie vielfach auf den Rang idealistischer Konstrukte zurückstufen. So ist es natürlich von einem realistischen Standpunkt her höchst fragwürdig, Deutschland mit dem Protestantismus zu identifizieren, da einerseits beträchtliche Teile Deutschlands katholisch geblieben und andererseits auch andere Staaten (Niederlande, Skandinavien, Großbritannien, USA) überwiegend protestantisch sind; daneben wäre für eine historisch sorgfältige Argumentation die Rolle Calvins, Zwinglis und Hus' zu prüfen. Daß Ball Protestantismus mehr als Geisteshaltung denn als Religion verstanden haben wollte, belegen die FadZ-Einträge vom 16.10.1915, wo er sich erstmals ausführlich mit diesem Thema auseinandersetzt:
Merkwürdig genug: als Deutscher bin ich ebenfalls ein enragierter Protestant; nicht von Geburt, aber durch die Umgebung. Mitunter scheint mir, daß ich damit im Unrecht bin, obgleich mir keine andere Wahl geblieben ist. (S.54)
Eine weitere problematische Folge des Schwarz-Weiß-Denkens ist, daß Deutschland – übereinstimmend mit seinen am schärfsten kritisierten Vertretern – als Sonderfall angesehen wird, dessen Abfall von der europäischen Christlichkeit den neuzeitlichen Sündenfall verursacht hat und dessen Rückkehr in eine gemeinsame Kultur ein paradiesisches Zeitalter bringen wird139. Diese Überzeugung von der Sonderrolle Deutschlands war eine historisch überholte und in gewisser Hinsicht tatsächlich patriotische140 Überschätzung der deutschen Frage am Anfang eines Zeitalters, das vom Antagonismus zweier Weltmächte bestimmt war. Ball scheint die Utopie eines wiederbelebten neo-mittelalterlichen Universalstaats vorzuschweben, in dem Deutschland als reuiger Sünder
in seiner Büßerrolle spirituell die Führung übernimmt.
Trotz sehr starker religiöser Färbung ist Balls Standpunkt durchaus kritisch gegenüber dem Katholizismus ...
Wir sind keine katholischen Romantiker, Lobredner der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft und Gegenwart. (...) Nicht einer katholischen Renaissance reden wir das Wort, deren obskure Propaganda... dem Papsttum ...das schöne Werk des Mittelalterswieder herzustellen hofft (KddI S.20)141.
Es ist interessant, nach einem Kampf gegen die religiöse Despotie in den deutschen Ländern zu fragen. (...) Es gibt eine... und der Bibel:Apostolische Majestätdeutscher Zunge zu Wien und einen protestantischenSummus Episkopuszu Berlin, ausserdem aber eine Entente théologique beider theokratischer Systeme mit der päpstlichen Kurie zu Rom. Diese furchtbare und gewaltige doktrinäre Macht antichristlicher Tendenz (...) (KddI S.137).
Was bedeutet uns heute die Bibel? (...) Das alte Testament ist despotisch, das neue republikanisch. (...) Denn man könnte ebenso gut den Nachweis erbringen, dass der teuflische Einfall ich weiss nicht welches jüdischen Theologen, das alte und das neue Testament buchbinderisch in Zusammenhang zu bringen, dazu führte, aus der Bibel eine Magna carta der Unfreiheiten und Zweideutigkeiten zu machen (KddI S.32).
Balls Religiosität um 1918 hatte sich also bereits entfernt von den magischen Blasphemien
der Dada-Zeit und sich seinem späteren Katholizismus angenähert; dabei überwiegen jedoch lebendiger Enthusiasmus und anarchistische Autoritätskritik noch über dem späteren, introvertierteren Demuts- und Askeseideal. Die optimistische, kämpferische Haltung und der schwungvolle Duktus – vor allem in den emphatischen Passagen, in denen Ball in der ersten Person Plural spricht – belegen, daß Ball sich als Sprecher einer Partei mit einer bedeutenden politischen Mission begreift.
Die Hugo-Ball-Forschung hat es sich längst zu einem erst allmählich überwundenen Gemeinplatz gemacht, Ball als sprunghaften, haltlosen Denker vom Expressionismus zum Dadaismus, vom Dadaismus zur Politik, und von dort zum Katholizismus übergehen zu sehen, wo er schließlich seine geistige Heimat wiederfand. Angesichts dessen, daß mit guten Gründen der Kontinuitätsaspekt hinter einer durchaus konsequenten Entwicklung hervorgehoben wird, ist nach der Eigenständigkeit der politischen Phase
Balls zu fragen. Anders ausgedrückt: ist es angemessener, die Schriften im Umkreis der KddI unter anderen als rein politischen Gesichtspunkten zu betrachten? Immerhin erscheint es erklärungsbedürftig, daß Ball sich angesichts seiner antimateriellen, geistigen
Lebenseinstellung142 mit der materiellen, diesseitigen
Politik beschäftigte. Das Interesse für dieses Thema ist offensichtlich (wie sich als Konsequenz des ersten Abschnitts dieses Kapitels ergibt) auf das schockhafte Kriegserlebnis zurückzuführen143, und es erreicht seinen Höhepunkt, als sich die Ereignisse 1918/19 in revolutionärem Tempo überschlagen. Ein Zitat aus der Totenrede
von 1915 zeigt den Rang und die Art und Weise politischen Denkens bei Ball:
Sprach jemand in Berlin144:Was ist das für eine Revolution, die ihr da macht in München? Da steht ja kein Satz Politik drin!Richtig, sprach Leybold,da steht kein Satz Politik drin. Was soll man tun?5 Minuten später waren wir konfisziert mit Nummer 1.
Holla[], sagte ich zu ihm, da steht nur kein Sozialismus, keine Altersfürsorge, kein Mutterheim, kein Rotes Kreuz drin. Und auch die Rosa Luxemburg wird nicht mitarbeiten. Noch Frau Zetkin. Aaaber: Politik, zum Donnerwetter, Politik, sprachen wir zweistimmig, ist das etwas anderes als die Lehre von den Mitteln, mit denen man sich selbst oder eine Idee durchsetzt? Und wenn unsere Idee – na, sagen wir schon –der Geistist, ist es vielleicht unsere Politik, daß wirden Geistdurchsetzen? Unter Geist verstanden wir aber alles, was gegen das Gesäß, gegen die Verdauung und gegen das Finanzherz gerichtet ist. (Leybold S.33)
Die Durchsetzung des Geistes
gegen Materialismus und träges Spießbürgertum wird man nach üblicher Terminologie – ähnlich dem jemand
aus Berlin – kaum als Politik
bezeichnen; die spöttische Bemerkung gegenüber Institutionen und Personen, die um soziale Gerechtigkeit (also vor allem auf materieller Basis) bemüht sind, belegt dies. Die Definition der Politik – die keinesfalls selbstverständlich ist – weist ihr eine allgemein und insbesondere gegenüber dem Geist sekundäre, dienende Rolle zu. Insofern ist es auch nicht überraschend, daß Ball niemals reales
Engagement zeigte und daß er nie Mitglied einer Partei war; seiner Form politischen Denkens haftet, auch nachdem er sich jahrelang mit dem Thema beschäftigt hatte, etwas Weltfremdes an, positiv ausgedrückt: es ist eher philosophisch als tatsächlich politisch. Von daher muß auch das schematische Schwarz-Weiß-Denken verstanden werden, wie es typischerweise idealen Konstrukten anhaftet. Genau an jenem Tag, an dem Ball nach Bern übergesiedelt ist, macht er in seinem Tagebuch eine entlarvende Bemerkung:
Ich habe Zeit genug und kann mir (...) die Welt zurechtlegen wie sie ist und wie sie sein könnte. (FadZ S.191; 7.9.1917)
Das Jahr 1920 bezeichnet die letzte und (trotz gewisser Modifikationen) endgültige Wende in Hugo Balls Leben. Am 21.2. heiratete Ball Emmy Hennings, die schon die fünf Jahre zuvor seine Lebensgefährtin war145; zum 1. April des Jahres wird die Freie Zeitung aufgelöst, wenige Monate später folgt ihm der Freie Verlag. Die politisch verrufene und des Vaterlandsverrats bezichtigte Zeitschrift war offenbar boykottiert worden und mußte ihr Erscheinen aus finanziellen Gründen einstellen. Hugo Ball verlor damit nicht nur sein relativ gesichertes Einkommen, sondern mußte auch das Scheitern seiner politischen Hoffnungen manifestiert sehen. Schon bald nach dem Erscheinen der KddI führte er die harten Bedingungen des Versailler Vertrages auf das Versagen der Deutschen auch nach 1918 zurück:
Die letzte Enttäuschung, die Deutschland der Welt bereitete, ist seine Revolution. (...) Nie wurde einem Volke die Revolution so mundgerecht gemacht und vorgebetet, wie den Deutschen von gestern und heute. (...) Wenige Deutsche, ohne Partei, ohne Resonanz, ohne größere Hilfsmittel, waren Idealisten genug, zu glauben, der ungeheure Druck der Kriegsjahre werde ihre Landsleute den außerordentlichen Weg der Empörung, Enttäuschung, der beleidigten Selbstachtung finden lassen. (...) Wir täuschten uns146.
Nach seinen beiden Deutschlandreisen schlußfolgert Ball:
Resultat: daß die politische Aktion in der Schweiz keinen Sinn mehr hat, und daß es kindisch ist, diesem Treiben gegenüber auf Moral zu bestehen. Ich bin gründlich geheilt, von der Politik nun auch, nachdem ich den Ästhetizismus bereits früher abgelegt hatte147. Es ist notwendig, noch enger und ausschließlich auf die individuelle Basis zu rekurrieren; nur der eigenen Integrität zu leben, auf jedes korporative Wirken aber ganz zu verzichten. (FadZ S.233; 24.5.1919)148
War er nach Kriegsende noch hin- und hergerissen zwischen Pessimismus und kühnen Hoffnungen, so hatte Ball keine sechs Monate nach dem November 1918 erkannt, daß die deutsche Mentalität unverändert den Krieg überstanden hatte und sich das demokratische Mäntelchen nur widerwillig umgehängt hatte, während nationales Selbstmitleid, Schuldzuweisungen und rechter Terror die politische Landschaft absteckten. Von dieser herben Enttäuschung erholte sich Ball nicht mehr; 10 Monate später schreibt er seinen letzten politischen Artikel für die Freie Zeitung. Unmittelbar darauf bricht er auf zu einem längeren Deutschlandaufenthalt von März bis Ende Juli 1920; Stationen sind u.a. Pirmasens und Flensburg (die Geburtsorte des Ehepaars). In Pirmasens verursacht Ball beim nationalistisch aufgestachelten Publikum einen Skandal, kritisch wird auch Abbruch und Wiederaufbau
am 1.7. in Hamburg aufgenommen. Ball schließt endgültig seinen Asmodai
zwischen den Buchdeckeln des Tenderenda
ein und wendet sich dem Katholizismus zu. Ende des Jahres schließlich lernt er Hermann Hesse kennen und beginnt die Arbeit an Byzantinisches Christentum
.
Was waren Balls Motive für die Rückkehr in die Kirche? Hier müssen zuerst zweierlei Motivgruppen unterschieden werden. Balls Rekatholisierung war keine nüchtern und abstrakt getroffene Entscheidung (dies wäre – so Ball, siehe unten – auch gar nicht möglich), sondern die Rückkehr eines Gescheiterten – jedenfalls empfand er selbst sich so. Hatte sich ihm nach dem Mißerfolg seiner ästhetischen Ideen die ausschließliche Beschäftigung mit Politik geradezu aufgedrängt, so verblieb ihm nun nichts mehr – außer der Leidenschaft fürs Übernatürliche. Die eher philosophische als politische Frage, wie eine Verbesserung der Welt (und konkret Deutschlands) möglich sei, wird nun beantwortet, daß es notwendig
sei, noch enger und ausschließlich auf die individuelle Basis zu rekurrieren
. Das könnte bei der Analogisierung von Individuum und Gemeinschaft als politisches Credo ausgelegt werden, doch ginge damit die Signifikanz des Begriffes Politik
verloren (vielmehr trägt eher Balls Politik
philosophisch-religiöse Züge – s. oben). Was in der Gemeinschaft utopisch ist – die religiöse Umkehr –, soll nun verwirklicht werden am exemplarischen Individuum, an Ball selbst. Daß diese Umkehr aber kaum eine rationale Entscheidung war, sondern daß ihr ein schweres Scheitern voranging, belegt Ball indirekt selbst: einmal in seinen Aufzeichnungen und Schriften Mitte 1919, zum anderen rückblickend in dem autobiographische Erfahrungen einarbeitenden Aufsatz Die religiöse Konversion
149.
Da die Bewegung mehr von den Leidtragenden des Zusammenbruchs als von den unberührten Organen der Kirche getragen wird, herrschen zunächst die abenteuerlichsten Meinungen und Entwürfe. (S.336)
Inmitten der Vielfalt der Motive läßt sich nun das eine als allgemein festhalten, daß der erwachsene Mensch (...), ehe er sich zum Glauben wendet oder zum Glauben zurückkehrt, Erfahrungen schmerzlicher Art gemacht haben muß. (...)Der Schmerz, sagt De Sanctis,ist der einzige zur Konversion notwendige Faktor, wenn er auch zur Konversion nicht genügt. Auch für die kollektiven Konversionen gilt dies: der Krieg mit seinen Trostlosigkeiten, die ökonomische und moralische Depression, der Wertumsturz bei den Völkern sind mächtige Beweggründe für die Rückkehr zum Glauben. (342f)
Dennoch sollte man von einer trivialpsychologischen Deutung Abstand nehmen; wie Ball selbst erklärt, ist der Schmerz des Konvertiten notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Der Schritt zum Katholizismus gehorchte auch einer inneren Logik in der geistigen Entwicklung Balls. Ball war stets Irrationalist und hat zeitlebens, wenn auch mitunter verworren und exzentrisch, religiöse Empfindungen gehegt; Sympathien für herausragende Katholiken, katholische Ideen und Traditionen hegte er schon längst vor seiner Rekonversion. Ausschlaggebend für den letzten Schritt war nicht nur der Schmerz über, sondern auch die Einsicht ins Scheitern. Die eigenen Versuche, eine Gemeinschaft gegen Bestialität und Materialismus zu stiften, waren mißlungen; Ball in seiner Isolation suchte Anschluß an eine von Kindheit an vertraute Gemeinschaft, deren ehrwürdiges Alter und gewachsene Rolle als Opposition gegen allzu weltliche Interessen ihn anzog.
Ein so klarer Stilist wie Heine konnte mit Deutschland nicht fertig werden; ein so durchdringender Geist wie Nietzsche ebensowenig. Weder ein Jude, noch ein Protestant vermag das. Es ist notwendig, die ganze Tradition zu überblicken, für alle ihre Wege ein Organ zu haben. Das könnte nur ein Katholik. (FadZ S.178; 10.8.1917)
Schließlich hatte die Kritik des destruktiven Protestantismus die Moderne als chaotische Décadence erscheinen lassen:
Es gibt nur eine Macht, die der auflösenden Tradition gewachsen ist: den Katholizismus. (FadZ S.273; undatiert zw. 9.8. und 17.8.1920)
Ein Blick in das Kapitel über Dionysius Areopagita in Byzantinisches Christentum
, das die Überwindung gnostischer Magie im Christentum behandelt, erklärt den Sieg des Katholizismus über die unorthodoxe Spiritualität der Magie und bis zu einem gewissen Grade auch der Mystik bei Ball. Ball sieht im Gnostizismus eine dem jungen Christentum konkurrierende Bewegung, das christliche Gedanken mit dem uralten Erbe orientalischer Sekten, der Magier und Schamanen, verbindet.
Die Gnosis ist das Erleben von Gott. Sie gibt Erkenntnis zugleich und Anschauung. Erkenntnis des unerkennbaren Rahmens; Benennung des unaussprechlichen Namens. Gnosis ist die Einsicht in das geheime Verhältnis Gottes zur Welt; ein Wissen um die verborgenen Mittel, deren der Übervernünftige sich bedient, um den Menschen mit sich zu verbinden: sei es, daß seine Boten heruntersteigen bis in das unterirdische Dunkel; sei es, daß sich von dort eine Sehnsucht erhebt hinauf zum Licht aller Lichter. Gnosis ist ferner die Lehre von der Einheit mit Gott. (BC S.91)
Kennzeichen der Gnosis sind ihr hierarchischer, stufenweiser Weltaufbau, eine Neigung zu Vielgötterei (in der Unterscheidung zwischen Urgott und Demiurg, in der Engelsverehrung, auch in der Neigung zum Anthropomorphismus der Götter in der Annäherung an den Erleuchteten), die Überzeugung, daß die materielle Welt zutiefst verabscheuungswürdig sei und daß sie stufenweise überwunden werden könne vom Erleuchteten (die Lichtmetaphorik ist von zentraler Bedeutung). – Es ist unschwer, aus Balls obigen Worten die Faszination herauszulesen. Immer wieder zog er Parallelen zwischen der Gegenwart und dem Frühmittelalter und identifizierte seine blasphemische
Vergangenheit offenbar mit den magischen Sekten an der Wende zwischen Antike und Mittelalter; so stellt er sogar Verbindungen her zwischen Pseudo-Dionysius Areopagita einerseits und Dada und Nietzsche andererseits:
Dionysius Areopagita ist die vorgesehene Widerlegung Nietzsches. (FadZ S.284; 17.4.1921)
Als mir das WortDadabegegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysius. D.A. – D.A. (über diese mystische Geburt schrieb H...[uelsenbec]k; auch ich selbst in früheren Notizen. Damals trieb ich Buchstaben- und Wortalchimie)150. (FadZ S.296; 18.6.1921)
Unter diesen Umständen ist es klar, daß BC mehr ist als nur ein gut geschriebenes Buch über Kirchengeschichte; es arbeitet auch Balls geistige Biographie auf. Um so bedeutender ist, wie in BC das Christentum den Gnostizismus zurückdrängt. Dabei handelt es sich nicht um eine Überwindung (wie etwa der Rationalismus die Magie als Aberglauben überwinden könnte), sondern um eine Aufhebung
in der dreifachen Bedeutung des Wortes: die Gedanken des Magischen gehen in einer höheren Signifikanz der göttlichen Erneuerung auf. Historisch manifestierte sich diese Aufhebung mit dem Eingehen der gnostischen Gedanken ins Mönchtum (BC S.170, 172), das zeitweise einen die Kirche bedrohenden Einfluß erlangte. Die Bedeutung des Pseudo-Dionysius macht Ball nun in der endgültigen Integration der Magie151 in das Christentum aus und in seiner Hervorhebung der kirchlichen Gemeinschaft152, des Priesters, über der Askese des Mönchs (BC S.199). Das Christentum konnte gegenüber der Gnosis wie dem Mönchtum für sich die Offenheit gegen Alle, nicht nur für privilegierte Erleuchtete, vorbringen und setzte diese anstelle der Geheimlehre (Vereinfachung
, Einfalt
– BC S.209); somit den – auch und gerade in der Hierarchie – direkten Kontakt des Gläubigen mit Gott statt dem eifrigen Kampf mit der profanen Welt; und – mit ihrem Zentralkult um die Eucharistie, die den Gläubigen in göttlicher Kindheit wiedergebärt – die Erneuerung im Gegensatz zu jeder Form von Magie (wie auch der Kunst), deren Wesen statt dessen in der Vertiefung gesehen wird. Erneuerung aber war, was Ball suchte, in seiner persönlichen Situation als Gescheiterter wie als Kritiker seiner Zeit, als Revoluzzer
. Unter diesem Vorzeichen ist auch die psychologische wie die geistige Motivation für Balls Konversion zusammenzufassen:
Das Problem der Konversion ist das der Wiedergeburt, ja der Heilsgeschichte selbst, und man könnte sagen, daß in Christus die Menschheit zu Gott konvertiert und zum Paradiese (Die religiöse Konversion, a.a.O. S.346)
Wie sehr Ball auch jetzt noch trotz der Einmaligkeit seiner Biographie von sich selbst auf die Allgemeinheit schloß, wird deutlich, wenn er seiner nicht Hoffnung, sondern Gewißheit einer allgemeinen Rückkehr zur Kirche Ausdruck gibt:
So findet eine Erneuerung und eine Umkehr zur Kirche, und zwar zur Großkirche statt, die ihresgleichen in der Geschichte sucht. (S.336) Die religiöse Konversion ist heute ein Zeitproblem von universaler Bedeutung. (338)
Diese offensichtliche Fehleinschätzung Balls ist nicht nur ein Indiz für die aufgrund psychischer Labilität getrübte Objektivität, sondern auch dafür, daß er sich mit seiner Rekonversion in ein ideologisches Abseits begeben hatte, von dem aus die Komplexität der modernen Gegenwart nicht mehr zu überblicken war; ein Abseits, aus dem er sich jedoch auch nach den schmerzlichen Erfahrungen mit seinen Glaubensgenossen nicht mehr befreien konnte.
Offenbar hat Hugo Ball schon relativ bald nach Fertigstellung der mit großem Engagement geschriebenen KddI das Bedürfnis verspürt, dieses Buch aus der neugewonnenen Position des Katholiken zu revidieren153. Wie oben ausgeführt, sympathisiert es mit einzelnen Katholiken und katholischen Gedanken, insbesondere die institutionell verfestigte Kirche und ihre allzu weltlichen Aspekte werden in der dem ganzen Werk eigenen Schärfe abgelehnt. Ball war sehr bemüht, Anschluß an die weltumspannende Gemeinde des Katholizismus zu finden und erhoffte sich von dort, wie mehrfach gezeigt, die Lösung des deutschen Problems. Bis heute hat leider die Hugo-Ball-Forschung, insgesamt eher desinteressiert an der Zeit nach 1917, einen detaillierten Vergleich beider Werke versäumt. Im Juli 1922 kann Ball mit dem Münchner Verlag Dunker & Humblot einen Vertrag über BC und eine Neuauflage von KddI schließen. BC, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bereits fertiggestellt, erscheint 1923, ein Jahr später arbeitet Ball die KddI um und gibt ihr den neuen Titel Die Folgen der Reformation
; im Herbst des Jahres wird sie veröffentlicht.
Die Neuauflage ist im wesentlichen eine Kürzung: ca. 40% des Textes wurden gestrichen, bei den Anmerkungen sogar ca. 85%. Ball nahm sehr umfangreiche Eingriffe in den Text vor: einzelne Passagen werden wörtlich beibehalten, aber umgestellt; anderswo, wo seitenweise übernommen wurde, finden sich auf den ersten Blick unscheinbare, aber sinnverändernde Eingriffe; neue Abschnitte werden eingefügt, und schließlich gibt es auch noch rein stilistische Überarbeitungen. Das 3. Kapitel der KddI, in dem Ball über Baader und Weitling schreibt, ging fast völlig verloren. Einige Beispiele:
Das Inhaltsverzeichnis:
Zur Bibel:
Vorausgesetzt, dass die Bibel ein Buch ist wie alle andern (...) (KddI S.30)
Vorausgesetzt, die Bibel wäre ein Buch wie alle andern (...) (FdR S.18)
Über Müntzer:
Eine Franziskusnatur (...) (KddI S.38) Diese Sätze Münzers enthalten mehr als eine Philosophie der Qual und Verzweiflung, sie enthalten eine hierarchische Ordnung der Geister nach ihrer Leidensfähigkeit. Sie bedeuten die Überwindung des ganzen Mittelalters und sind mit der höchsten Spiritualität Europas verwandt. (KddI S.42)
Eine Asketennatur (...) (FdR S.25) Niemandem wird es beifallen, die rebellische Aphoristik Münzers als seine spezifische Leistung zu betrachten und als Vorbild aufzustellen. Wichtig aber und von großer Art bleibt, daß dieses Temperament und dieser Charakter die ganze politische Tragweite der lutherischen Thesen unmittelbar erfaßt und bis auf den Tod bekämpft hat. (FdR S.28)
Über das preußische Militärregime und seinen Bund mit der protestantischen Kirche154:
Die von Gott eingesetzte Obrigkeit begnadigt den Sünder. Es ist ein religiöser Militarismus. Bei einer Exaltierung des Bussbegriffes liesse sich daraus ein preussischer Militärkatholizismus abstrahieren. Soweit sind wir noch nicht gekommen, weil es an produktiven Köpfen fehlt. Aber wenn Herr Scheler sich einmal damit beschäftigen wollte, liesse sich denken, dass man Katholizismus in diesem Punkte sogar mit Preussentum vereinigen kann. (KddI S.84)
Die gottbewußte Obrigkeit begnadigt den Sünder. Es ist ein doktrinärer Militarismus. In Ärmlichkeit, schlechter Kost und Verachtung des menschlichen Stolzes wetteifert die Kaserne mit jeglichem Asketerion, wenn sie sich auch im Ziel und im Mittel davon unterscheidet wie Kain von Abel. Und es ist kein Scherz, wenn ich sage, der selbige Militarismus beruhe auf Religionsphilosophie und rege zu weiterem Philosophieren an. (...) Generaler Ausgangspunkt der brandenburgischen Hausphilosophie ist eine blutige Art von Zerknirschung, (...) der keine strengere Natur ihr Interesse versagen mag. Der Subordinationszwang dieses Systems sucht einen Ersatz zu bieten für die ansonsten im reformatorischen Haushalt fehlende Askese. In der Tat hat das Ordensland Preußen in seinem Kasernen- und Pflichtideal sich einen letzten (wie furchtbar immer verzerrten) Rest mittelalterlicher Disziplin bewahrt (FdR S.67).
Und schließlich:
Und noch eines Romantikers sei hier gedacht: Georg Büchners. Er gründet einen revolutionärenVerein für Menschenrechte. (...) Aus der vita contemplativa stürzt er sich in die Politikwie in einen Ausweg aus geistigen Nöten und Schmerzen. (...) Nicht die Dogmen von 1789 trägt er vor – was kümmert ihn Parteiskandal! –, sondern sein leidendes Menschenherz, einen von tiefster Trauer durchtränkten Fatalismus. (...) Und inbrünstig ruft er uns heutiger Jugend zu:Die Welt ist das Chaos, das Nichts, – der zu gebärende Weltgott. In Giessen ist es, wo erin tiefe Schwermut verfallen sich schämt, ein Knecht mit Knechten zu sein, eine[m] Kirchendiener-Aristokratismus zu Gefallen. (KddI S.104)
Und noch eines Romantikers sei hier gedacht: Clemens Brentanos. Er ging den Weg, den eines Tages ganz Deutschland wieder wird gehen müssen, wenn es genesen will (...) Er ging den Weg zu Anna Katharina Emmerich, zu jener in Golgathawehen liegenden Frau (...) Er ging den entscheidenden Schritt der Romantik zur Kirche und des Genies zum Katholizismus. (...)Hinkel, Gockel und Gackeleiawerden vergehen, aber die von Brentano notierten Worte des Hirtenkindes werden dauern. (FdR S.83f)
Ohne auf eine Synopse zurückgreifen zu können, läßt sich die Gesamttendenz der Bearbeitung auf folgende Punkte bringen:
Freiheit und Heiligungist eine starke Sympathie für Demuts- und Askesehaltung, eine Subordination unter die Hierarchie getreten, die der früheren Position stellenweise diametral entgegengesetzt ist; daher kommt es auch zu Reibungen zwischen der älteren und der neueren Ansicht.
In dem Bemühen, seine Mitgläubigen auf die deutsche Frage aufmerksam zu machen und zugleich seine eigenen Blasphemien
zurückzunehmen, überschätzte Ball allerdings nicht nur die Wirkung der KddI (die in den chaotischen Nachkriegsjahren offenbar kaum zur Kenntnis genommen worden ist155), sondern auch und vor allem die Integrität und Radikalität des Katholizismus. Nicht KddI, sondern FdR verusachte einen kleinen Skandal, der für Ball äußerst unangenehme Folgen hatte. Mitte 1923 liest Ball interessiert in den Schriften Carl Schmitts und verfaßt einen längeren Aufsatz darüber, der im Juni des folgenden Jahres in Hochland
erscheint. Schmitt besucht Ball, es kommt zu freundschaftlichem Austausch, doch lehnt jener Balls eben fertiggestelltes Buch FdR ab; sein Angebot, das Buch zu unterdrücken und für die Kosten aufzukommen, weist Ball zurück. Anfang 1925 geht FdR durch die deutsche Presse; die Reaktion ist verheerend. Noch am 4.1.1925 schreibt Ball an Schmitt:
Ihre Nachrichten über dieFolgen der Reformationfreuten mich recht sehr. Ich fühle Ihre Sympathie, und das ist mir Erfolg genug. Es gibt Autoren, denen eine Demütigung guttut und die sie sich vielleicht selbst schaffen. Nehmen Sie ruhig an, das treffe auf mich zu. (...) Herrn Dr. Gurian danke ich sehr für sein freundliches Interesse. (Briefe, S.194)
Drei Wochen später:
Über meine verdrießlichen Reformationsfolgen treffen nun die ersten Wetterberichte ein. (Briefe S.197; 27.1.1925)
Immer mehr vernichtende Kritiken trafen ein, schließlich auch in der Kölnischen Volkszeitung, einem führenden katholischen Blatt, eine Rezension durch eben jenen Schmitt-Schüler Gurian:
Das Seltsamste aber ist, daß die Protestanten selbst die Wahrheit dessen, was ich vorbringe, zuzugeben beginnen, während die Katholikennur Negativesin meinem Buch sehen können. (...) Das erste große katholische Blatt, das über dies neue Buch schreibt, behandelt mich in einer Weise, wie meine schlimmen protestantischen Gegner es kaum getan hätten; denn die haben wenigstens meine Moral und meineVergangenheit[als Mitarbeiter der verhaßten Freien Zeitung] aus dem Spiel gelassen. (An Carl Muth, 6.2.1925, Briefe S.198)
Schließlich schickte Ball am 11.2. eine Anfrage an Schmitt, wie er zu der Affäre stehe, und nachdem er darauf nicht einmal eine Antwort erhielt, sah er sich von dem Freund
sehr enttäuscht, bestätigten sich doch seine Befürchtungen, daß Schmitt der Drahtzieher hinter der in ihrer persönlichen Infamie durchaus repräsentativen Kritik war. Nach diesem schweren Schlag mußte Ball seine Hoffnungen, im Lager der Katholiken Anschluß zu finden, begraben. Eine mögliche Konsequenz wäre gewesen, den Fehler einzusehen, zu erkennen, daß die Menschen, um die er heftig warb, sich zumeist weniger durch ihre Spiritualität als vielmehr durch eine ans Reaktionäre grenzende Konservativität auszeichneten; zu erkennen, daß der Weg von KddI zu FdR ein Irrweg war, der idealistisch verkannte, daß der Katholizismus seinen Kompromiß mit der weltlichen Macht schon vor Jahrtausenden geschlossen hatte, wie Ball ja auch noch in der KddI mit spitzer Feder bemerkt hatte. Die Tatsache, daß er einen anderen Weg gegangen ist, beweist, daß er innerlich gebrochen und vereinsamt war156:
Die beiliegende Notiz publizierte Herr Funk im Bayrischen Kurier; es ist das Ärgste, was mir bis jetzt widerfahren ist. (...) Sagen Sie selbst, lieber Herr Prof., ist das nicht schlimm, daß ein Verleger, der sogar anderer Konfession ist, mir das schreiben muß? Denn nicht wahr, Herr Funk sowohl wie ich, wir sind doch beide Katholiken, wir gehen beide zur hl. Beichte und zur hl. Kommunion (...)? Bitte wollen Sie Herrn Funk meine tiefste Ergebenheit und Verehrung versichern. Ich hoffe, mein Brief an denB.M.möge ihn nicht verletzt haben, und wenn dies doch der Fall sein sollte, so bitte ich Herrn Funk vielmals, mir dies zu verzeihen. (An Carl Muth, Briefe S.206; 21.3.1925)
Ich möchte und muß erreichen, daß Herr Dr. Funk mich gern hat, mich lieb hat, meine ich. Und ich werde das auch erreichen. (...) Ich möchte unter Katholiken nur Freunde, und keine lauen Freunde, sondern herzliche Freunde haben. (An Muth, Briefe S.234; 21.12.1925)
Man fühlt sich erinnert an Balls demütiges Bekenntnis Man muß sich vielleicht nur jeder Kritik unterwerfen, und immer wieder unterwerfen, bis auch die letzte verstummt
(FadZ S.127, 7.11.1916, s. oben), an die naive Religiosität als Kind und an seine gelegentlich an Masochismus grenzende Demutsbereitschaft, wie sie auch in den Brief an Schmitt vom 4.1.1925 zum Ausdruck kommt (s. oben). War schon FdR unter dem (freilich mißglückten) Bemühen zu sehen, ältere Positionen zu korrigieren und sich dem neuen Dogma anzupassen, so ist sein nächstes Projekt, Die Flucht aus der Zeit
noch viel mehr der Versuch, sich zu rechtfertigen und um Verständnis zu werben – insofern kann man den ablehnenden Reaktionen auf FdR dankbar sein, da Ball mit FadZ sein ergiebigstes Werk schrieb, dessen Eignung als Schlüssel zur schwierigen Gedankenwelt seines Autors von der Sekundärliteratur immer wieder (so auch hier) unter Beweis gestellt wird.
Die Flucht aus der Zeit– ein Topos der Ball-Rezeption
Die Flucht aus der Zeit
157 war der Titel, den Ball seiner Autobiographie gab (denn als solche sind die redigierten Tagebücher zu verstehen); und Flucht aus der Zeit
war die Überschrift, unter die Balls Leben gestellt wurde. Als Hermann Hesse 1930 schrieb:
Die aber, welchen es mit dem Kennenlernen dieses Denkers und Frommen ernst ist, bitte ich nochmals: Saget stattFlucht aus der Zeitetwas anderes, oder gebet dem WortFluchtnicht diesen erbärmlichen engen Sinn, als ob dieser heroische, unerhört tapfere und opferfähige Mensch eine Art von Feigling und Drückeberger gewesen wäre! (Briefe, Vorwort S.13)
... konnte er noch nicht wissen, daß das Befürchtete tatsächlich eintreten würde. Wo immer in der Rezeption Ball mit Antipathie begegnet wird, ist der Fluchtvorwurf nicht weit; und Steinbrenner verschwendet sein halbes Buch mit der auf Dauer ermüdenden Rechtfertigung Balls vor diesem Vorwurf. Z.B. Balls wohl heftigster Kritiker, Eckhard Philipp (v.a. S.181-183), sieht dessen Konversion als Zuwendung zu einer exklusiven Privatmythologie und -theologie, deren Gültigkeit über die persönlichen Probleme Balls hinaus nichtig ist. Damit verfehlt er jedoch den Punkt, um den es geht, da er sich der Entwicklungsgeschichte Balls nicht genau bewußt ist158. Intendiert (freilich nicht realisiert!) ist das Gegenteil eines Privatkosmos: wie sonst ließen sich die immer wiederkehrenden Bemerkungen verstehen, nicht er allein wolle umkehren, seine ganze Nation müsse mit (FadZ S.248f; 3.7.1919, s. unten); wie sonst der zentrale Kritikpunkt am Protestantismus wie am deutschen Wesen selbst, nämlich die ketzerische Originalität
um den Preis der Verantwortungslosigkeit gegenüber Geist, Kultur und Tradition; wie auch die späte Kritik an der eigenen Originalität, dem eigenen Revoluzzertum? Der Mythos des Flüchtigen, der sich aus den drängenden Erfordernissen der kritischen Intelligenz und der modernen Kunst, denen beiden die festgefügten Normen von Jahrtausenden zwischen den Händen hindurchzulaufen scheinen, in den idyllischen Schrebergarten der südlichen Schweiz und einen bequemen Katholizismus zurückgezogen hat, übersieht dabei jedoch, daß Ball es sich keineswegs leicht machte bei den Katholiken. Die Suche nach Intersubjektivität und postrationaler Verbindlichkeit – auch unter persönlichen Opfern – waren zweifellos ausschlaggebende Motive für Balls Weg in die Orthodoxie.
Interessant ist dabei das Verhältnis dieser Orthodoxie zu seinen (besonders während der Dada-Zeit allgegenwärtigen) mystischen159 Tendenzen. Wie Philipp richtig bemerkt, bezieht der Mystiker religiöse Autorität aus der persönlichen Gotteserfahrung heraus, die ihm im Konfliktfall höher steht als die kirchliche Dogmatik. Daher kann der Mystiker ebenso ein zurückgezogenes, kontemplatives Leben führen wie auch Rebell werden, und in der Tat gibt es eine große, bis in die Gegenwart reichende Tradition von religiös motiviertem politischen Widerstand, eine Tradition, die Ball ja stark rezipiert hatte. Balls Verhältnis zur Mystik ist komplex, die Frage nach Mystik oder Orthodoxie ist auch die Frage der Individualität. Balls ältere Position ist dabei, aus der Autorität des enthusiastischen Individuums allgemeine Einsichten zu finden, diese gegen die Tradition zu verfechten und in den politischen Kampf einzutreten, also vom Individuum heraus die Gemeinschaft zu verändern.
Die negativen Erfahrungen des Jahres 1919 führten zu einem ausgesprochenen Pessimismus in den Fragen der Veränderbarkeit der Gesellschaft; was als konkretes Ziel verwirklichbar schien, mußte auf eine utopische Ferne gerückt werden. Die Grundkonstellation blieb zwar die selbe, doch verschob sich der Akzent deutlich auf den Rückzug, wenn man so will, die Flucht
des Individuums. Der Weg in die Orthodoxie war ein Kompromiß dieser Fluchthaltung mit dem Gedanken, Anschluß an eine große Gruppe Gleichgesinnter zu finden, um mit ihnen, mit der tradierten Autorität im Rücken, die Gemeinschaft zu verbessern. Die Entwicklung Balls 1919/20 ist also weniger ein Aufgeben, sondern eher eine veränderte Strategie; und die Priorität der Veränderung des Individuums bzw. der Gemeinschaft ist häufig eine Frage der seelischen Konstitution Balls, nach seiner mehr optimistischen oder mehr pessimistischen Verfassung. Philipps als kritisch gedachte Bemerkung, Ball habe sich den kirchlichen Institutionen gegenüber kritiklos loyal verhalten und somit als Pseudorebell offenbart, offenbart jedenfalls sein Unverständnis:
Die fuga saeculi wird bei Nietzsche bereits aus Geschmacksgründen von Spöttern und Atheisten vollzogen. Eine noch konsequentere fuga muß mit dem christlichen Mönchtum der ersten Zeit zusammentreffen. Von da aus könnte der Gegenstoß gegen eine unheilbar gewordene, ringsum besessene Welt erfolgen. Die Zeiten haben eine merkwürdige Ähnlichkeit. (FadZ S.279; 3.1.1921)
Daß der Vorwurf der Flucht dennoch nicht ohne Berechtigung ist, hat darin seinen Grund, daß Ball, wie ich ausgeführt habe, keineswegs nur aus Vernunftgründen die Fronten gewechselt hat; anders wäre seine krasse Verkennung der Lage wohl auch kaum denkbar. Müßte man sich also zwischen der Einschätzung Philipps und Hesses entscheiden, so würde schon wegen seiner besseren Kenntnis des Gegenstands
Hesse den Vorrang haben, doch sollte, wie ich meine, auch seine allzu freundschaftliche Einstellung nicht kritiklos übernommen werden. – Die Frage nach Balls Flucht
scheidet nach wie vor die Geister, was einer objektiven Bewertung im Wege steht; andererseits offenbart sie immerhin auch seine Provokativkraft, indem die Auseinandersetzung um ihn fortgeführt wird und er damit nicht als zu Tode interpretierter
Autor gelten kann.
Das Wort ist preisgegeben; es hat unter uns gewohnt.
Das Wort ist zur Ware geworden.
Das Wort sie sollen lassen stahn [sic!].
Das Wort hat jede Würde verloren. (FadZ S.42; 16.7.1915)
Dieser kleine gedichtartige Eintrag, dem übrigens einer über Tenderenda
folgt, verweist durch seinen gebetshaften Klang auf die für Ball wichtige Verbindung von Sprachkritik und Religiosität. Wie gezeigt, war die Unzufriedenheit mit der Sprache explizit seit etwa 1914/15, implizit letztlich seit den ersten Dichtungen Balls auszumachen. Sprachkritik war auch ein Hauptanliegen Balls in seiner Dada-Zeit; so handelt etwa der zweite Teil des Ersten dadaistischen Manifests
von diesem Thema:
Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. (...) Wenn diese Schwingung sieben Ellen lang ist, will ich füglich Worte dazu, die sieben Ellen lang sind. (...) Ich lasse die Laute ganz einfach fallen, etwa wie eine Katze miaut ... Worte tauchen auf, Schultern von Worten, Beine, Arme, Hände von Worten. (...) Ein Vers ist die Gelegenheit, allen Schmutz abzutun. Ich wollte die Sprache hier selber fallen lassen. Diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt, wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. Dada ist das Herz der Worte.
Jede Sache hat ihr Wort, aber das Wort ist eine Sache für sich geworden. Warum soll ich es nicht finden? (...) Das Wort, meine Herren, das Wort ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges160.
Was Ball hier beabsichtigt, ist nichts weniger, als die Arbitrarität der Sprache zu überwinden. Die Ausgangsposition, von der aus Ball die Lautgedichte entwickelte und damit einen wesentlichen Beitrag zum Dadaismus leistete, war also die vormoderne Opposition zu dem kaum vernünftig bestreitbaren Satz der Arbitrarität des Verhältnisses der Gegenstände zu ihren Bezeichnungen. Ball will also nicht das Chaos oder den Unsinn der Welt darstellen, sondern ganz im Gegenteil eine feste, unerschütterliche Beziehung zwischen Wort und Ding finden. Das verrät bereits deutlich mystische Überzeugungen von einer inneren Ordnung der Welt; Tendenzen, die sich in einem thematisch ähnlichen Eintrag von 1918 deutlicher greifen lassen.
Sind wir nicht eben gehalten, jenen Gegensatz zwischen Denken und Sein, zwischen Sehen und Tun, zwischen der Wahrnehmung und der Darstellung aufzuheben? Ist uns nicht die Nötigung gegeben, die Namen nicht eitel auszusprechen? Schwören wir nicht, wenn wir nennen? Oder wenigstens: Sollten wir nicht schwören im Nennen? (FadZ S.211; 2.6.1918)
Der anklagende, revolutionäre Gestus, die politischen Implikationen sind zurückgetreten zugunsten einer Gewissenserforschung (bemerkenswerterweise mitten in der Arbeit an KddI), die der moralischen Pflicht des ästhetischen Schaffens zu genügen sucht. Die Vergewisserung der Realität der Außenwelt vollzieht sich durch ihr Beschwören wie durch das Schwören, das auf eine transzendente Autorität verweist. Die Sprachkritik ist somit ein Bindeglied zwischen Balls Ästhetik, seinem politischen und seinem religiösen Denken. Das Schlußkapitel von BC (über Symeon Stylites) beginnt mit einem Abschnitt über Die Sprache Gottes
:
Wir haben die Hieroglyphensprache verlernt. Ihr Schlüssel ging uns verloren. Die Sprache Gottes ist höchster Begriff. Wir begreifen nichts mehr. Wie sollten wir noch denken können? Des Übernatürlichen Kompaß zeigt nach dem Herzen. Wir aber haben mit dem Herzen auch den Kopf verloren. (...) Die Sprache Gottes hat Zeit, viel Zeit, und Ruhe, viel Ruhe. Darin unterscheidet sie sich von der Menschensprache. (...) Die göttliche Sprache bedarf nicht der menschlichen Billigung. Sie sät ihre Zeichen und wartet. Alles Menschliche ist ihr nur Anlaß. Das Gesetz ihres Wirkens aber heißt: immer dasselbe sagen. (BC S.251f)
Die Sprache Gottes wird als eine unauflösliche Synthese von tatsächlicher Handlung und Sprachhandlung gesehen, in der Menschenleben wie das von Symeon Stylites als Worte
erscheinen. Diese Sprache stellt die Identität von Wort und Gegenstand wieder her, sie ist der Urgrund allen Verstehens. Doch in der Ausrichtung des modernen Menschen auf die Rationalität ging ihm das Vermögen zu begreifen abhanden, da nicht nur das intuitive, sondern auch das rationale Verständnis von einer Teilhabe an der Sprache Gottes abhängig ist. Ohne dieses zentrale Erkenntnisvermögen fehlt jede Orientierung, das moderne Denken erscheint als wirres, sinnloses Herumtasten, dem das Chaos der Gegenwart entspricht. Mit seiner Zuwendung zum Katholizismus bettet Ball also die von ihm vertretene Fiktion der Idealsprache in den Kontext einer umfassenden Ideologie ein; die reibungslose Kompatibilität beider miteinander könnte ein Indiz dafür sein, daß das Ungenügen an der Sprache eines der ausschlaggebenden Motive für die Rekonversion war – angesichts der eminenten Bedeutung dieses Problems für Ball keine unplausible These.
Dabei drängt sich jedoch die Frage auf, wie Ball selbst diesem hohen Anspruch zu genügen suchte. Die sprachlichen Fähigkeiten Balls manifestierten sich nach 1918 fast nur noch außerhalb der Dichtung, dort jedoch auf mitunter eindrucksvolle Weise, wie das obige Zitat belegt. Die späten Gedichte, nach Abschluß des Tenderenda
die einzige poetische Äußerungsform Balls, blieben bis zu einer postumen Edition161 unveröffentlicht (in welcher wiederum die frühen Dichtungen fast vollständig fehlen) – eine Arbeit für die Schublade also, was ebenso auf ein geradezu therapeutisches Bedürfnis nach poetischem Ausdruck wie auf eine Geringschätzung der eigenen Produktion schließen läßt; leider sind die Texte darin meist undatiert.
Als bislang Einziger hat sich Gerhard Rademacher ausführlich mit der späten Lyrik Balls beschäftigt, der vornehmlich zwei Gruppen von Texten unterscheidet. Auf der einen Seite stehen legendenartige Texte, die oft mit (bemühter?) Naivität und bei einem weitgehenden Verzicht auf literarische
Verfahren wie dramatischer Darstellung oder sprachlicher Originalität das gotterfüllte Leben darstellen. Besonders konsequent in dieser Hinsicht ist z.B. Legende
(GG S.91f), das die allegorische Geschichte eines Bettelmusikanten erzählt, der vor einem Marienbild spielt, bis diese herabsteigt und ihn von seinem irdischen Dasein erlöst – ein zweifellos autobiographischer Zug, da Ball die eigene Existenz oft mit der Metapher des nach Gott suchenden Gauklers umschrieb. Typisch ist auch die in dem Gedicht zum Ausdruck kommende Marienverehrung, wie überhaupt Ball mehr von den sinnlichen Konkretionen Gottes als von theosophischen Spekulationen angezogen war – Engel, Heilige, das göttliche Kind und eben auch Maria tauchen immer wieder in den Gedichten auf162. Die andere Gruppe von Gedichten ist mehr persönlicher Art; zumeist ist sie im Ton eines leidenden Rückzugs gehalten. So drückt etwa Wie bin ich, Herr
(GG S.54) das Leiden an der Askese aus. Eine tiefe Enttäuschung vom Leben formuliert z.B. Memento
(GG S.55), das expressionistische Grauen vor der Größe Gottes wird in der strengen Form einer Litanei in Threnodie
(GG S.62f) zur Sprache gebracht. Eine ganze Reihe von (späten?) Gedichten beschäftigt sich mit dem Tod (Im Krankenhause
GG S.102, Kleines Sterbegedicht
S.104, Es wird ein Mann begraben
S.105, Epitaph
S.108), von denen das letzte (es der Schlußtext von GG) stellvertretend für alle anderen bislang noch kaum gewürdigten Gedichte stehen soll:
Epitaph
Der gute Mann, den wir zu Grabe tragen,
Sieht wächsern aus und scheint erstarrt zu sein.
Doch war er so verliebt in allen Schein,
Daß man sich hüten muß, ihn tot zu sagen.
Er liebte es in allen Lebenslagen
Dem Unerhörten nur Gehör zu leihn.
Umgeben von so hundert Fabulein
Kann man nur zögernd ihm zu glauben wagen.
Drum, wenn auch jetzt sein schmaler Maskenmund
Geschlossen liegt und nicht mehr sprechen mag:
Er lauscht vielleicht nur in den Schöpfergrund ...
Und steht dann wieder auf wie jeden Tag.
Laßt ihn getrost bei seinem Leichenspiele.
Er lächelt schon und wir sind kaum am Ziele.
Ein befremdlicher Text, der ebenso wie einige andere der oben erwähnten durchaus dazu geeignet scheint, das Vorurteil gegenüber Balls Spätlyrik in Frage zu stellen. Das Hinterfragen von Realität, Logik und Rationalität, das dem Gedicht die Züge einer Groteske verleiht, geschieht vor einem religiösen Hintergrund. Die Schreibweise der Groteske hat Ball sein Leben lang beibehalten, wir finden sie in den vorexpressionistischen Werken ebenso wie in GG. Das Groteske ist hier eine Vermittlung von Todesangst und Todessehnsucht, die in den Gedichten immer wieder ausgesprochen wird und die sich auch in der Form von Regressionswünschen artikuliert (V.11). Der Verweis auf das Unerhörte
und den Schein verleihen dem Gedicht einen autobiographischen Anstrich, der jedoch durch das Sprechen von dem Toten in der dritten Person (während das lyrische Ich im kollektiven Wir nur als passiver Beobachter auftritt) ebenso in Distanz gerückt wird wie durch das groteske und zugleich religiöse Thema des Gedichts.
Ton, Form und Sprache des Gedichts sind in ihrer Abgeklärtheit typisch für Balls Spätlyrik. Die Unterwerfung unter die katholische Hierarchie hat eine Parallele in der Akzeptanz strenger Formen in der Dichtung bei einfacher, unprätentiöser Sprache. Der dichterische Ausdruck, der in den schmerzerfüllteren Texten noch gelegentlich expressionistische Dynamik annimmt oder sich in asketischer Sprachzucht manifestiert, ist hier reduziert auf ein Ausbalancieren der anspruchsvollen Gedichtform mit der Simplizität. An die Stelle des immer radikaleren Ungenügens an der Sprache und der Suche nach absoluter Ausdrucksform in früheren Phasen ist der Regressionswunsch getreten, die Sehnsucht zu verschwinden, das Bedürfnis nach dem einfachen, elementaren Ausdruck, der sich in dem obigen Text in der Gelassenheit eines vom Leiden nicht mehr Tangierten darstellt. – Auch wenn Ball schreibt, daß er den Dichter in sich nahezu abgetötet habe (FadZ S.255; 30.11.1919), verfaßte er doch noch Lyrik von gelegentlich beachtlicher Qualität, in denen er konsequent die Idee der Vereinfachung verfolgte. Fraglich ist allerdings, ob mit diesen Gedichten eine überzeugende Realisierung seiner Ideen auf ästhetischem Gebiet erreicht wurde – die geringe Bedeutung, die ihnen ihr Autor offenbar zumaß, und ihr Rückgriff auf eine nicht mehr zeitgemäße Ausdrucksweise legen eher eine verneinende Antwort nahe.
Wir müssen uns an dieser Stelle fragen, wie wir mit den Äußerungen und Gedanken Hugo Balls, insbesondere nach seiner Konversion umgehen wollen, hat doch ihre Befremdlichkeit etwas Provozierendes. Bernhard Echte schließt sein Nachwort zur Flucht aus der Zeit
(S.315) mit folgender Bemerkung:
Wäre das heutige literarische Interesse so diskret, wie Ball es gewesen ist, könnte die Sache [Echte scheint sich hier auf Balls Rückkehr zum Christentum zu beziehen], statt zu einem wolkigen Rätsel hochstilisiert zu werden, damit eigentlich ihr Bewenden haben. Ball missioniert ja schließlich nicht, er bekennt ja nur –mit allen Sprüngen, Rissen und unwahrscheinlichen Widersprüchen. Das weitere steht jedem frei. (...) Was ist zudem von einer Rationalität zu halten, die nicht einmal generös genug ist, jemanden kindlichen Wunderglauben und die Idee der Gotteskindschaft ohne Bekrittelung schön finden zu lassen? (...) Hätte da nicht eher das moderne Bewußtsein sich Fragen vorzulegen?
Dazu ist erst einmal zu sagen, daß Ball natürlich keineswegs ein bloßer Bekenner ist; sein Anspruch ist es, nicht nur allein umzukehren, sondern dies stellvertretend für den modernen Menschen, mindestens aber für Deutschland zu tun:
Ich kann nicht privatim, und nur für meine Person umkehren. Die ganzen Ideen müssen mit, das ganze Geflechte, in das ich verwachsen bin und das mein Gedanke umfassen kann. Das zerrt und reißt und blutet aus hundert Wunden. Ich will mit der ganzen Nation eintreffen oder nicht leben163. (FadZ S.248f; 3.7.1919)
Balls Kritik an dem, was er als deutsch ausmacht, ist von einer Intensität, die Echtes Behauptung ad absurdum führt, und mit seiner späteren Konfession verhält es sich ähnlich. Die Kritik am ist Protestantismus ist zu einem guten Teil Kritik am Bürgertum, das jedoch bei allen Unzulänglichkeiten und Untertanengeist einziger Garant für eine demokratische Entwicklung war und ist; bei Ball dagegen finden wir Symbole statt Diskussionen, Devotion statt Kritik. Seine Positionen sind konsequent, radikal, provozierend; sie sind eine Herausforderung, die man nicht einfach mit dem Toleranzgebot abtun darf – das wäre auch nicht im Interesse Balls. Der sicherlich radikalste Ausdruck seiner Ideologie der Ich-Zerschlagung findet sich in BC:
Aber es wäre zu wünschen, daß unseren Erziehern die egoistischen Instinkte gleich nichtig erschienen vor einem gleich hohen Ideale.Selig, so lautet eines der schönsten Worte dieses Kapitels,wer täglich um einer göttlichen Sache willen Schande leidet und ohne zu murren sein Selbst besiegt.(BC S.30)
In der Praxis heißt dies:
Mit eingespannten Füßen stecken die Zöglinge des Geistes in Einzelhaft, und so verharren sie, bis sie der Prior auf göttliche Eingebung von der Folter erlöst. (...)Dies ist die Lebensart, dies der Zustand und die Disziplin derer, so seufzt der Heilige,die wahrhaft das Antlitz des Gottes Jakob[s] suchten. (BC S.35f).
Es ist deutlich, daß kindlicher Wunderglauben
eine erheblich verharmlosende Formulierung ist. Balls Angriff richtet sich auf die tiefsten Fundamente moderner wie bürgerlicher Lebensordnung, er dreht die Uhr um anderthalb Jahrtausende zurück. Menschenrechte, Individualität, Rationalität164 werden hier im Zeichen eines Religionsfaschismus mit Füßen getreten165.
Hinter diesem ganz offenkundigen Defizit von Balls Weltanschauung offenbart sich ein Komplex von politischen und philosophischen Implikationen. Es ist eine Sache, Irrationalismus in Kunst oder Philosophie zu vertreten; wenn dieser Irrationalismus aber zu einem religiösen Fanatismus ausgeweitet wird, der über Leichen geht, muß jedoch ein klares Veto entgegengehalten werden. Neben der Rationalität auch noch die Individualität166 zugunsten einer mit welchen verklärten Worten auch immer umnebelten Transzendenz aufzugeben bedeutet, sich in ein Fahrwasser zu begeben, das in den Hafen des Totalitarismus mündet. Daß Ball eine gewisse Anfälligkeit für ein alles übergreifendes Welterklärungsmodell aufweist, das sich politisch ohne weiteres auch der Gewalt bedient, zeigt sich unter anderen Vorzeichen – freilich mit wesentlich undogmatischerer Ideologie – in seiner Vorliebe für den Anarchismus, ja sogar die Episode der kurzzeitigen Kriegsbegeisterung gehört hierher. Das Einmünden in den Totalitarismus macht einen nachgerade ironischen Eindruck, findet sich doch Ball, nach wie vor unter dem Anspruch der Freiheit kämpfend, nun in Gesellschaft gerade jener, die er sein Leben lang am heftigsten bekämpfte, nämlich der deutschen Nationalisten und Revisionisten. Dieser Umstand beweist jedoch, wie schon an der Debatte um FdR festzustellen war, daß wesentliche Punkte von Balls Kritik am deutschen Wesen verfehlt sein müssen, daß Ball selbst einige Grundzüge mit jenen gemeinsam hatte, die die Träger jener verhängnisvollen Entwicklung waren, die zur Machtübernahme Hitlers führte.
Dieser gemeinsame Grundzug ist die Ablehnung der modernen Zeit und die reaktionäre Rückwendung auf eine idealisierte Vergangenheit, welche auch immer es sein mag167. So stammen die Zentralbegriffe etwa der nationalsozialistischen Blut und Boden
-Ideologie (also Rassismus, imperialistische Expansion und ideologische Fixierung auf die Landwirtschaft) – allesamt aus dem 19. Jahrhundert168. Bei allen enormen Unterschieden (insbesondere ist bei Ball keine nationalistische Neigung auszumachen169) zeigt sich doch das gemeinsame Movens der Verunsicherung und Überforderung durch das 20. Jahrhundert und der Wunsch nach Reaktion.
Die Zerstörung des Individuums zugunsten der irrational erfahrbaren Suprematie der höheren Ordnung weisen den Zeitflüchtigen
Ball gerade als Kind seiner Generation aus: so muß er als sehr eigenständiger, aber eben doch als Vertreter des bürgerlichen Irrationalismus gesehen werden (wie er z.B. von Lukács kritisiert wurde). Die zeitweilige Freundschaft mit Carl Schmitt zeigt, daß er sich mit der Rechten verständigen konnte, wenn es nicht gerade um Balls wunden Punkt, Deutschland, ging. Und nicht nur der italienische Faschismus ist ein Beispiel für den Sieg des Totalitarismus in einem katholisch geprägten Land: der Nationalsozialismus trat seinen Siegeszug vom Süden des Reichs an, und in Spaniens Franco und insbesondere in Portugals Salazar zeigte sich eine starke Kompatibilität von Katholizismus und Faschismus, der seine Apologeten im Lager des aristokratisch-reaktionären, katholischen Universalismus fand wie bei dem Schweizer Gonzague de Reynolds. Wie wenig konkret Balls politische Vorstellungen waren, zeigt sich daran, daß er nirgends klare Aussagen über die von ihm gewünschte Staatsform macht; zwar sind aus der KddI republikanische Tendenzen herauszulesen, doch wird die Regierung Ebert/Scheidemann heftig abgelehnt170. An keiner Stelle äußert sich Ball gegen den Totalitarismus (als solchen) oder gegen eine faschistische Diktatur.
Als die drei Hauptkriterien der Gegenwart macht Ball selbst in seinem Kandinsky
-Aufsatz von 1917 Atheismus, Atomisierung und Massengesellschaft aus – mit anderen Worten den Verlust einer einheitlichen, verbindlichen Weltordnung und Sinngebung, die Monstrosität des Gewöhnlichen sowie die quantitative, nivellierende Expansion der Menschheit, deren hierarchische, soziale und persönliche Bindungen immer weiter verloren gehen. Ball muß unter dieser Diagnose sehr gelitten haben; mag er sie 1917 noch akzeptiert haben und sich nach geeigneten Möglichkeiten, sich in dieser Welt zurechtzufinden, umgeschaut haben, so ist wenige Jahre später die Tendenz zur Bekämpfung und Rückgängigmachung dieser Kriterien des 20. Jahrhunderts nicht mehr übersehbar: während die Monstrosität der Dingwelt als irrelevant ausgeblendet wird, ist es nun Balls Hauptanliegen, durch Wiedereinsetzung des Theismus eine verbindliche Weltordnung zu rekonstituieren; die Probleme der Massengesellschaft erledigen sich damit, da die Ausrichtung auf einen fixierten Horizont der Menschheit von selbst eine Strukturierung aufdringt. Darüber werden die Errungenschaften der modernen Zeit aufgeopfert, als da sind persönliche Freiheit des Individuums, Rationalismus, Liberalismus und hinter allem die Möglichkeit, die neue Komplexität auch als Chance zu begreifen.
Kurt Schwitters ist in Bezug auf den Dadaismus ein Sonderfall. Auf der einen Seite stehen nicht nur offenkundige Verwandtschaften zu Dada, persönliche Beziehungen zu einigen Dadaisten und eine gewisse Rezeptionstradition, sondern auch Schwitters' bewußter Rückgriff auf den Dadaismus in theoretischer ebenso wie in praktischer Hinsicht. Andererseits jedoch hat sich Schwitters in seinen theoretischen Schriften und Manifesten immer wieder in Gegensatz zum Dadaismus (und nicht nur dessen Berliner Spielart) gestellt, und diese theoretischen Gegensätze haben sehr wohl einige Entsprechung im Werk. Reflektiert ist dieses ambivalente Verhältnis zum Dadaismus durch die Forschungsgeschichte und künstlerische Rezeption, die Schwitters nur unter gewissen Vorbehalten einen Platz im Dadaismus einräumen, während Schwitters stärker als andere Autoren und Künstler des Dadaismus in anderen, wenn auch verwandten Zusammenhängen gesehen wird (Konstruktivismus, experimentelle bzw. konkrete
Poesie); reflektiert ist es aber auch durch Dada Berlin (und Köln), die in äußerst kritischer Distanz Schwitters als zum Phänomen Dada gehörig betrachteten, aber als Nachahmer, der sich dieses Prädikat unrechtmäßig angeeignet habe171. Im folgenden soll versucht werden, Schwitters' Werk mit dem Dadaismus zu vergleichen auf die Frage hin, ob es einmal eine Dada-Phase in seinem Werk gegeben hat oder ob seine Auseinandersetzung mit dem Dadaismus von vornherein abgrenzend und überwindend war.
Sowohl die künstlerischen Anfänge als auch die allgemeinen Lebensumstände des jungen Schwitters unterscheiden sich nicht unerheblich von denen anderer Dadaisten. Schwitters war das einzige Kind einer wohlhabenden Bürgerfamilie in der meist als beschaulich, als größte Kleinstadt Deutschlands
beschriebenen Stadt Hannover, verlebte also offenbar eine äußerst behütete Kindheit. Anders als das Gros seiner künstlerischen Zeitgenossen hat es bei ihm nie einen Vatermord
gegeben, das Verhältnis zu den Eltern scheint zeitlebens harmonisch gewesen zu sein. Anders als z.B. Ball hat der sparsame und geschäftstüchtige Schwitters auch nie – scheinbar auch nicht im Exil – existentielle Not leiden müssen; in den Briefen klagt er zwar häufig über Geldmangel, doch betrifft dies eher die Schwierigkeit, künstlerische Projekte durchzusetzen, als Hunger und Kälte zu leiden.
Kurt Hermann Eduard Karl Julius Schwitters, geboren am 20. Juni 1887, dürfte denn auch in seiner Jugend wenig Anlaß zu der Vermutung gegeben haben, daß aus ihm einmal ein avantgardistischer, extravertierter, humorvoller und lebenslustiger Künstler werden könnte – im Gegenteil, wie in einem Thomas-Mann-Roman erschien er als Heranwachsender eher wie ein melancholischer, übersensibler Sprößling des verfallenden Bürgertums172. Ein traumatisches Erlebnis 1901 war der Anstoß zu einer Hinwendung zu den Künsten173, und als die Malerei durch Talent und Neigung Berufswunsch wurde, ging Schwitters nach dem Abitur mit dem Einverständnis seiner Eltern den Weg des bürgerlichen, technisch versierten Künstlers über die örtliche Kunstgewerbeschule (1908/09) zu der prominenten Akademie in Dresden, wo er über fünf Jahre das künstlerische Handwerk lernte, ohne sich in irgend einer Weise besonders hervorzutun. Schwitters, dessen stimmungsvolle, aber völlig konventionelle Gemälde sich an das Vorbild Rembrandt anlehnten, hatte bezeichnenderweise keinerlei Kontakt zur künstlerischen Avantgarde, die gerade in Dresden bedeutend war (Die Brücke
).
Es ist anzunehmen, daß Schwitters sehr früh zu schreiben begonnen hat und daß vor allem etliche Gedichte damals entstanden sind; erhalten sind aber nur fünf Gedichte aus der Akademiezeit (DLW 1/32-35). Insbesondere Herbst
und Ich schreite hinaus
sind romantisch-melancholische Gedichte in einem eklektizitischem Ästhetizismus, wie ihn als prominentester Dichter der Zeit Hermann Hesse vertrat. Trotz einer gewissen Bewegtheit, die man als expressionistisch beeinflußt deuten könnte, gehört dazu auch Aprilwetter (Sonett)
. Bemerkenswert (nicht für sich genommen, aber in der weiteren Entwicklung des Dichters) sind Unter Blütenbäumen
und Ich sing mein Lied
: in dem einen Text wird eine stimmig-idyllische Frühlingslandschaft, im anderen der melancholische Gestus des Empfindsamen ironisch entwertet. Die geradezu provozierende Konvention z.B. von Unter Blütenbäumen
in inhaltlicher wie in formaler Sicht (4hebige, jambische, 4zeilige Kreuzreimstrophen mit abwechselnd weiblichen und männlichen Ausgängen) wird im letzten Drittel auf der Inhaltsebene unterlaufen: die Konvention wird von innen ausgehöhlt, ihre Glaubwürdigkeit hinterfragt und letztlich verneint. Diese vorerst noch ironische Distanz, die ja selbst eine lange Tradition hat und die für sich alleine die Konvention noch nicht gefährden kann, steht am Anfang von Schwitters' Auseinandersetzung mit der Kunstkonvention und ihrer Tragfähigkeit für künstlerische Stringenz und persönlichen Ausdruck.
Die Distanz zu den überlieferten Formen gewinnt erst an künstlerischer Sprengkraft, wenn neue Ausdrucksmittel gefunden sind, und diese suchte Schwitters offenbar schon seit längerem. Überraschenderweise schreibt er bereits 1910 (DLW 5/26-34) einen wohl als Buch geplanten fragmentarischen Aufsatz, in dem er die abstrakte Kunst verteidigt – allerdings ohne daß dies in seinem Werk irgendwelche Spuren hinterlassen hätte. Biographisch konnte sich Schwitters offenbar erst von der ästhetizistischen Konvention lösen, als er die Autorität der Lehrer nicht mehr spürte, durch seine Heirat und den Abschluß der Ausbildung auf eigenen Füßen stehen mußte und nicht zuletzt auch infolge des Krieges, an dem er nur kurzzeitig beteiligt war. Schwitters holt nun ab ca. 1916/17 in kürzester Zeit die Schritte nach, die ihn an einige der avanciertesten Positionen der damaligen Avantgarde bringen – im künstlerischen Werk abstrakter Expressionismus, im dichterischen die Schule der Wortkunst
– wobei beide Fäden im Sturm
, herausgegeben von Schwitters' späterem Vertrauten Herwarth Walden, zusammenlaufen.
Besonders in den Jahren 1917-1918 entsteht eine relativ große Anzahl von Gedichten, die überwiegend ihre Basis in der Wortkunsttheorie und dem Werk des von Schwitters bewunderten August Stramm haben und sich auch kaum bemühen, diese Wurzeln zu verschleiern, z.B.:
Graugrüne Gier
Tag entgraut.
Drähte drahten in der Drähteluft.
Grau grünen Drahtgehirne.
Himmel welkt Faden Regen.
Ströme grauen Blutes drahten.
Hinrastet gelb Elektrische.
Eifern Pfützen Blut. (DLW 1 S. 38)
Der Bruch mit früheren Verfahrensweisen ist offensichtlich; die Frage bei diesem und ähnlichen Texten stellt sich vielmehr nach der Originalität gegenüber dem Wortkunstkreis, sind doch offenbar Verfahren mit einem hohen Wiedererkennungswert wie Konzentration (in anderen Texten auch Dezentration), radikaler Zeilenstil, Synästhesien usw. übernommen. Wie jedoch Scheffer gezeigt hat174, besteht das innovative Moment Schwitters' in dieser Werkphase vor allem in der oft ironischen Problematisierung der Strammschen Herauslösung des Einzelwortes aus seinem Kontext, die eine Neigung zum Absurden erkennen läßt:
Nächte
Gedicht 7
Innige Nächte
Gluten Qual
Zittert Glut Wonne
Schmerzhaft umeint
Siedend nächtigt Brunst
Peitscht Feuer Blitz
Zuckend Schwüle
O, wenn ich das Fischlein baden könnte! (DLW 1/40)
In seiner Situation als kreativer Epigone verfährt Schwitters auf zweierlei Weise mit dem etablierten Fundus der Wortkunst
: zum einen radikalisiert er die Verfahren, verschärft die Polyvalenzen und die Ich-Dissoziation, die eine Referentialisierung noch mehr erschweren als Stramm-Texte, zumal auch das Assoziative stärker herausgearbeitet wird; zum anderen aber findet eine Ironisierung statt, indem die Dissoziierung bis zur Groteske vorangetrieben wird (durch die Einbeziehung unpassender
Wendungen), was dann wiederum Rückwirkungen in der Rezeption auf die befremdlichen, aber ansonsten noch als ernst
rezipierten Gedichtteile, schließlich auf das ganze Gedicht und damit letztlich auch auf den Wortkunst-Stil hat.
Die Parallele zu der bereits vollzogenen Distanzierung von der ästhetizistischen Konvention ist offensichtlich. Nach anfänglicher Teilhabe am avantgardistischen, aber doch bereits etablierten Fundus wendet sich Schwitters erneut davon ab175; dabei vollzieht sich jedoch kein radikaler Bruch, sondern eine allmähliche Aushöhlung, die im Einzelfall – in der Übergangsphase – nicht genau als solche kenntlich sein muß. Am Ende steht die Aufgabe der alten Formensprache zugunsten einer neuen – doch zeigt sich dabei, daß die scheinbar überwundenen Konventionen auch im Nachhinein noch eine große Anziehungskraft ausüben.
Dadaphase
Schwitters' Biographie wird gewöhnlich so geschrieben, daß man eine konventionelle Werkphase ab 1916/17 von einer spätexpressionistischen unter dem Einfluß des Sturm-Kreises verdrängt sieht, die dann wiederum ab 1919 von der Merz-Kunst abgelöst wurde, die in mehr oder weniger enger Relation mit dem Dadaismus steht. Eine genuin dadaistische Phase hat darin keinen Platz mehr. Aber was fängt man dann mit einem Text wie diesem an:
Undumm
So höre glant schrein qualte Morea
Mamauer gleiß verlarnte du ich singe
Schrill glutet glant équalte fein
Wie Räderachsen schreien schrein
Glut qualte leiberheiß verlarnte Schein
O höre! E verlarnte qualte Qualen.
Sidu Sibeelee platscht der Mond
O siehe du, oh singe mit,
Libeelee goldet Glotea.
Doch Quaale Traum erdrosselt meine Singe. (DLW 1/39)176
Dieser Text aus Schwitters' Wortkunstphase steht fast einzig im literarischen Werk, Parallelen hat er allenfalls in einigen Stempelzeichnungen177 und Aquarellen um 1918, im – überlieferten – literarischen Werk konnte ich keinen Text finden, der derart konsequent über die Wortkunst hinausgeht, ohne sich doch zugleich in das Merzkonzept zu fügen; in einzelnen Passagen jedoch, z.B. auch in Welt voll Irrsinn
178 (DLW 1/51) ist eine ähnliche Tendenz weniger konsequent ausgestaltet vorhanden. Scheffer (S. 51f), der nicht mit dem Epochenbegriff Dadaismus
arbeitet, stellt an dem Gedicht trotz der Distanz zum normalen lyrischen Sprechen getreu seiner impliziten Voraussetzungen von der Hartnäckigkeit
von Konventionsresten gegenüber der Grenzüberschreitung zur phonetischen Poesie Rudimente konventioneller Lyrik fest, so die Ich-Du-Beziehung, die demonstrative Selbstdestruktion des lyrischen Ich am Ende, die Anspielung auf das Singen
, das alte Metonym für dichten, und allgemein die zumindest ansatzweise Referentialisierbarkeit.
Das ist zweifellos richtig, doch ist damit dem bemerkenswerten Umstand nicht ausreichend Rechnung getragen, daß mit diesem Gedicht erstmals in Schwitters' Werk überhaupt an der Grenze zur Lautdichtung gerührt worden ist. Damit hat er eine Konsequenz gezogen, die die Wortkunstdichtung zwar nicht mitträgt, aber doch entscheidend vorgeprägt hat179: Kennzeichen der Wortkunstästhetik war es gerade (im Unterschied zum mainstream-Expressionismus
), die Substanz der Sprache anzugreifen, Worte als Material verfügbar zu machen und das menschliche Sprechen getreu den damals weit verbreiteten Vorstellungen einer adamischen, nicht arbiträren Sprache zu läutern. Einige Reste der Wortkunst-Poesie lassen sich im Text auch ausmachen: dazu würde ich den Gebrauch aussagekräftiger bzw. pathetischer, z.T. auch onomatopoetischer Wörter zählen wie schrei(e)n
, schrill
, Glut
, Qualen
, platschen
; ferner die Überschreitung der Wortarten (z.T. auch als Verknappung der Wörter deutbar – Verlust von Vorsilben etc.) in qualte
bzw. Quaale
, gleiß
, glutet
, goldet
, Singe
und der verwandte Prozeß der Neologismenbildung in Räderachsen
, leiberheiß
. Diese Worte sind hier problemlos verstehbar; ein Blick auf andere Gedichte der Wortkunstphase zeigt, daß dort sogar radikalere, z.T. nicht mehr referentialisierbare Neologismen eingeführt sind wie zerdomen
180, aufgeschleimt zerblattet
181 oder Fichtenüberwölbt
182. Wie schwer nachvollziehbar diese Wortfügungen im Einzelfall auch sein mögen, so dienen sie doch einem Ausdruck
, durchbrechen den pathetisch-expressionistischen Gestus keineswegs.
In einem dritten Schritt vollzieht Schwitters aber nun endgültig den Eingriff in den Sprachstand selbst, der sich nun nicht mehr ohne weiteres durch das Streben nach poetisch-emotionalem Ausdruck erklären läßt; er wird im vorliegenden Text durch das Wort verlarnte
(zweimal), evtl. noch durch Libeelee
repräsentiert - scheinbar willkürlich und ohne Erweiterung des Bedeutungspotentials werden Vokale ausgetauscht oder eingefügt. Ein Vergleich mit anderen Texten der Zeit offenbart, daß Eingriffe dieser Art, die zwar die Semantik noch eindeutig erkennen lassen, aber sinnlos
und demonstrativ die Konventionen der Sprache angreifen, eine seltene Ausnahme darstellen: diese Maßnahme ist nicht mehr durch die Wortkunstpoetik gedeckt, deren Ziel nicht eine Sinnentleerung der Sprache, sondern im Gegenteil eine enorme Aufladung an Bedeutungskapazität war. Konsequenterweise vollzieht sich in einer erheblich zahlreicheren Gruppe von Wörtern, die sich nicht endgültig referentialisieren lassen, endgültig der Schritt zum Nonsens
: glant
, Morea
, Mamauer
, équalte
, E
, Sidu
, Sibeelee
, Libeelee
, Glotea
. Mit Ausnahme von Morea
, was ein unüblicher Name für den Peloponnes ist, ist keines dieser Wörter verstehbar
; und daß Morea diese Bedeutung hat, hilft offenbar überhaupt nicht weiter, den meisten der Rezipienten dürfte dieser Umstand ohnehin unbekannt sein – man kann nicht einmal ausschließen, daß Schwitters selbst die Bedeutung dieses Wortes nicht kannte.
Manche der Wörter verweisen von ihrem Lautstand her auf bekannte Wörter oder (unschärfer) rufen Assoziationen an bestimmte Wortgruppen auf. Bei Libeelee
etwa wird man sofort an das Insekt denken, doch sind in dem lautlich verfremdeten Wort auch Anspielungen an Liebe
eingeschlossen, was sich in der Variante Libselee
(ein Druckfehler?) noch verschärft. In beiden Fällen ist der lautliche Bezug zu Sibeelee
hergestellt, das sich aber überhaupt nicht ohne unzulässigen Aufwand an Phantasie deuten läßt. Auch bei glant
(elegant
, Glanz
), équalte
(qual-
), Sidu
(Sieh du
) und Glotea
(Glotta
, griechisch Stimmritze im Kehlkopf) lassen sich Verbindungen herstellen, doch können diese im Gegensatz zu verlarnte
-verlernte
keine Verbindlichkeit mehr beanspruchen; Bedeutung
muß eher gesucht werden, indem man die Verbindung Morea
-Glotea
erkennt und den Verweis auf die Sprachlichkeit und Akustik herstellt, der in dem Gedicht in zahlreichen Wörtern von höre
bis singe
deutlich wird; ein ähnliches Beispiel ist E
, das in Analogie zu dem ebenfalls bedeutungslosen Ausdrucksgestus O
gebildet ist und andererseits dazu neigt, als rudimentäres Personalpronomen ich
oder er
rezipiert zu werden; schließlich ist es eine Anspielung auf équalte
, Sibeelee
und Libeelee
.
Die grammatische Fügung der Worte wirkt demgegenüber nicht besonders außergewöhnlich, aber durch die Vielzahl vehementer Eingriffe in den Wortbestand wird das Gedicht auch bei mehrmaligem Lesen nicht verstehbar
. Und dennoch erhält es einen Sinn auch jenseits der Verweisungsfunktion auf die Materialität der Sprache: die Destruktion der Sprache wird nämlich nicht nur praktiziert, sondern auch thematisiert. Dreimal bzw. viermal (rechnet man Sidu
dazu) fordert der Text das Du zur Rezeption auf (So höre ... O höre ... Sidu ... o siehe du
), das Ich dagegen scheint sich nicht zwischen singen
(V.2) und schreien
(V.1, 4; schrill
V.3), das seine Qualen ausdrückt (V.1, 3, 6), entscheiden zu können. In V.8 fordert es programmatisch das Du zur Teilhabe, zur Verbindung von Rezeption und Produktion183 auf: O siehe du, oh singe mit
, wodurch sich in V.9 idyllische Perspektiven andeuten (Libeelee goldet Glotea
– das Sprechen wird, so könnte man überzogen ausdeuten, einerseits durch die fliegend leichte Natur und andererseits durch die Liebe vergoldet
). Im letzten Vers jedoch wird das Ich brutal aus seinen Fiktionen gerissen, die Singe
unterliegt dem Quaale Traum
, sie wird von ihr erdrosselt
, was nicht nur ein sehr plastischer, konkreter Ausdruck ist, sondern auch noch eine Anspielung auf den Singvogel Drossel enthält. Somit wird also im Gedicht der Sieg des unartikulierten Schreis über den kunstvollen Gesang auf doppelte Weise dargestellt; der Schritt von der Bedeutungsaufladung durch die Wortkunst zur Bedeutungsentleerung wurde getan: was an diesem Text des Übergangs noch deutbar ist, ist seine über ihn hinausweisende Neigung zur Selbstzerstörung, der Grenzbereich zur phonetischen, konkreten
Poesie ist erreicht. Der Titel spiegelt dies auf seine Weise wieder, indem er einerseits paradox und verspielt seine Relevanz zu erkennen gibt und andererseits (besonders in der Fassung Umdumm
) dem lautlichen Kontext eine dem semantischen mindestens gleichberechtigte Position einräumt.
Ist dies ein Dada-Text? Wenn wir ihn auf die einleitend referierten Kriterien Sheppards hin überprüfen, ergibt sich durchaus einige Übereinstimmung bei der Ausgeliefertheit des Menschen an dynamische, fremde und oft zerstörerische Gewalten (die Qualen des Ich, die Bewegtheit des Textablaufs), in der tendenziell vitalistischen Rationalismuskritik (schreien
als Selbstausdruck), in der Sprachkritik (das Singen
ist nicht mehr erreichbar, die Semantik wird aufgegeben), Offenheit für Zufälle und Assoziationen. Andere Merkmale wie Primitivismus und Spiritualität können aus dem Gedicht kaum heraus–, wohl aber hineingelesen werden.
Resümee: Aus der teilweise epigonalen, dann aber zunehmend produktiv rezipierten Wortkunstästhetik entwickelt sich durch Radikalisierung der Verfahren und Distanz zum weltanschaulichen Kontext eine Bewegung zum Dadaismus hin, die sich tendenziell in fast allen Schwitters-Texten dieser Phase, ausdrücklich aber nur in sehr wenigen184 zeigt. Aus diesem Grund wäre es übertrieben, von einer Dada-Phase zu sprechen, wenn auch die Entwicklung diese Richtung einschlug; zumindest war Schwitters vorbereitet, nach dem Zurücklassen einer der progressivsten Konventionen einen eigenständigen Weg in der vordersten Reihe der Avantgarde zu gehen.
Creator of Merz
steht auf Kurt Schwitters' Grabstein, und mit diesem von ihm geprägten Begriff ist er in die Literatur- und Kunstgeschichte eingegangen. Die Auffindung (1919) und die Polyvalenz des Begriffs sind hinlänglich bekannt; die Herkunft von Commerz
kann ebenso als Kritik an einer kommerzialisierten Kunst wie als ironischer Verweis auf das eigene Geschäftstalent verstanden werden; das Wort ist homophon mit dem Monat März, der als erster Frühlingsmonat ebenso wie als Zeitpunkt der revolutionären Ereignisse von 1848, die in den unruhigen Umständen des Jahres 1919 eine Parallele hatten, auf allgemeinen Aufbruch hindeutet; Merz
deutet auf die Banalitäten Herz
und Schmerz
hin; schließlich, und das ist wohl zentral, verweist es auf das Wort ausmerzen – die Bedeutung von (ein-) merzen
wäre somit eine etwas gewaltsame Zusammenstellung und Vereinung, womit die gewöhnlich unter dem Namen Collage
bzw. Montage
185 bekannten Techniken gemeint sind.
Der zweite entscheidende Durchbruch (der erste war von der Konvention zur Avantgarde), der von der Avantgarde-Konvention hin zum eigenen Stil führte, ist begleitet von einer umfänglichen theoretischen Auseinandersetzung186, die in den ihm nahestehenden Zeitschriften und den eigenen Veröffentlichungen Schwitters' stattfand. Noch im Jahr 1919 publizierte Schwitters Die Merzmalerei
187, Selbstbestimmungsrecht der Künstler
188, zwei verschiedene Texte mit dem Titel Die Merzbühne
189 und schließlich Erklärungen meiner Forderungen zur Merzbühne
190. Darüber hinaus beginnt nun auch noch die Auseinandersetzung mit der Kritik in Tran 1191 und Du meiner, ich deiner, wir mir
192.
Die Merzmalerei
Von diesen frühen programmatischen Schriften ist nur die zuerst genannte (die wohl älteste) nach den Kriterien von Backes-Haase thematisierend (sachlich darlegend im Gegensatz zu praktizierend, die Verfahren zugleich anwendend), die Merzbühne-Aufsätze stellen eine Zwischenform dar. In diesem frühen Manifest gibt Schwitters eine sehr knappe, aber schon äußerst präzise Darstellung seiner Verfahren: Abstraktion, Zusammenfassung, Entformung
bzw. Entformeln
und Wertung verschiedenster Materialien zum Zweck des unmittelbaren Ausdruck[s] durch die Verkürzung des Weges von der Intuition bis zur Sichtbarmachung des Kunstwerkes
. Dann schließt Schwitters seine Ausführung mit den Worten:
Diese Worte sollen das Einfühlen in meine Kunst denen erleichtern, die mir zu folgen ehrlich bereit sind. Allzuviele werden es nicht wollen. Sie werden meine neuen Arbeiten so empfangen wie sie es immer getan haben, wenn das Neue sich zeigte: mit Entrüstung und mit Hohngeschrei.
Einzig in dieser Schlußpassage zeigt sich der Unterschied zu späteren Manifesten, nicht nur darin, daß die Prognose obsolet geworden ist, indem sie sich erfüllte. Wenn Schwitters von Einfühlen
spricht, gebraucht er damit unbewußt einen zentralen Terminus bürgerlicher Ästhetik, eine Ästhetik, zu der sich auch die leicht weinerliche, melancholische Geste des Unverstandenen fügt, die sich deutlich abhebt von der provokant-selbstsicheren, das Überkommene verachtende Geste, mit der avantgardistische Neuerer sonst aufzutreten pflegen und die auch Schwitters sehr bald, wenn auch mit einigen Spezifika, übernommen hat. Der eigentliche Inhalt des Manifests jedoch, und dies sei hier noch einmal gesagt, umreißt bereits das volle Programm. Zwar ist noch von Merzmalerei
die Rede, doch ist bereits in der Formulierung Zusammenfassung aller erdenklicher Materialien für künstlerische Zwecke
der universelle Anspruch entworfen, dem Schwitters in Theorie und Praxis zu genügen suchte.
Selbstbestimmungsrecht der Künstler
Selbstbewußter gibt sich Schwitters in Selbstbestimmungsrecht der Künstler
, dem ersten Manifest der Merz-Dichtung. Im Unterschied zu Merzmalerei
handelt es sich hier um ein praktizierendes Manifest.
Was heißt dichten? 2 x 2 = 4, das ist noch kein Gedicht. (Die Luftlinie Syrakus, Butterbrot, Zentralheizung.) Es ist sehr schwer, eine Aussage dichterisch zu verwenden. Stramm schlagen tausend, ja sogar Millionen. (Reinigungssalz findet Anwendung bei den verschiedensten Magenbeschwerden.) Stramm schlagen tausend, ja sogar Millionen. Stramm war der große Dichter. Die Verdienste des Sturm um das Bekanntwerden Stramms sind sehr. Die Verdienste Stramms um die Dichtung sind sehr.
Ähnlich wie in anderen, besonders frühen Merztexten treten die Nahtstellen zwischen sinnvollem
und sinnlosen
Text recht offen zutage, wenn auch schon eine gewisse Durchdringung stattgefunden hat. Die Frage danach, was dichten sei, wird nicht beantwortet, Schwitters grenzt sich nur von der 2 x 2 = 4
-Logik ab. Einzig die darauffolgende Klammerbemerkung scheint ebenso ein Beispiel für die Praxis wie auch eine Erklärung
der Theorie zu sein, indem das Entfernte und das Nahe eine groteske Verbindung eingehen. Dann benennt Schwitters den für seine Entwicklung wichtigsten Dichter in Stramm und erweist dem Sturm, wo der Text ja auch abgedruck wurde, seine Referenz – doch bleibt er damit seltsam ambivalent. So kann der Satz Stramm schlagen tausend, ja sogar Millionen
einerseits verstanden werden es gibt zahllose bessere Dichter als Stramm
, andererseits als ein Stilzitat, dessen pathetische Syntaxauflösung in nicht exakt semantisierbarer Weise auf die enorme Größe des Dichters weist, ähnlich wie Stramm war der große Dichter
.
Zwischen dem Satz und seiner identischen Wiederholung hat sich ein ins Groteske vermerzter Werbespruch eingeschlichen, der das Strammsche Pathos fast spöttisch konterkariert; das Reinigungssalz
scheint auf die Sprachläuterung der Wortkunsttheorie anzuspielen, während die Magenschmerzen
193 an einen ins triviale verzerrten expressionistischen Weltschmerz erinnern, an dem die saure Seele
(DLW 5/189) leidet. Das unterlaufene Pathos und die ambivalente Verweigerung einer eindeutigen Aussage findet seinen Höhepunkt in den beiden verkürzten Schlußsätzen der zitierten Passage. Die Auseinandersetzung mit der Wortkunstästhetik findet sich implizit noch an anderen Textstellen: (Der Gemeine muß jedem Offizier Achtung und Gehorsam erweisen.)
– Stramm war im Krieg Offizier, im übrigen ist damit natürlich auf den großen Dichter
angespielt – und Reim, Rhythmus und Ekstase dürfen nie zur Manier werden
. Erst im Schluß findet Schwitters zu einem unzweideutigen Bekenntnis zum Sturm und zu Walden, den er hoch geschätzt hat, ein Bekenntnis, das er aber mit der Förderung, die er als unbekannter Künstler erfahren hat, begründet. Das eigentliche literarische Programm Schwitters' findet sich im Mittelteil:
Abstrakte Dichtung.
Die abstrakte Dichtung wertet Werte gegen Werte. Man kann auch Worte gegen Worte
sagen.
Das ergibt keinen Sinn, aber es erzeugt Weltgefühl, und darauf kommt es an. (...)
Totalerlebnis grünt Hirn, jedoch auf die Formung kommt es an.
Reim, Rhythmus und Ekstase dürfen nie zur Manier werden. (...) Das ist die abstrakte Dichtung.
Die Merzdichtung ist abstrakt. Sie verwendet analog der Merzmalerei als gegebene Teile fertige Sätze aus Zeitungen, Plakaten, Katalogen, Gesprächen usw., mit und ohne Abänderungen. (Das ist furchtbar.) Diese Teile brauchen nicht zum Sinn zu passen, denn es gibt keinen Sinn mehr. (Das ist auch furchtbar.) Es gibt auch keinen Elefanten mehr, es gibt nur noch Teile des Gedichtes. (Das ist schrecklich.) Und ihr? (Zeichnet Kriegsanleihe!) Bestimmt es selbst, was Gedicht, und was Rahmen ist.
abstraktenDichtung. Der Begriff ist in erster Linie als Abgrenzung gegen mimetische Dichtung zu verstehen: Dichtung soll Realität nicht abbilden.
Sinnab. Das ist problematisch, denn Sinn kann hier nicht einfach das Gegenteil von Willkür sein, denn von dieser setzte sich Schwitters mehrfach ab; dies zeigt auch schon ein Blick auf die Dichtungen. Hier nur einige Anhaltspunkte zu diesem komplexen Thema: Das Verhältnis zwischen
Sinnund Avantgarde ist komplex, und mit dem Wort
Nonsensist zuerst einmal wenig geholfen, denn wenn wir diesen Terminus in seiner konsequentesten Bedeutung nehmen, hätte die Beschäftigung mit dieser Literatur keinen
Sinnmehr, sie wäre wertloses Willkürerzeugnis. Die Texte Schwitters' sind auf jener Sprachebene
sinnlos, wo wir sonst
Sinnanzusiedeln gewohnt sind, nämlich auf der Referenzebene. Dort wo mit Hilfe einer rational gesteuerten Anwendung von Sprachkonventionen Sprache mehr oder minder als Werkzeug dient – so wie hier – sind Verstöße gegen die Konvention einzig als Fehlleistungen begreifbar; geschehen diese mit Absicht, sind sie überhaupt nicht mehr verstehbar und werden als Unsinn eingestuft. Dies war es, wogegen sich Schwitters in erster Linie aussprach – sogar in der radikalen Formulierung, daß es überhaupt keinen Sinn mehr gebe, bezogen zwar auf das Gedicht, aber mit Implikationen für die Lebenswelt. Sprache hat über ihre Mitteilungsfunktion hinaus aber noch (mindestens) eine andere. Die als
Bilddimensionfaßbare Sprachfunktion widerspricht der Bedeutungsdimension mindestens partiell. Ursprünglich als reiner Sprachschmuck begreifbar, setzte sie sich mehr und mehr als
Aufschubder Mitteilungsfunktion durch, um dem Rezipienten vertiefte, spezifisch künstlerische Erkenntnis zu ermöglichen. Da sie aber alleine schon wegen ihres Alters etabliert ist und selbst reduplizierbare Konventionen ausprägt, verliert sie diese Funktion, werden ihre Bilder abrufbar. Damit hat die Bilddimension eine potentiell selbstkritische Dynamik (
Reim, Rhythmus und Ekstase dürfen nie zur Manier werden), da dieses künstlerische
Hindernisnur aufgestellt werden kann, wo die Rezeption der Bilder noch neu und fremd ist; die poetische Sprache wird damit unter Innovationsdruck gestellt und erfährt ein reflexives Moment. Die aufgrund dieses Innovationsdrucks immer weiter radikalisierte Bilddimension in der avantgardistischen Moderne drängt schließlich die Bedeutungsdimension zurück bis zu deren Verschwinden194, die Kluft zwischen Alltags- und poetischer Sprache vertieft sich, vom Rezipienten werden immer größere Leistungen verlangt. In dem typischen, auftrumpfenden Manifestgestus liest sich dies dann als völlige Aufgabe des Sinns. – Daß für Schwitters selbst die Frage nach
Sinnund
Unsinnnahezu belanglos gewesen ist, zeigt, daß er
Sinnnur in einer engen Bedeutung versteht. So erscheint in DLW 5/77 – s. unten – der Sinn als ein Faktor neben anderen, der die (einzig relevante) Sphäre künstlerisch konsequenter Gestaltungslogik überhaupt nicht berührt.
primäreEinbeziehung von Realität auch als Kompensation für den Verlust der sekundären der Bedeutung195. Diese unmittelbare Realität bewahrt den Dichter vor esoterischem Abdriften und drückt die Dynamik und Simultaneität des Lebens aus, besitzt also vitalistische Implikationen. Damit ist nicht gesagt, daß sich der Künstler gegen das Geistige ausspricht, doch versucht er sich vor (z.B. spätexpressionistischen) Verlogenheiten zu hüten, indem er die Dynamik z.B. der politischen Realität oder – wie Schwitters es bevorzugt tut – die Banalität alltäglichen Sprechens ins Kunstwerk hineinnimmt, das dort ein oft erstaunliches Potential an
Sinnentwickelt.
gewertet. Hinter diesem etwas dunklen Begriff verbirgt sich für die Dichtungen der einfache Umstand, daß die Realitätspartikel keineswegs willkürlich ins Kunstwerk aufgenommen werden, wie dies an dem oben gezeigten Beispiel klar geworden sein dürfte. Schwitters kommentiert diesen Vorgang mit dem Satz
Das ergibt keinen Sinn, aber es erzeugt Weltgefühl, und darauf kommt es an, wobei nicht klar ist, ob er sich auf den davor stehenden Satz bezieht oder auf den Vorgang des Wertens überhaupt. In jedem Fall steht am Ende ein etwas diffus mit dem Ausdruck
Weltgefühlumschriebenes Kunsterlebnis, das an die Stelle des
Sinnstritt; einzig an dieser Stelle im Manifest erklärt Schwitters seine Verfahren nicht ex negativo bzw. demonstriert und beschreibt sie, sondern benennt den Zweck des Ganzen.
Weltgefühlkann dabei doppeldeutig aufgefaßt werden als emotionale Variante von
Weltanschauungoder, und dies trifft ebenso zu, als Gefühl für die Totalität und Simultaneität der Welt als ganzer.
Man kann es als Schwachpunkt des gesamten theoretischen Werks von Schwitters (nicht nur zu diesem frühen Zeitpunkt) sehen, daß er dort, wo er die positiven Aspekte seiner Kunst, den Sinn von Kunst überhaupt erklären will, in die Begriffswelt der bürgerlichen Ästhetik zurückfällt. In ästhetischen Ansichten wie den (durchaus repräsentativen) folgenden würde man nicht gerade einen Avantgardekünstler wie Schwitters vermuten:
Uns ist Kunst immer geformter Ausdruck religiösen Erlebens (DLW 5/56).
Einen das Soziale fördernden Zweck kann die Kunst nie haben, da sie sich ihrem Wesen nach nur um die Gestaltung kümmert. Aber man darf deshalb nun nicht den allgemein menschlichen Wert der Kunst auch im sozialen Staate unterschätzen. Denn gerade die Beschäftigung mit den Dingen, die nicht direkt notwendig sind für die wichtigsten Erfordernisse des Lebens, macht den Menschen frei von den kleinen Dingen des Alltags, erhebt den Menschen über sich selbst und seine Leidenschaften. (DLW 5/238)
In dieser Hinsicht ist Huelsenbecks Vorwurf an Schwitters, nicht über eine kauzig-versponnene Bürgerlichkeit hinausgekommen zu sein196, berechtigt. Es gehört zu seinen charakterlichen Grundzügen, die Mittel zu revolutionieren, in den Zielen aber im Rahmen des Gegebenen zu bleiben – so etwa auch in seinen ethischen, politischen und religiösen Ansichten.
Die radikalste Ausprägung Schwitterscher Kunstutopie findet sich in seinen Aufsätzen zur Merzbühne, die damit ihre Zugehörigkeit in die enthusiastische Aufbruchsphase offenbaren, doch auch noch 1923 veröffentlichte er Aus der Welt:
(DLW 5/153-166), da er durch die Bekanntschaft mit Franz Rolan Hoffnung auf eine Realisierung hegte. Der Grundgedanke ist MERZ
die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerks
197 (des Publikums ebenso wie der Schauspieler), das sich weitab vom gängigen, der Dichtung gegenüber als sekundär empfundenen Aufführungstheater bewegte:
Man setze riesenhafte Flächen, erfasse sie bis zur gedachten Unendlichkeit, bemäntele sie mit Farbe, verschiebe sie drohend und zerwölbe ihre glatte Schamigkeit. Man zerknicke und turbuliere endliche Teile und krümme löchernde Teile des Nichts unendlich zusammen. (DLW 5/43, auch 5/40)
Und so fort. Das Manifest bewegt sich sprachlich in so hoher Sphäre, so weit ab von jeder Realisierbarkeit, daß Scheffer nicht ganz grundlos mutmaßt, die sprachliche Aktion habe die reale ersetzt198. Schwitters wird dabei aber nie die wenn auch noch so ferne Möglichkeit der Realisierung aus den Augen verloren haben. Ein späterer Versuch, hier wieder anzuknüpfen, ist die oben erwähnte Schrift von 1923, ein fiktiver Dialog Schwitters'
mit dem Publikum
, wo Schwitters' Ausführungen in die Nähe der Realisierbarkeit kommen. Die Merzbühne ist die radikalste Konsequenz der Merzutopie überhaupt, da sie potentiell die ganze Welt als Kunstwerk betrachtet (wie sich dies mit späteren Aufsätzen zu i
und den Banalitäten
vergleichen ließe), eine Idee, die in der Collage-Ästhetik angelegt ist. Die unübersehbaren Konsequenzen dieser Gedanken – etwa in der Happening-Kunst – haben jedoch in der Literatur kaum Niederschlag finden können.
In der Merzbühnenutopie treffen zwei Dinge zusammen, die sich später bei Schwitters trennen: auf der einen Seite das spätere, umfangreiche Bühnenwerk, das oft geradezu frappierend banal und konventionell ist, daneben die Normalbühne Merz
, ein konstruktivistischer, sehr vernünftiger
Vorschlag für ein universell verwendbares, reduziertes Bühnenbild199; auf der anderen Seite Schwitters' spätere Versuche einer Verbindung von Kunst und Leben durch die Umverwandlung der Alltagswelt in Kunst, so in seinen Sprach- und Schriftreformen, in seinen Schriften zu Typographie und Gebrauchsgraphik, in seiner Beschäftigung mit Architektur. Die Verbindung dieser Komponenten Gesamtkunstwerk und Theater findet ihren einzigen Niederschlag in den wenigen experimentellen Bühnenstücken, insbesondere in Zusammenstoß
(1927, DLW 4/33-84) und Oben und unten
(1929, DLW 4/89-119) – beides sehr bemerkenswerte Werke, auf die ich hier leider nicht mehr eingehen kann.
Merz
Ausführlicher und deutlicher artikuliert Schwitters sich in dieser Phase in Merz (Für den
(DLW 5/74-82). Darin führt er zuerst seine Kritik am Ararat
geschrieben 19. Dezember 1920)Abmalen
aus, sodann aber auch am subjektiven Ausdruck: Kunst ist ein Urbegriff, erhaben wie die Gottheit, unerklärlich wie das Leben, undefinierbar und zwecklos
200. Kunst wird durch den Zweck profaniert, und als Zweck ist auch der subjektive Ausdruck anzusehen. Damit zeigt sich, daß sich Schwitters' Kunst tatsächlich nur ex negativo bestimmen läßt, da sie als läuternder Verzicht auf das Überflüssige, Störende zu sehen ist – ganz klar eine Parallele zu Hugo Balls Lautgedichten201.
Nach dieser den persönlichen Werdegang des Künstlers202 ebenso wie die Entwicklung der Kunstgeschichte referierenden Darstellung äußert sich Schwitters zu den künstlerischen Verfahren der Merztechnik. Die immer wieder bekräftigte Behauptung Das Material ist so unwesentlich, wie ich selbst. Wesentlich ist das Formen.
tendiert in der Kunst ebenso wie in der Dichtung dazu, das Eigengift
des Materials zu vernachlässigen und dem Werk damit eine bedeutende Wirkungsfunktion abzusprechen, wie schon mehrmals kritisiert wurde203. Merz ist für Schwitters eine Weltanschauung, die im wesentlichen für Toleranz und Freiheit (im Gegensatz zu Willkür) plädiert. Der Abschnitt über Schwitters' Dichtkunst ist charakteristisch:
Elemente der Dichtkunst sind Buchstaben, Silben, Worte, Sätze. Durch Werten der Elemente gegeneinander entsteht die Poesie. Der Sinn ist nur wesentlich, wenn er auch als Faktor gewertet wird. Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich den Unsinn. (DLW 5/77)
Die ersten beiden Sätze stellen deutlich die konstruktivistisch-rationale Geste zur Schau: basierend auf scheinbar unumstößlichen (in Wahrheit wohl recht nichtssagenden) Grundsätzen vermittelt Schwitters den Anschein, als wolle er Poesie gleichsam deduzieren aus ihrer Definition. Diese Logik
deckt aber nur einen Aspekt der Dichtungen ab204 – der andere, der Unsinn, scheint dieser diametral entgegengesetzt. Schwitters versucht nicht das Unmögliche, den Unsinn aus der Dichtung deduzieren zu wollen, sondern er stellt seine Entscheidung als persönliche Willkür dar; in seinem System widersprechen sich Konstruktionslogik und Unsinn nicht, weil sie verschiedene Ebenen des Kunstwerks betreffen. Der Sinn wird aus der Definition der Dichtung herausgenommen und nur als Faktor
gesehen – eine Sichtweise, die allerdings versäumt zu bestimmen, was Sinn
eigentlich sei, die auch unterschätzt, welche prägende Qualität der Sinn
hat – eine vergleichbare Unterschätzung wie die des Materials. Wie dies so oft in manifestartigen und theoretischen Schriften der Fall ist, bleibt die Selbstinterpretation hinter dem Geleisteten zurück und vergröbert es.
Dieser letzte Punkt – die Neigung zum Unsinn
– bildet den Übergang zu einer Abrechnung mit dem Dadaismus, der wie ich den Unsinn kultiviert
. Schwitters setzt sich energisch ab von den Hülsendadas
(eine Anspielung auf seinen persönlichen Feind Richard Huelsenbeck), den er als politisch und antikünstlerisch darstellt; dann aber differenziert er sich ebenfalls von den Kerndadas
, allerdings ohne Angabe von Gründen. Nach einem kurzem Abschnitt über die Plastiken formuliert Schwitters noch einmal seine Merzutopie:
Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. (...) Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen. Das Merzgesamtkunstwerk aber ist die Merzbühne (DLW 5/79).
Schwitters läßt nun das Merzbühnenmanifest folgen und schließt seinen Aufsatz:
Vielleicht werden wir später auch einmal Gelegenheit haben, das Merzgesamtkunstwerk erstehen zu sehen. Schaffen können wir es nicht, denn auch wir würden nur Teile, und zwar Material sein. (DLW 5/82)
Die ausführliche Behandlung am Ende des Aufsatzes zeigt die zentrale Stellung der Idee vom Gesamtkunstwerk in der Merzkunst. Wie schon oben ausgeführt wurde, bedeutet Merz nicht das Einwirken des Lebens auf die Kunst, sondern das Ausgreifen der Kunst ins Leben205. Das Ziel des Künstlers dabei ist es, als Material im eigenen Kunstwerk aufzugehen, ein Kunstwerk, das damit nicht mehr das eigene ist, sondern selbsttätig wächst – wie dies am ehesten bei Schwitters' erstem Merzbau der Fall war.
Tran
Zwischen 1919 und 1924 ist eine Serie von Artikeln entstanden206, die Kurt Schwitters unter dem Etikett Tran
versah. Darin setzt er sich in gewöhnlich sehr polemischer Weise mit ablehnenden oder sonst unverständigen Kunstkritiken auseinander. Der Stil schwankt zwischen sachlicher Darlegung der eigenen Standpunkte und – z.T. höchst gelungener – Applizierung avantgardistischer Schreibverfahren, insbesondere der Merztechnik. Häufig angewandtes Verfahren ist ferner ein groteskes Wörtlichnehmen der Schwitters zugeschriebenen Prädikate und Wendung der gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe auf den Kritiker (beides z.B. in Tran 19. Mein Zerfahren gegen Paul Westheim (...)
). Die sehr amüsant zu lesenden Aufsätze dienen zur Festigung des theoretischen Hintergrundes und hinter aller Polemik als exoterische
Werbe- und Erklärungsschriften für die Merzidee mit manchmal regelrecht didaktischem Ton; grundsätzlich neue Gedanken sind darin aber nicht zu erkennen. Feststellbar ist eine gewisse Bewegung von der lustvollen Demontage der Einzelrezension zum immer allgemeineren Ansatz, verbunden auch mit einem zunehmend unwilligen Ton gegenüber denen, die ihn immer noch nicht verstanden haben (z.B. Tran 35
). Der Kulminationspunkt ist in der eigenständig publizierten Auguste Bolte
erreicht, deren Bezug zu den Tran-Aufsätzen erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist. Der Grundgedanke des Textes besteht darin, daß sich das platt-rationale Subjekt auf seiner Gier nach der
Erkenntnis als grotesk desavouiert und in dem (durch es selbst angerichten) Chaos ratlos zurückbleibt. Bezeichnend ist der Schluß:
Der Leser denkt nun, hier würde sich etwas ereignen (...) Jedenfalls glaubt der Leser, hier würde es Frl. Dr. Leb erfahren, wer oder was los wäre, aber sie erfährt es nicht. Der Leser glaubt ein Recht darauf zu haben, es zu erfahren, aber der Leser hat kein Recht, jedenfalls nicht das Recht, im Kunstwerk irgend etwas zu erfahren207.
Diese Verweigerung einer gleichsam zählbaren, verwertbaren Erkenntnis ist der Grundtenor auch der kleineren Tran
-Schriften, z.B:
Der Doktor [i.e. Cohn-Wiener]: (...) Wo ist der Zusammenhang zwischen Ihren Bildern und meinen Artikeln? (Der Meisterboxer von Deutschland als Hundeschlächter.) Wo ist der Zusammenhang zwischen Ihren Bildern und meinen Artikeln?
Ich: Sehr. Lieber Herr, sehr. Du Deine: Dich Dir. Ich habe Sie so gern. (Werde mein!) Und muß Ihnen Kummer bereiten!
Der Doktor: Wo sind die Zusammenhänge? (Amorsäle.) Ich: Sehr. Zusammenhänge sind schwer. Es tut mir so sehr208.
Die Tran
-Artikel sind nicht der geeignete Rahmen für eine exakte Formulierung der eigenen Position (über die Negation hinaus), da eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Kritisierten ihrem künstlerisch-polemischem Charakter widerspräche. Freilich sollte darüber nicht übersehen werden, daß auch in den anderen theoretischen Schriften von Schwitters keine voll befriedigende Erklärung für das eigene Schaffen gefunden wurde und daß dies andererseits, wie oben gezeigt, auch dem Umstand zuzuschreiben ist, daß sich Schwitters' Kunst in manchem tatsächlich nur ex negativo bestimmen läßt.
Wie schon gezeigt wurde, tauchen schon in den von der Wortkunst beeinflußten, um 1918 entstandenen Gedichten störende Fremdkörper
auf. Ein etwas später entstandener Text (von Lach – DLW 1/50 – auf 1919-20 datiert) zeigt, wie verschiedene Strömungen in Schwitters' Werk durcheinanderlaufen:
Die Buchführung beim kleinen Handwerker
Ich gehe
Du gehst
Ich gehe
Du gehst
Ich gehe gehe
Du gehst gehst
Geht
Ich laufe
Du läufst
Ich schreie Gier
Du schreist Schrei
Ich stürze Sturz
Du stürzest mich
Schuttabladen verboten!
Drei Tendenzen, die für Schwitters' Werk bedeutend sind, lassen sich aus diesem Text herauslesen.
schreien,
Gierund
stürzenentwickelte, abstrakte Ich-Du-Relation (das Thema schlechthin in der Wortkunst) mit Spannung auf, die auf lautlicher Ebene ihr Pendant im abgehackten Rhythmus hat. Der Kulminationspunkt ist dabei erreicht in der Destruktion des Ich durch das Du, wobei sich das Pathos in der
poetischenWortform
stürzestmanifestiert.
Materialgedicht. Der Beginn des Textes ist eine Variation über das Wort
gehen(zuletzt gesteigert in
laufen), die auf dem Materialbewußtsein der Wortkunst (darauf verweist ja schon ihr Name) basiert.
Berechnetendes äußerst systematisch angelegten, aus wenigen Elementen gleichsam konstruierten209 Gedichtes zu lesen. Diese scheinbar plausible Interpretation sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie sich keineswegs aufdrängt, sondern eine erhebliche metaphorische Distanz überwinden muß, weshalb sie auch durchaus angreifbar ist: der Titel ist heterogen, paßt nicht recht zum Text. Diese Feststellung trifft in einem viel stärkerem Ausmaß auf den letzten Vers zu, der den emotionalen Kontext erheblich
stört– ausgerechnet an dem sensiblen Punkt, an dem der Klimax zu erwarten wäre. Im Unterschied zum Titel ist ein plausibler Bezug relativ leicht herstellbar – das Ich wertet sich indirekt als
Schuttab –, doch ist auch die das Gedicht hinterfragende Tendenz viel deutlicher: mit
Schuttscheint nicht nur auf das Ich angespielt zu sein, sondern auch auf die überholte, zur Sprachkonvention gewordene Technik der Avantgarde von gestern.
Der Text liefert somit ein in seiner Isoliertheit gut analysierbares Beispiel für die Wirkung der Merztechnik in der Dichtung: in einen Text werden keineswegs willkürliche, sondern überaus beziehungsreiche, aber doch immer als Fremdkörper empfindbare Sprachpartikel integriert. Ihre Eigenschaft als Fremdkörper zeigt sich in diesem Beispiel an dem völlig unterschiedlichen Sprachniveau – knappe, trocken sachliche, amtlich-autoritäre versus avanciert dichterische Sprache; sie zeigt sich ferner an der Degradierung210 des abstrakt-emotionalen Inhalt ins Alltägliche, und zwar sogar an dessen unteren Rand211. Der damit erzielte Effekt ist ein mehrfacher. Zum einen, und dies trifft auf diesen Text, wo die Merztechnik isoliert steht, besonders zu, relativiert Schwitters den Anspruch des Gesagten auf poetische Gültigkeit, anders gesagt, er setzt es als Pathos-Bremse
ein. Relativierung bedeutet natürlich nicht Aufhebung: der emotionale Charakter des Textes bleibt erhalten, nur wird er stark in Frage gestellt. Das leitet über zu einem zweiten Gesichtspunkt, der das Merz-Verfahren unterscheidet von klassischen Techniken wie Ironie: ins Werk kommt eine ausgesprochene Polyvalenz, eine Mehrstimmigkeit. Zwar ist dies ansatzweise auch in traditionellen Verfahren der Fall212, doch ist die Radikalisierung unübersehbar. Denn nun ist nicht nur das Niveau der Äußerungen verschieden, sondern auch ihre Herkunft. Verzichtet wird dabei auf eine referentielle Rechtfertigung, verzichtet auch auf eine Auflösung zugunsten eines Gesamtweltbildes213: Völlig unvermittelt prallt die Sprache des Pathos gegen die Sprache eines Hinweisschildes, und beide treten dabei als gleichberechtigt auf. Der Text verliert seine (pseudo-) organische Einheit und demonstriert offen seine Zusammengesetztheit (als Einheit des Vielfältigen). Als wichtigste weltanschauliche Hintergründe lassen sich die Aufgabe hierarchischen Denkens, also ein gleichberechtigtes Nebeneinander des Heterogenen, und die vom Futurismus und Dadaismus importierte Ästhetik des Dynamismus und der Simultaneität ausmachen, aber auch der Verzicht auf eine Sinngebung jenseits des Kunstimmanenten, wie sie nur erklärbar ist nach dem Zusammenbruch umfassender Wertesysteme.
Wie das Merzverfahren aussieht, wenn es zum textbeherrschenden gemacht wird, zeigt folgendes Beispiel:
Himbeerbonbon
Konfitüren sinken Nächte die elegante Frau
In Pulverform
Gelegenheitskauf (anregend, schleimbildend.)
Wohlgeschmack das Frau in Pulver Heiligtum
Es lebe die elegante Frau!
Es lebe die Revolution!
Es lebe der Kaiser! (sinken Nächte.)
Vereinigt euch, alle gegen alle, so müssen Winde sieden.
Schießt Luft!Die Luft muß Löcher
kriegen. Es lebe die durchlöcherte Luft,
das neue Heiligtum (Schleimbildend in
Pulverform.)
Ich sinke einen kalten Affen. (Wohl-
geschmack.)
Ein erster Eindruck von völliger Willkürlichkeit wird bald präzisiert: die Indifferenz der kontingenten Objekte ist es, die nicht nur thematisiert, sondern auch praktiziert wird. Thematisiert wird sie durch die demonstrativ harte Ineinanderfügung von drei verschiedenen Bereichen: die elegante Frau
, die wohl aus Modereklamen stammt; die Werbung für Produkte, neben der Konfitüre
und auch dem Himbeerbonbon
des Titels handelt es sich offenbar um Drogeriewaren (Pulverform
, anregend
, schleimbildend
, Wohlgeschmack
); und schließlich den politischen Idealen, bei denen die unvermittelte Gegenüberstellung der extremen Positionen untereinander ebenso wie insgesamt mit der kommerzialisierten Welt eine doppelte Kritik formuliert. Die Kritik am Kommerz, an der kommerzialisierten Erotik und an den ebenso unglaubwürdigen politischen Idealen spitzt sich schließlich zu zu einer Verhöhnung des neuen Heiligtums
, der (auch im Layout nachvollzogenen) durchlöcherten Luft
– die potenzierte Hohlheit wird zum Abgott erhoben. Der Schlußvers läßt das Ich resignieren (Ich sinke einen kalten Affen
), doch wird auch diese Resignation noch zynisch durch die Werbefloskel (Wohlgeschmack.)
kommentiert – eine Anspielung auf die Flucht in den Alkohol oder auch ironisch die Ursache für die kritische Katerstimmung214. Der Titel des Gedichts schließlich ist eine erneute Anspielung auf die Süßlichkeit der künstlichen Werbewelt.
Hier ist weniger die Aussage des Gedichtes von Belang, sondern mehr die Art, wie diese nicht nur thematisiert worden ist, sondern auch unmittelbar das Gedicht konstituiert. Schwitters spricht nicht über Werbung und Politik, er läßt sie selbst sprechen, bleibt aber dabei in Auswahl, Anordnung und Verfremdung dieser Materialien
dennoch Herr über sein eigenes Werk. Diese Unmittelbarkeit der Materialien verleiht dem Gedicht einerseits futuristisch-bewegte Qualitäten, andererseits beseitigt sie die oft in abstrakter Kunst und Dichtung schmerzhaft empfundene Distanz von der dinglichen Realität; zudem gewinnt es mehr Authentizität und Überzeugungskraft, wo das Material unmittelbar, scheinbar ohne Vermittlung des Autors wirkt. Daß diese Sprachfetzen sehr bewußt angeordnet sind, zeigt nicht nur die Tatsache, daß sich der Text trotz seines oberflächlich inkohärenten Eindrucks relativ plausibel deuten läßt, sondern auch die Systematik in der Verwendung immer gleicher Motive
, wie wir sie schon aus dem zuvor besprochenen Gedicht kennen: Wohlgeschmack
, sinken
(transitiv), Pulver(form)
, (elegante) Frau
, Es lebe
, schleimbildend
sind die Versatzstücke, auf denen der Text aufbaut. Auf diese Weise hat Schwitters einen Weg gefunden, das Konzept seiner Merzkunst auf die Dichtung zu übertragen.
Die überkommene Unterscheidung zwischen Lyrik und Prosa ist nur bedingt auf Schwitters' Werk anzuwenden215. Das äußerliche Kriterium, nämlich die Versifikation, findet sich bei einigen Texten nicht, die Schwitters ausdrücklich als Gedicht bezeichnet oder die sich nur wenig von versifizierten Merzgedichten unterscheiden, z.B. Die Zwiebel. Merzgedicht 8
(DLW 2/22-27), Der Gefangene
(DLW 1/79), Das große Dadagluten
(DLW 5/432f); bei anderen stehen Verse neben Prosapassagen, z.B. Von hinten und von vorne zuerst
(DLW 1/76f) oder Mordmaschine 43
(DLW 1/77-79). Es ist problematisch, diese Merztexte zu einer eigenen Gruppe zusammenzustellen, da eine klare Unterscheidung von Lyrik und Prosa sich wie von selbst aufhebt, wenn Schwitters z.B. An Anna Blume
neben Zeitungsausschnitten u.ä. zu einem längeren, nicht versifizierten Text vermerzt216. Wenn auch die Texte kaum als eigene Gruppe anzusehen sind, so befinden sich doch eine Reihe typischer Merztexte darunter, von denen ich in Ergänzung zum vorigen Abschnitt noch einen kurz herausgreifen will, nämlich Eimer
:
Eimer
Heute starb sanft nach langer geduldigem Leiden, plötzlich (Hundeknochen das Gehirn überwälzt 4-tausend) mein lieber Mann, unser guter Vater, Mutter, Großmutter, Urgroßmutter, Sohn und Tochter: Herr Lagerist Wilhelm, Maria, Christine Glotzauge (Klammeraffe.) Sie war ein treuer BEAMTEr und stetS bemüHt, seiNe geschäfte zu unSereR ZufrieDenheit zufühRen. (Das ist DIE ZwieEbel.) – Behauptungen, wie die, daß ich nur mit einem Hemde bekleidet in den Baum gestiegen sei und dort den Taifun gelesen habe, habe, sind unwahr. (DLW 2/52)
Der Text lehnt sich äußerlich an Prosa an – trotz einiger Grammatikfehler
ist die Syntax weitgehend intakt –, genauer: an die Sprache der Traueranzeigen sowie im letzten Satz (abgetrennt durch einen Gedankenstrich) an die der Gegendarstellungen. Damit ist ein wesentlicher Unterschied zu Himbeerbonbon
genannt, das sich aus heterogenen Elementen (trotz des zentralen Bezugs zur Reklame) zu einer eigenständigen Form zusammensetzt; Eimer
ist ansatzweise eine Parodie217 auf eine bestimmte Art von Gebrauchstexten in Zeitungen. Ein weiterer Unterschied sowohl zum Parodierten wie auch zu Himbeerbonbon
sind die Eingriffe in Grammatik und Orthographie: neben überflüssigen Kommata mit langer
statt langem
ein Vorgriff auf die Zwittrigkeit im Geschlecht des/r Verstorbenen. Der Beginn der Großschreibung innerhalb von Wörtern (wogegen geschäfte
klein geschrieben ist) setzt ein bei BEAMTEr
, was auf die Ambivalenz zwischen Beamte
und Beamter
abhebt; dann jedoch hat sich das Verfahren im Text verfestigt und wird nun mit demonstrativer Willkür ausgeübt. Diese Eingriffe in die Orthographie vermitteln dem Text eine Bewegtheit und Aggressivität (man kann sich vorstellen, wie Schwitters die Majuskeln im Vortrag verfremdend betont haben dürfte), die sich nicht nur in der durchaus als degradierend gemeinten Zwittrigkeit, sondern auch in dem verhöhnenden Namen Glotzauge
, aggressiv durch (Klammeraffe.)
218 kommentiert, äußert; eine ähnliche Funktion übernimmt die erste, von fern an die Wortkunst erinnernde Klammerbemerkung durch den niedrig gewerteten Gegenstand Hundeknochen
.
Unter dem ebenfalls abschätzigen Titel Eimer
nimmt Schwitters einen bemerkenswert aggressiven Vorstoß gegen die frömmelnde Verkrustung kleinbürgerlicher (Lagerist
) Sterbe- und Beileidsrituale219 vor. Die in ihrer Konventionalität ihre Bedeutung verloren habende Sprache und ihr nichtssagender Gebrauch erfahren scharfe Kritik. Eine Nonsens-Pointe erhält der Text durch den Schlußsatz, der nicht nur aus einem anderen Themenbereich stammt, sondern auch die zuvor gebrauchten Verfremdungsverfahren zugunsten anderer zurückweist. Die groteske Handlung, von der sich das im Text neu hinzukommende Ich in trocken-sachlichem Stil distanziert, dient erneut zur Verhöhnung der Konvention220. Schwitters spottet hier nicht über den Tod, sondern über den Umgang mit ihm, genauer: über die starren Konventionen, in denen sich Umgang mit und Sprechen über den Tod bewegt. Erneut wird diese Sprachkritik mit einer entlarvenden Vermerzung von verschiedenen (auch eigenen) Textfragmenten bewerkstelligt.
Der Gebrauch avantgardistischer Verfahren schlägt sich in der Regel stärker bei der Lyrik als in der Prosa nieder. Die Gründe dafür sind in der Kürze der Lyrik zu suchen, die es ermöglicht, avancierte Verfahren durchzuführen, ohne daß diese redundant wirken (was bei avantgardistischen Techniken sehr schnell der Fall sein kann), sowie der stärkere Außenweltbezug, die stärkere Resistenz gegen Abstraktion in der Prosa221. Insbesondere dieses letzte Kriterium gab den Ausschlag dafür, kürzere (Eimer
) oder längere Merzprosatexte (Mordmaschine 43
) nicht zur narrativen Prosa zu zählen, weil die heftige Durchsetzung mit Sprachfremdkörpern das narrative Element zurückdrängt222. Schwitters' Prosadichtungen sind denn auch mitunter von einer geradezu aufdringichen Konventionalität223. Es gibt aber auch einige Texte, die gewisse Entsprechungen zur Merztechnik haben und die sich dennoch noch als narrative Prosa auffassen lassen. Ich beschränke mich hier auf einige Bemerkungen zu Franz Müllers Drahtfrühling
224, dem ersten längeren, sogar als Roman konzipierten Prosatext.
Franz Müllers Drahtfrühling
Erstes Kapitel
Ursachen und Beginn der großen glorreichen Revolution in Revon
(Abdruck und Übersetzung, Verfilmung und Vortrag verboten)
Was müssen das für Bäume sein,
wo die großen Elefanten spazieren gehen,
ohne sich zu stoßen
Das Kind spielte. Und sah einen Mann stehen. Mama
, sagte das Kind; die Mutter: Ja
. – Mama
– Ja
– Mama
– Ja
– Mama, da steht ein Mann!
– Ja
– Mama, da steht ein Mann!
– Ja
– Mama, da steht ein Mann.
– Wo?
– Mama, da steht ein Mann.
– Wo?
– Mama, da steht ein Mann.
– Wo steht ein Mann?
– Mama, da steht ein Mann!
– Wo steht ein Mann?
– Mama, da steht ein Mann!
– Ach was!
– Mama, da steht ein Mann!
– Laß doch den Mann stehen.
– Mama, da steht ein Mann!
Die Mutter kommt. Tatsächlich steht da ein Mann. Merkwürdig, was mag der da zu stehen haben? Man sollte doch lieber den Vater mal rufen. Die Mutter: Vater!
Der Vater: Jawohl
– Vater, da steht ein Mann.
– Jawohl
– Vater, da steht ein Mann.
– Laß ihn stehen.
– Vater, da steht ein Mann!
– Was will denn der Mann?
– Das weiß ich nicht, frag ihn doch mal!
– Laß doch den Mann stehen!
– Vater, nun komm aber endlich, da steht jemand und steht.
Der Vater kommt. Tatsächlich, da steht jemand und steht. Mein Herr, warum stehen Sie da?
– Der Mann steht.
Im weiteren Verlauf des Textes bildet sich eine Menschenmenge um den regungslos stehenden Mann, es kommt zu Beschimpfungen und aufgebrachten Reden, jemand holt die Polizei, schließlich, auf dem Höhepunkt der Spannung
, geht der Mann und löst damit einen Aufruhr aus. Der Text wurde früher als Darstellung der revolutionären Ereignisse in Hannover gelesen225, als politisches Bekenntnis oder zumindest als Satire darauf226; wie schon die eingangs präsentierte Textpassage zeigen dürfte, ist dies jedoch eine erhebliche Verengung des Textes. Wie Homayr zeigte, ist der Text durchaus eine Satire, und zwar außer auf politische Ereignisse auch auf den Kunstkritiker Feuerhake, der sich mit seiner Frau unter der Menge befindet und zu einem der Auslöser der Revolution
wird, da er versagt: denn er erkennt den Mann – es ist, in Anspielung auf Müll
, Franz Müller – nicht als das, was er ist, nämlich als Merzkunstwerk, eine Eigenschaft, die allein die ebenfalls anwesende Anna Blume bemerkt227, die damit die umstehende Menge als blind entlarvt; eine Satire auch auf das Paradigma des organischen Kunstwerks (ich komme noch auf die Besonderheiten der Erzähltechnik zurück) und insbesondere auf die Novellentheorie, die durch die Darstellung des gewöhnlichsten Ereignisses228 als Gipfel der Dramatik angegriffen wird. Damit jedoch erschöpft sich der Text nicht. Es mutet seltsam an, daß der Text von den meisten Interpreten so eingeengt verstanden wurde, daß die einzigartige Erzähltechnik ignoriert oder beiläufig erwähnt worden ist, zumal es klar ist, daß Schwitters an kunstinternen Revolutionen ein wesentlich größeres Interesse hatte als an politischen. In dem Augenblick, in dem die Stimmung allmählich in Feindseligkeit umschlägt und Frau Doktor Amalie Feuerhake
die Beherrschung verliert und den Mann mit Lauseaas.
229 beschimpft, schließt sich folgende Passage an:
Hier läßt der Autor zunächst ein selbstverfaßtes Gedicht folgen:
Viereck.
Laue Milch Kampf Deine Seele Dreieck
(...)
Und nun folgt zunächst wieder der Anfang dieser Geschichte. Das Kind spielte. Und sah einen Mann stehen, Mama
, sagte das Kind.
Schwitters wiederholt nun den Anfang des Textes, faßt dann aber das Geschehen zusammen, bis er wieder bei Lauseaas!
angekommen ist, dann:
In diesem kritischen Augenblick läßt der Autor sein selbstverfaßtes GedichtViereckfolgen:
Schwitters rezitiert nun erneut das Gedicht, dessen Nonsens-Charakter durch eine geringfügige Änderung noch verstärkt ist. Daran schließen sich vermerzte Dada-Sentenzen und Schlagertextrefrains an, schließlich:
Und nun folgt zunächst wieder der Anfang dieser Geschichte! Das Kind spielte. (...) Der Leser weiß es nun selbst, wie es weiter geht; aber es kann nicht deutlich genug gesagt werden, daß da ein Mann steht resp. gestanden hat. Wir werden ja sehen.
Und nun endlich setzt sich die Erzählung fort. Dies ist nur der weitreichendste Eingriff in die Fiktionalität des Geschehens, doch auch anderswo ist die Eindimensionalität des Geschehens gestört: die Handlung könnte ohne die sich willkürlich gebenden Eingriffe des Autors
so überhaupt nicht vorankommen, die stetigen Eingriffe haben einerseits handlungskonstituierende230 wie andererseits retardierende Wirkung, was nicht nur die Spannung steigert, sondern den Leser im wahrsten Sinn des Wortes auf die Folter spannt – und nur durch diese künstliche Spannung kann die Entladung in den revolutionären Ereignissen überhaupt erfolgen. Die Konstituierung der Handlung ist aber nur der eine Effekt des vielfältigen Arsenals an Techniken (zu der neben anderen auch die Merztechnik zählt)231, deutlich spürbar ist das Eigeninteresse an diesen Eingriffen. Schwitters greift auf das romantische Konzept der Fiktionsironie zurück und radikalisiert es: Nicht nur, daß der Autor
selbst eingreift (wenn auch nicht auftritt), seine Handlungen sind demonstrativ willkürlich, scheinbar sinnlose Einlagen verfremden das Geschehen. Wie Homayr ausführt (S.83-99), sind diese Techniken nur teilweise von dem Konzept der romantischen Ironie gedeckt: romantische Ironie findet innerhalb der Fiktion statt, d.h. während sich der Text den Anschein gibt, als würde die Fiktion gebrochen, wird sie in Wirklichkeit nur potenziert232. Einige der verfremdenden Techniken Schwitters' finden aber außerhalb der Fiktion statt, z.B. die Wiederholungen des Anfangs – es tritt nicht z.B. eine Figur auf, die den Leser auffordert, den Anfang noch einmal zu lesen, sondern er wird wirklich wiederholt233. Schwitters verfolgt mit diesem Text eine Doppelstrategie: während er die Erzählung vorantreibt, bleibt er sich stets seiner sprachlichen Verfahren bewußt und versucht dieses Bewußtsein234 auch beim Leser herzustellen, indem er die Fiktion mehrfach bricht oder potenziert; zugleich jedoch sind beide Dimensionen vereint, indem die Handlung überhaupt nur von den fiktionsironischen und afiktionalen Eingriffen getragen wird. Auf diese Weise ist es im Text gelungen, reflexives Sprachbewußtsein und Außersprachlichkeit der Handlung zu vereinen.
Seit 1922 wendete sich Schwitters ab von der Merzkunst, auch wenn er sein Markenzeichen
ein Leben lang beibehielt. Daß dies in diesem Jahr geschah, ist kein Zufall, da 1922 mit der allmählichen Konsolidierung der Nachkriegsgesellschaft die erste nachdadaistische Avantgarde auf den Plan trat: der Konstruktivismus. Russische Künstler wie Tatlin, Malewitsch, Lissitzky und der Ungar Moholy-Nagy versuchten, mit einer abstrakten, kühl kalkulierten und auf das Elementare zurückgreifenden Kunst, in technizistischer Askese den fortschrittlichen Geist der neuen Zeit auszudrücken. 1922 wurde in Berlin eine große Ausstellung veranstaltet (die auch die Anfänge des sozialistischen Realismus dokumentierte), in der die Künstler ihre Werke dem Westen vorstellten.
Der Eindruck auf die westlichen Künstler war erheblich, doch auch die Russen waren sehr erstaunt, in Holland einen unabhängig von den Russen entwickelten Konstruktivismus in der Stijl-Gruppe um Mondrian und van Doesburg vorzufinden. Schwitters knüpfte zu beiden Gruppen Kontakt, insbesondere zu Lissitzky, der später einen Auftrag als Werbegraphiker von der Firma Pelikan bekam und einige Zeit in Hannover lebte, zu Moholy-Nagy und van Doesburg. Im gleichen Jahr unternahm Schwitters mit Theo und Petro (Nelly
) van Doesburg sowie Vilmos Huszar eine Dada-Tournee durch Holland, die als eine Art Schwanengesang auf den Dadaismus gesehen werden kann235. Schon vor seiner Abfahrt hatte Schwitters im Mai 1922 im Sturm das erste i-Manifest veröffentlicht.
i
(Ein Manifest)
Was Merz ist, weiß heute jedes Kind. Was aber ist i? i ist der mittlere Vokal des Alphabets und die Bezeichnung für die Konsequenz von Merz in bezug auf intensives Erfassen der Kunstform. (...) Material und Kunstwerk sind dasselbe. i erfaßt das Kunstwerk in der Natur. (...) Ich fordere i, aber nicht als einzige Kunstform, sondern als Spezialform. (...) Das Material für i ist aber sehr wenig beliebig, da sich nicht jede Natur im Ausschnitt zum Kunstwerk gestaltet. Daher ist i Spezialform. Aber es ist einmal notwendig, konsequent zu sein. (DLW 5/120)
Nach der Rückkehr aus Holland legte Schwitters seine Ideen ausführlicher in der zweiten Nummer seiner neugegründeten Zeitschrift Merz
dar. Ausgehend davon, daß Kunst erst im Betrachter entsteht, setzt Schwitters Künstler und Betrachter insofern identisch, als der Künstler seine Kunst in Form des Betrachtens ausübt; es bleibt aber der Unterschied, daß der gewöhnliche Betrachter nur das schon vom Künstler als Kunst erkannte und präsentierte als Kunst wahrnehmen kann236.
Die Wahl des Buchstaben i wird begründet: i ist der einfachste Buchstabe, i ist der einfältigste Buchstabe
(DLW 5/139), im übrigen dürfte es für intensiv
stehen237. Diese Einfältigkeit
zog Schwitters an, die Spontaneität des Erfassens und die sich daraus ergebende konstruktivistische Klarheit und Elementarität. i ist tatsächlich eine Weiterentwicklung von Merz238, das ja ebenfalls in Auswahl, Entformelung und Zusammensetzung vorgefertigter Materialien bestand, zur Konsequenz
239 hin; bei i wird der Schritt der Zusammensetzung weggelassen. Der Unterschied zu den ready-mades etwa von Duchamp besteht darin, daß Schwitters den Gegenstand nicht einfach nur neu sieht, sondern ihn begrenzt, ausschneidet; auch ist nicht Provokation intendiert, sondern den Weg von der Intuition zur Sichtbarmachung der künstlerischen Idee
gleich null zu setzen, um somit Reibungsverlust
, also störende Ablenkung
zu vermeiden (DLW 5/120). Ein Beispiel:
Pornographisches i-Gedicht
Die Zie
Diese Meck ist
Lieb und friedlich
Und sie wird sich
Mit den Hörnern (DLW 5/140)
Durch die Zerschneidung einer Kinderbuchstrophe und die die Sichtweise des Künstlers vermitteln helfende Überschrift konstituiert sich dieser Text. Sein Wirkungsmechanismus ist, durch seine Unvollständigkeit am Ende dem Leser eine verborgene Obszönität zu suggerieren, die sich v.a. auf Hörner
stützt, daneben noch auf Zie
(= sie) und lieb
.
Dabei zeigen sich aber auch rasch die Probleme: Auch aus dem Zusammenhang gelöst und mit einer die Rezeption prägenden Überschrift bleibt der Text doch noch ein Kinderbuchtext, der nur nach größerem Phantasieaufwand seine pornographische, geschweige seine künstlerische Valenz entwickelt. Der Weg der i-Kunst ist problematisch, da er der Kunst ein fragwürdiges Konsequenzideal aufdrängt, dem kaum noch entsprochen werden kann. Die Kunstwerke und Dichtungen degenerieren zu wertlosen Belegbeispielen einer praxisfremden Theorie, wie bei Schwitters selbst schon durchklingt: Aber es ist einmal notwendig, konsequent zu sein.
Das künstlerische Schaffen wird durch die überflüssige Vorgabe des Nicht-Veränderns des Materials eingeengt: Denn es werden zwar die Reibungsverluste
beseitigt, aber auch die dadurch mögliche Entwicklung des Werks im Akt des Schaffens, während die Widerständigkeit des Materials (Es ist viel schwerer, als ein Werk durch Wertung der Teile zu gestalten, denn die Welt der Erscheinungen wehrt sich dagegen, Kunst zu sein
– DLW 5/140f) kaum einmal ein gelungenes, nachvollziehbares Kunstwerk gestattet. Mit der i-Kunst manövriert sich der Künstler in eine undankbare Lage, und so nimmt es nicht wunder, daß die in großem Rahmen angekündigte i-Kunst recht unauffällig und rasch wieder verschwand und daß die i-Werke in Anzahl und Bedeutung vernachlässigbar gegenüber der Theorie sind.
Dennoch bleibt die i-Theorie bemerkenswert, weil Schwitters hier zum ersten Mal ein Konzept aufstellt, das jenseits der noch dadaistisch eingefärbten Merzkunst liegt, das deren Subjektivität aufheben will zugunsten einer ganz vom Objekt dominierten Kunst. Dieser erste Versuch war in seiner Radikalität mißglückt, aber weitere sollten folgen.
Schwitters gilt mit einigem Recht als einer der Wegbereiter konkreter
bzw. experimenteller Dichtung240. Unter diesen Termini soll hier eine Schreibweise verstanden werden, die dazu neigt, die als ungenügend verstandene Verweisfunktion des sprachlichen Zeichens aufzuheben und durch diese radikale Beschneidung den materiellen Charakter der Sprache, und damit die Sprachlichkeit selbst sichtbar zu machen – der Nonsens
wird als Sprachkritik eingesetzt. Die im Vergleich zu konventioneller
Literatur (im weitesten Sinne) verstärkten Handhabungsfreiheiten des Künstlers können sich selbst als Erweiterung der Formensprache demonstrieren oder in einem zweiten Schritt dazu genutzt werden, eine sekundäre Ordnungsstruktur zu etablieren. Mit der Aufgabe der zumindest für den Alltagsgebrauch der Sprache wichtigsten Funktion, der Mitteilungsfunktion, kommen die Grenzen der Kunstgattungen ins Wanken: Die konkrete
Literatur öffnet sich gegen Bild und Musik, was Schwitters' persönlichen Neigungen als allround-Künstler ebenso entgegenkam wie der in seinen theoretischen Schriften wiederholt formulierten Utopie des Gesamtkunstwerks. Die Öffnung des Textes gegenüber dem Bild verbindet Schwitters' zwei stärkste künstlerische Fähigkeiten zu einer dritten, in der er bedeutendes geleistet hat, der Typographie; die Öffnung zur Musik hin dagegen kompensierte den von ihm zeitlebens als schmerzlich empfundenen Musikdilettantismus. Damit sind auch wesentliche Gründe für Schwitters' andauerndes Interesse für diesen Dichtungstyp genannt; ein weiterer ist das konstruktivistische241 Streben nach der reinen
Kunst, nach der völligen Abstraktion – die Aufgabe der Abbildungsfunktion in der Kunst sucht ihre Parallele in der Aufgabe der Bedeutungsfunktion in der Sprache. Ich untersuche hier konsequent nicht-mimetische Laut- und Simultangedichte sowie Bildgedichte.
A | O | BB | ||
O | Z | |||
J | J | |||
O | J | |||
O | O | J |
Anfang der zwanziger Jahre hat Schwitters mit dieser Form von Gedichten
experimentiert. Die zentrale Frage zu diesen Arbeiten ist: handelt es sich um Texte oder Bilder? Diese Frage scheint beantwortbar, man muß sich dabei aber vor Augen halten, daß Schwitters die Bildgedichte
, wie der Name schon sagt, als zwischen beiden liegend sah, ja, daß er die konsequente Unterscheidung von Bildern und Texten nicht nur für diesen extremen Randbereich abgelehnt hätte, wie Texte zeigen, die ohne die einmalige Typographie überhaupt nicht oder ungenügend wiedergegeben werden können und Bilder, auf denen längere Texte zu lesen sind.
Versuchen wir, das Bildgedicht als Text zu rezipieren. Das wird zuerst einmal durch den Autor selbst angeregt, weil in der Bezeichnung Bildgedicht
das Gedicht
nach den Bildungsregeln von Komposita die dominierende Komponente ist und weil es auch in einem Gedichtband243 veröffentlicht wurde. Auf die Sprachlichkeit verweist schließlich noch, daß der Großteil des Gedruckten Buchstaben sind (einmal A
, einmal BB
, viermal J
, fünfmal O
und einmal Z
); das übrige, ein großes Quadrat als Rahmen und fünf kleine, könnte man ebenso wie den Fettdruck und die zwei verschiedenen Arten von Lettern als typographische Gestaltungselemente auffassen. Daß ein Gedicht nur aus wenigen Buchstaben bestehen kann, bereitet keine Probleme – zu denken wäre etwa an Hausmanns lettristische
Gedichte oder an manche Lautgedichte von Schwitters, die ebenfalls, wie unten zu zeigen sein wird, das Wort aufgeben.
Eine Rezeption als Bild dagegen müßte darauf abheben, daß zwar quantitativ die Sprachelemente die optische Gestaltung überwiegen, daß aber die Sprachelemente selbst, und dies ist entscheidend, nicht als Sprachelemente gebraucht werden. Mag man noch eine literarische Begründung in der Verwendung von A, B (Auguste Bolte, Anna Blume und Arnold Böcklin haben die gleichen Anfangsbuchstaben: A. B.
244) und Z, ja sogar in dem ersten O (A und O
) sehen, so zeigt sich doch deutlich, daß die Mehrzahl der Buchstaben, nämlich die J und O, wegen ihrer spezifischen Form, d.h. als nicht-zeichenhafte graphische Elemente, im Bild auftauchen. Noch schwerwiegender: Die Präsentationsform des Bildgedichtes ist kein Text mehr, nicht einmal ein durchbrochener245, sondern ein flächiges Arrangement bildlicher Elemente, von denen einige auch noch eine sprachliche Dimension haben. Ein anderes Beispiel mag die Problematik verdeutlichen:
oongs-
Schren Bevölkerung
Entlassungs-
Kriesen. — Es
gengerdenen An-
erliner
nettwoch, etattfindendss
am Kopfe
Reichsgerichts-Prozesse gegen die Staat
ausgehörigen, werden alle Personen
die imstande sind, beweiskräftiges
zu liefern oder darauf hinzu
tzuist, die durch die Presse bekannt wir —
Die Liste der Beschuldigungen findete die
der von Mittwoch, den 11. biswegen
erwartenden Eingänge bittenaben
Datum, Kriegsschauplatz
gew
MtÄTZ
penteil. (DLW 1/276)246
Dieser Text ist zuerst einmal ein Beispiel dafür, wie das Merzverfahren, das hier offensichtlich und konsequent angewendet wurde, offen dafür ist, Sprache nicht nur verfremdend zu gebrauchen, sondern auch die Worte selbst zu verändern, teilweise aufzulösen, wozu verschiedene (hier nur annäherungsweise wiedergebbare) typographische Verfahren unterstützend beitragen. Auf verschiedenen Ebenen werden die Sprachkonventionen aufgebrochen: durch Herauslösung teils längerer, teils kürzerer Passagen, durch die Entstellung mit primitiven Orthographiefehlern, durch abgerissene Worte, schließlich durch nicht mehr identifizierbare Lautverbindungen, deren Fragmentarität andeutungsweise zu neuer, den Kontext des vermerzten Sprechens unterlaufender Semantik zusammengeschlossen wird. Dem unruhigen, brockenweisen Textverlauf wird visuell entsprochen durch den ebenso unruhigen Lauf der Verse, die in der zweiten Hälfte wie der Textfluß selbst deutlich ruhiger werden, und durch die Heraushebung einzelner Buchstaben und Wortfetzen, insbesondere des R
, das in Verbindung mit der Überschrift
, dem politischen Textinhalt und der unverhaltenen Aggressivität (z.B. in den beiden Schlußversen) auf Revolution
verweist.
So könnte man dieses Gedicht
interpretieren. Abgedruckt wird man es freilich nirgends finden, und in Schwitters' Werkausgabe ist es eher zufällig hineingeraten, da in dessen erstem Band ein Anhang mit wenigen Beispielen des künstlerischen Werks aufgenommen ist. Die ursprüngliche Gestalt des Textes
ist diese:
Text oder Bild? Es ist klar, daß sich angesichts dieser Collage die Frage wesentlich ernster stellt als bei den Bildgedichten, zumal die Forschung solche, für Schwitters typische und zahlreiche Arbeiten ohne weiteres unter das künstlerische Werk verbuchten. Für diese Zuordnung sind zwei Punkte entscheidend: 1. Wird die Arbeit eher angeschaut oder eher gelesen? 2. Behält sie (im großen und ganzen) Zeilen bei oder ist die Anordnung auf der Fläche dominierend, d.h. ist sie sukzessiv oder räumlich? 3. Ist das Werk vervielfältigbar oder singulär?
Während die Antworten für die Bildgedichte
ziemlich klar sind247 und mit Ausnahme des letzten Punktes (der aber keine conditio sine qua non bildender Kunst ist), zugunsten des Bildcharakters sprechen, dürfte hier der Fall schwerer zu entscheiden sein. Wichtigstes Argument für eine literarische Rezeption ist, daß die Zeilen weitgehend beibehalten sind, wenn auch mehrere Eingriffe außerhalb der sukzessiven Folge liegen, nämlich nicht nur das große R
, sondern auch das Flattern der Zeilenanordnung und seine Durchbrechung durch hervorgehobene Elemente – dies alles sind allerdings auch Kennzeichen eindeutig als solcher zu identifizierender Texte von Schwitters. Schwer wiegt auf der anderen Seite die Singularität des Werks, die eine Reproduzierbarkeit nur bedingt möglich macht – ein Merkmal, das sehr gegen die literarische Sichtweise spricht und die Zuordnung zur bildenden Kunst hauptsächlich verursacht haben dürfte; dies ist auch der Hauptunterschied zu anderen Texten
z.B. aus Memoiren Anna Blumes in Bleie
. Man könnte immerhin einwenden, daß für aufwendig gestaltete Handschriften des Mittelalters oder auch die Manuskripte von Autoren ähnliche Einschränkungen gelten. Die Frage nach der instinktiven
Rezeptionsweise hängt damit von verschiedenen Faktoren ab – hängt das Werk an der Wand einer Galerie, wird es als Bild wahrgenommen, wird es dagegen gewissermaßen als Manuskript verstanden und – wie oben – abgeschrieben, liest man es ohne weiteres als Gedicht: die Frage entscheidet sich also letztlich weniger nach der Substanz des Werks, sondern vielmehr nach den Rezeptionskonventionen. Mag man letztlich doch der Rezeption als Bild einen leichten Vorrang einräumen, so kann doch kein Zweifel bestehen, daß in solchen Arbeiten die Grenze zwischen Literatur und Kunst verletzt ist, daß in der Folge der Rezipient in seiner Wahrnehmung erheblich verunsichert wird – in beiden Disziplinen eine große Errungenschaft.
Mit den Lautgedichten ist eine Dichtungsform angesprochen, die ein Spezifikum der avantgardistischen Literaturströmungen war248. Dieser Punkt verdient ein besonderes Interesse, da er einer der wenigen ist, an denen sich Schwitters und Ball berühren, gehören sie doch zu ihren herausragenden Vertretern.
Welches künstlerische Interesse verfolgte der Autor mit diesen Texten? Im Gegensatz zu Balls Lautgedichten ist diese Frage für Schwitters noch nicht hinreichend geklärt, allzugern beruft man sich auf seine Experimentierlust. Ich möchte das Lautgedicht bestimmen als sukzessiv angeordneten Text, der aus nicht mehr semantisierbaren Wörtern bzw. aus nicht einmal mehr als Wörter anzusprechenden Sprachzeichengebilden249 oder einzelnen Buchstaben besteht; dabei ist zu beachten, daß auch eine Reihe von Buchstaben oder anderen Zeichen semantisierbar sein kann (z.B. das Alphabet): Solche Texte sollen hier ausgeschlossen werden, ebenso wie der spezifisch Schwittersche, schwer verortbare Sonderfall der Zahlengedichte (siehe dazu das nächste Kapitel).
Das (bei Schwitters kaum praktizierte) Simultangedicht bestimmt sich danach als Lautgedicht, in dem das Kriterium der Sukzessivität partiell aufgehoben ist, indem zur Sukzessionsebene eine Simultaneitätsebene tritt. Nach Anwendung dieser Kriterien bleiben Texte übrig wie folgende:
bii bill
bee bell
baa ball
bemm bemm (...)250
oder:
HHH HH HH HHH
HHH
HHH HHH
AAA
Olalala OA OA lala251
oder:
Dom
Dom
Dom Dom Dom
Dof
Dof
Dof Dof Dof
Dau
Dau
Dau Dau Dau (...)252
oder schließlich:
tesch
haisch
tschiiaa
pesche püsch
haisch
tschii aa (...)253
Eine recht heterogene Gruppe. Beispiel 1 ist ein Text, der aus Wörtern besteht, Beispiel 2 dagegen setzt sich überwiegend aus Einzellauten zusammen – wie nicht nur der erste Leseeindruck vermittelt, sondern auch die Untersuchung ergeben wird, kein allzu tiefgreifender Unterschied, da die Wörter im 1. Beispiel kaum noch als solche angesprochen werden können. Beispiel 3 besitzt einige Ähnlichkeit mit Beispiel 1, weist aber bedeutende Unterschiede auf: die Abfolge der Laute gehorcht nicht nur einer bewußten Konstruktion, sondern sie kreist auch lautlich um ein bestimmtes, referentialisierbares Wort, das darüber hinaus mit ironischer Geste eine gewisse Rechtfertigung der unsinnigen
Sprachspiele liefert. Beispiel 4 schließlich kann bis auf weiteres als onomatopoetische Darstellung eines Schnupfenanfalls begriffen werden; zwar haben die verwendeten Wörter keine konventionelle Bedeutung, doch weist ihre Lautfolge gewisse, einigermaßen nachvollziehbare Parallelen zu dem (z.T. ja ebenfalls mit den Sprachorganen erzeugten und auch innerhalb der Sprachkonvention onomatopoetisch darstellbaren – hatschi
findet sich bereits im Duden) Vorgang des Nießens auf, so daß sich auf eingeschränkter Ebene doch wieder so etwas wie Verweisfunktion einstellt.
Damit läßt sich eine weitere Einschränkung treffen: in diesem Zusammenhang sollen nur konsequente
Lautgedichte behandelt werden. Mit diesem Terminus spreche ich Texte an, auf die die obige Definition verschärft zutrifft, wo die Laute jenseits aller Verweisfunktion nur noch nach akustischen und optischen Gesichtspunkten angeordnet sind, wo sich also keinerlei z.B. onomatopoetische Bedeutung
mehr einstellt, wie im zuletzt behandelten Beispiel254. Problematischer sind Texte wie Beispiel 3, das zwar von Bedeutungszusammenhängen ausgeht, aber von ihnen weg ins Lautliche abstrahiert. Texte dieser Art spreche ich als Materialgedichte
an und behandle sie ebenfalls im nächsten Abschnitt255.
Lautgedichte lassen im Rezipienten gewöhnlich ein Gefühl der Hilflosigkeit zurück: was soll man mit diesen Gebilden anfangen, wo unsere gewöhnlichen Auffassungsmechanismen ins Leere greifen? Kann man ein Lautgedicht interpretieren? Die erschwerte Zugänglichkeit avantgardistischer Texte ist ein Hauptgrund für das Aufblühen der Manifest-Literatur in der Moderne; und da insbesondere ein Lautgedicht nur sehr bedingt für sich selbst sprechen kann, ist hier der Rückgriff auf die es begleitenden Programmschriften um so bedeutungsvoller. Die erste dieser Programmschriften ist der Versuch einer Anleitung zur Aussprache von WW PBD
(DLW 5/185)256, 1924 in Merz 7 anschließend an das lettristische Gedicht selbst gedruckt.
Ich wähle die Vokale und Konsonanten der deutschen Aussprache. Konsonanten ohne Vokal sind tonlos. Doppelte Konsonanten sind nicht doppelt zu sprechen. Ein Vokal ist sehr kurz zu sprechen, zwei Vokale lang, nicht doppelt. In PBD ist übrigens alles kurz zu sprechen.
wö, wö, pébede, zefümm, rüf rüf, tezepüff tezepüff, m wit, refümmr, rákete pézete, swé swé, kepitt, fé gé, kepitt, rrr zé, kepitt, rrrzill, tezepüff tezepüff, hefttill.
Das Gedicht ist konsequent un-sinnig, die kurze Gebrauchsanweisung
ist keineswegs der Versuch, eine verlorene Semantik zu substituieren oder gar wiederherzustellen: Einzig die angemessene Präsentation ist sein Anliegen, sie könnte durch einen Tonträger ohne weiteres ersetzt werden.
Die einzige größere Auseinandersetzung mit den neuen Möglichkeiten der Dichtung ist der Aufsatz Konsequente Dichtung
(DLW 5/190f) aus dem gleichen Jahr. In knapper, sachlicher und damit an den Konstruktivismus gemahnender Diktion erklärt Schwitters den Buchstaben anstelle des Wortes zum Material der Dichtung
; das Wort will er in einer Stufenfolge von Prozessen zuerst von seinen Ideenassoziationen
, dann von seiner Bezeichnung (Bedeutung)
, dann sogar von seinem Klang lösen und zuletzt nur noch die schriftlich fixierte Buchstabenfolge als konsequent
anerkennen.
Der Aufsatz ist in mehrerlei Hinsicht problematisch257, nicht zuletzt, weil Schwitters' eigene Dichtungspraxis gerade auch in den Lautgedichten ihm widerspricht, denn er versucht ja, dem Text durch gezielte Hinweise einen bestimmten Klang zuzuweisen, der obendrein noch nationalsprachlich gefärbt ist258. Wichtiger ist hier jedoch, daß nirgendwo eine gleichsam politische Begründung des Lautgedichts, wie bei Ball, zu finden ist: die konsequente
Abstraktion ist zum Selbstläufer geworden, der keiner weiteren Rechtfertigung mehr bedarf, die Erweiterung der Kunstmöglichkeiten ist Verfahren und Ziel zugleich. Damit erklärt sich auch der wesentlich stärker experimentelle Charakter seiner Lautgedichte. Ball, der eine adamische Sprache erstrebte, klingt in seinen Lautgedichten wirklich, als schriebe er in einer sehr fremdartigen Sprache; bei Schwitters dagegen stellt sich diese Empfindung auch dort nicht ein, wo er Worte
verwendet, also zwischen zwei Leerzeichen stehende Buchstabenfolgen von meist mehr als einem Zeichen, zuwenig Ähnlichkeiten bestehen in Rhythmus und in der Verteilung von Vokalen und Konsonanten. Experimentell wirken diese Texte aber auch, weil ihnen der beschwörende, fast rituelle Charakter von Balls Gedichten fehlt (ein Charakter, der allerdings zu einem beträchtlichen Teil wiederum von der die Texte umgebenden Manifest- und Reflexionsliteratur hergestellt ist): Positiv ausgedrückt, kann man in ihnen den zugrundeliegenden Kunstwillen und die oft recht systematische, wiederum durch den Konstruktivismus beeinflußte Analyse erkennen, die den mehr spielerischen Charakter früherer Dichtungen zurückdrängt; negativ gesehen, erweisen sich diese Texte, und das gilt für einen beträchtlichen Teil der Lautdichtung insgesamt, als in der Selbstbeschau des eigenen progressiven Sprachbewußtseins versunkene Trockenübungen, die ihre Vitalität allenfalls noch in der – von Schwitters mit großer Begabung praktizierten, aber in obigem Aufsatz theoretisch zurückgestuften – Rezitation entfalten.
Ein gewisses Augenmerk ist noch auf die recht umstrittene ursonate
(DLW 1/214-242) zu legen. Das Konzept ist kühn: die Ausdehnung des Lautgedichtes soll durch eine Überformung mit einem musikalischen Aufbau ermöglicht werden; die von Schwitters für den Erstdruck erstrebte Typographie sollte darüberhinaus auch die visuelle Dimension nicht zu kurz kommen lassen. Schwitters selbst schätzte denn diesen Text von seinen Dichtungen am höchsten, es ist auch derjenige mit der längsten Entstehungszeit259. Die Forschung greift in der Diskussion dieses sicher einzigartigen Textes in der Regel das ablehnende Urteil Hausmanns auf260 (aus dessen Text fmsbw
Schwitters die Anregung für die Sonate empfangen hat), nach dem Schwitters durch die Verbindung von progressivster Literatur und überkommener Musik einen Bastard in die Welt gesetzt habe; Scheffer (S.241) bemängelt obendrein, daß der musikalischen Form z.B. durch die Einstimmigkeit des Textes nicht genüge getan ist; schließlich wurde noch Kritik geübt an der wiederum nationalsprachlichen Einfärbung und der den Klang einseitig vorprägenden Rückführung von Buchstaben (fmsbwtcu
) zu Wörtern (Fümms bö wö tää zää Uu
). Tatsächlich ist die ursonate
nicht zu begreifen ohne Schwitters' unerwiderte Bürgerliebe zu einer ganz und gar nicht avantgardistischen Musik261 und sein ambivalentes Verhältnis zur Konvention.
Hausmanns Argument ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Zwei Dinge, die für Schwitters' Schaffen charakteristisch sind, wurden jedoch bei all der berechtigten Kritik in den Hintergrund gedrängt: Zum Einen ist für die ursonate
Schwitters' Bemühen um eine universelle Ausweitung der neu errungenen Techniken erkennbar, das Streben nach der künstlerischen Neugestaltung der Welt; zum Anderen, daß diese Ausweitung keineswegs amorph ist, sondern daß sie auf der Basis einer ausgesprochen strengen Form geschieht, die den Verlauf des Kunstwerks exakt regelt. Daß das Problem hier etwas ungeschickt geregelt ist, indem auf eine von Außen herantretende statt auf eine dem Material immanente oder zumindest angemessenere Form zurückgegriffen wurde, ist es, was den Wert des Textes erheblich verringert. Nichtsdestotrotz nötigt der Versuch einer künstlerischen und zugleich systematischen Neuordnung Respekt ab und verbindet damit die umfassende Konzeption der Merzutopie mit dem Spätwerk. Ähnliche Systematisierungsideen verfolgte Schwitters parallel zur ursonate
übrigens auch in seinen immer tiefgreifenderen Vorschlägen zur Reform von Schrift, Rechtschreibung und Sprache selbst. Die Unterwerfung unter eine absolut vernünftige, apollinisch klare Ordnung sollte ein neues Denken organisieren262 und kennzeichnet damit endgültig die Abkehr von den Dada-Ideen.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Schwitters mit den Lautgedichten eine Erweiterung des künstlerischen Formenschatzes in erster Linie um seiner selbst willen anstrebte. Die Ideen einer Vereinigung der Künste konnten nicht zuletzt im Lautgedicht verfolgt werden, da durch die Reduzierung der Sprachfunktion dessen Materialcharakter, also dessen Lautlichkeit und Schriftlichkeit, stärker zum Vorschein kam und die Grenzen zu Musik und Kunst zu überwinden half. Darüber hinaus jedoch war das Lautgedicht, wie sich in der ursonate
zeigt, Teil einer Strategie, um über das Kunstwerk als Modell
für die Neugestaltung des ganzen Lebens (so wie die Merzbilder Vorstufen zur kollektiven Weltgestaltung, zum allgemeinen Stil
– DLW 5/133 – sein sollten) auf dieses auszugreifen anhand des neuen, nachdadaistischen künstlerischen Selbstbewußtseins – das alte dadaistische Problem nach der Verbindung von Kunst und Leben konnte somit in Anlehnung an die Konstruktivisten gelöst werden. Praktische Probleme in der Durchführung dieser großen Pläne setzen jedoch den Wert der ursonate
und der anderen Lautgedichte herab: Wo auf eine Überformung des Sprachmaterials verzichtet wurde, begibt sich das Sprechen in eine Sackgasse; wo diese Überformung praktiziert wurde, kam sie von Außen und war dem überformten Material wesensfremd. An diesem Punkt setzen die Konzeptionen des Spätwerks ein.
Der Schirm
Der Schirm
Wissen Sie
, sagte die alte Frau Feuerheur, der hat den doch angesägt. Denn warum hätte sonst das Messer da gelegen? Ich habe es ja gleich gedacht, aber wer denkt denn gleich an sowas? Wissen Sie, vierzig Jahre war ich verheiratet, ja, acht Jahre ist mein Mann schon tot, und zwei Jahre vor meiner Hochzeit habe ich mir den gekauft, und wenn ein Schirm fünfzig Jahre in einem Bogen hält, dann ist es ein guter Schirm. Und ein guter Schirm, der kann doch nicht in einem Moment plötzlich abbrechen. Das können Sie sich doch wohl selber sagen. Denn als wie früher, da haben die Leute doch noch solide gearbeitet, nicht son Ramsch, wie heutzutage. Aber wer denkt denn daran, daß der den absägen will?
(...)263
Mit diesen Sätzen beginnt eine mehrfach bearbeitete Erzählung von Schwitters. In der Druckfassung ca. in der Länge von drei Seiten, gibt der Text den Bericht einer Frau Feuerheur wieder, deren Schirm zerbrochen ist, vermeintlich weil ihn der Wirt eines Lokales angesägt hat. Die Frau strengt einen Prozeß an und bekommt schließlich recht.
Die Annäherung an den Text soll in zwei Stufen erfolgen: zuerst soll die Struktur freigelegt werden, dann möchte ich Interpretationskonzepte diskutieren.
Eine oberflächliche Gliederung des Textes führt nicht weit: der erste Abschnitt stellt gewissermaßen die Einleitung dar (die knapp die Hälfte des Gesamttextes einnimmt), die die Ausgangssituation umständlich und wortreich konstituiert. Sie endet mit dem isoliert wirkenden Satz (der für sich ein eigener Absatz ist) Und plötzlich bricht der ab.
, was um so schärfer wirkt, als die Bedrohlichkeit
der Situation durch den vorhergehenden Satz Und das Messer, das hatte ich schon längst wieder vergessen.
gleichsam in einen lauernden Hintergrund gedrängt wird. Der zweite Teil des Textes (man müßte ihn als Hauptteil
ansprechen) schildert den Gang der Frau vor zwei Gerichte, das Ausschlagen eines Vergleiches
, den Prozeß mit der Aussage des Wirtes und dessen Verurteilung. Ein kurzer Schlußabschnitt läßt den ratlosen Ich-Erzähler auftreten, der die Frage nach der Schuld des Wirtes an den Rezipienten weitergibt.
Diese Grobgliederung hilft nicht viel weiter; bemerkenswert scheint allenfalls der quantitativ hohe Anteil der Einleitung
, die umständliche Herbeiführung der Ausgangsituation, deren Durcharbeitung im Vergleich dazu knapp erscheint – dies kann uns in dem bei der Lektüre rasch gewonnenen Eindruck bestätigen, daß das einfache Erzählen einer Geschichte nicht das Anliegen Schwitters' war. Für das weitere müssen wir eine Ebene tiefer steigen und die Feinstruktur freilegen.
Die Feinstrukturierung des Textes geht von dem auch bei flüchtiger Lektüre offensichtlichen Befund aus, daß in dem Text zahlreiche Wiederholungen von Worten und Phrasen stattfinden. Diese Phrasen möchte ich Themen
nennen (die Begründung dafür reiche ich später nach). Ein erstes Thema sind Phrasen wie die folgende: der hat den doch angesägt. Denn warum hätte sonst das Messer da gelegen? Ich habe es ja gleich gedacht, aber wer denkt denn gleich an sowas?
aus dem oben zitierten Einleitungsabschnitt. Dieses Thema taucht durch den ganzen Text hin immer wieder in größeren oder kleineren Abwandlungen auf, z.B. Aber wer denkt denn daran, daß der den ansägen will?
; Weshalb liegt hier wohl das Messer?
;
, etc.
Bei uns liegen keine Messer herum
Dieses Thema A
hat also drei Unterthemen, die isoliert oder zusammen in verschiedenen Kombinationen auftreten: A1 sind die Wendungen, die sich um das Verb ansägen
drehen: der hat den doch / bestimmt angesägt
, daß der den ansägen will
, daß der den angesägt hätte
, Der muß den angesägt haben
,
, usw.; Thema A2 handelt von dem Messer: Sie haben meinen Schirm angesägt
Denn warum hätte sonst das Messer da gelegen?
; Weshalb liegt (denn) hier wohl das Messer?
; Liegt da ein Messer in der Fensterbank
; denn sonst hätte doch nicht das Messer da gelegen
. Thema A3 dreht sich schwerpunktmäßig um die sich widersprechenden Wendungen ich habe es ja gleich gedacht
und wer denkt denn auch gleich an sowas
, z.B. denke natürlich an nichts
, Aber denken Sie etwa gleich an alles?
, (ich) denke an nichts, und was soll ich mir auch groß dabei denken? Man denkt doch nicht gleich an sowas. Und ich denke noch (...)
.
Einfacher behandelt ist das Thema B, in welchem das ehrwürdige Alter und die Qualität des Schirms hervorgehoben wird: vierzig Jahre war ich verheiratet, ja, acht Jahre ist mein Mann schon tot, und zwei Jahre vor meiner Hochzeit habe ich mir den gekauft, und wenn ein Schirm fünfzig Jahre in einem Bogen hält, dann ist es ein guter Schirm. Und ein guter Schirm, der kann doch nicht in einem Moment plötzlich abbrechen. Das können Sie sich doch wohl selber sagen.
Dieses gesamte Thema wird fast wörtlich noch einmal wiederholt, dann zeigt sich auch hier eine Aufsplitterung in drei Unterthemen: B1 ist die nur an zwei Stellen erzählte Lebensgeschichte vierzig Jahre (...) gekauft
, B2 ist der immer wieder fast unverändert wiederholte Satz Und wenn son Schirm fünfzig Jahre gehalten hat, denn kann er doch nicht auf einmal abbrechen
, und mit Thema B3 bezeichne ich die feste Wendung Das können Sie sich doch wohl selber sagen
, die in enger Verbindung mit B2 steht264.
Neben diesen beiden Hauptthemen läßt sich noch ein nostalgisches Thema C ausmachen: Denn als wie früher, da haben die Leute doch noch solide gearbeitet, nicht son Ramsch, wie heutzutage.
In einigen ähnlichen Wendungen wird der Schirm bzw. die Arbeitsweise der Vergangenheit als solide
und / oder gut
hervorgehoben (man könnte dies als C1 ansprechen: denn früher, da haben die Leute noch gut gearbeitet
) und die Produktion der Gegenwart abgewertet (C2: nicht wie die schlechten, die man heute öfter sieht / die immerzu abbrechen
).
Dieser Befund hebt nur auf die auffälligsten Themen des kurzen Textes ab; weitere Formulierungen tauchen zwei- oder mehrfach auf, z.B. der hätte alles abgeleugnet / Aber der leugnet natürlich alles ab / Und der Kerl leugnet natürlich ganz dreist und frech
, Das sind wir Kinder nicht gewohnt gewesen / Dazu sind wir Kinder zu gut erzogen
, Aber ich will meinen Schirm wieder haben / Aber ich verlange meinen Schirm wieder in brauchbaren Zustand versetzt
etc. Appliziert man diese Themen auf den Text, ergibt sich folgendes:
1. Absatz:
(...) A1 A2 A3 B1 B2 B3 C1 C2 A3 A1 (...) A3 (...) A3 (...) A2 A3 (...) A3 A2 C1 B1 B2 B3 (...) C1 C2 A3 (...) A2
Zwischenabsatz:
(...) B2 B3 A1 A2
2. Absatz:
(...) A1 (...) A2 (...) A1 A2 B2 B3 (...) A1 A2 B2 B3 (...) C1 (...) A1 A2 B3 B2 (...) (A1) A2 B2 B3 (...) A2 (...) A2 (...) A2 (...) A2 A1 (...) B2 B3 C1 B2 C2 (...) A1 (...) A2 (...) A1 B2 B3 A1 A2
Schlußabsatz:
(...) A1 (...) A1 (...)
Dazu ist bemerkenswert, daß die Motive A3 und B1, die den ersten Absatz durchaus mit beherrschen, im Lauf des Textes aufgegeben werden. Im Fall von A3 läßt sich dies damit erklären, daß die Introspektion, die der Spannungssteigerung dient, im Verlauf des Geschehens stärker zurücktritt. Die Aufgabe von B1 ist nicht so leicht erklärbar, doch ein Blick auf die beiden späteren Fassungen des Textes zeigt uns, daß dieses Motiv eher vergessen und wieder aufgenommen denn bewußt fallengelassen wurde; es taucht auch bereits in Entführung und Bumms
auf. Die feste Verknüpfung von B2 und B3 wurde bereits angesprochen; sie stellt sich zwar als Ausnahme heraus, aber eine gewisse Affinität zwischen A1 und A2 ist auch feststellbar.
Die wichtigste Beobachtung ist jedoch die enorme Dominanz repetitiver Verfahren: Über zwei Drittel des Textes lassen sich auf nur acht verschieden Phrasen und Wendungen zurückführen. Und wie schon angedeutet wurde, ist auch der Rest des Textes, soweit er nicht unmittelbar funktional ist, also die kleine Geschichte
erzählt, zu einem guten Teil phrasenhaft und redundant und läßt sich nicht nur zu kleineren Themen zusammenfassen, sondern häufig auch den hier herausgearbeiteten Themen zuordnen – z.B. erinnert gehe rüstig in den Wald
, Und da muß man sich dazuhalten
, Also ich rüstig nach Bienebostel
u.a. an die gepriesene Qualität des Schirms265 (B2, C1), Und ich fahre ja nicht in der Eisenbahn
dagegen weist über das funktionale Moment hinaus noch auf C2. Stellen wir nun die Strukturanalyse in den Hintergrund und versuchen wir, den Text zu deuten.
Der Schirm
Verschiedene, teilweise widersprüchliche Interpretationen bieten sich an.
Man könnte geneigt sein, den Text als Nonsens aufzufassen, weil einige nicht erklärbare Ungereimtheiten darin sind: eine Siebzigjährige macht tagelange Wanderungen (um, wie wir aus der vorhergehenden Erzählung wissen, ein Stück Wäsche zu verkaufen); ein Wirt sägt ohne jeden Grund einen Schirm an; der vernünftige
Richter übernimmt wörtlich die Argumente der Alten; und allgemein das lächerliche Aufhebens (einschließlich der Erzählung selbst!), das um diese Bagatelle gemacht wird. Indizien für diese Deutung sind eine völlig unsinnig Stelle in der Aussage des Wirtes: Bei uns liegen keine Messer herum. (...) Denn wie leicht kann das ein Feuer geben. Wenn da zum Beispiel der Blitz einschlagen würde. Da kann ja das ganze Messer auf einmal in Klumpen schmelzen.
266 sowie die interessante Wendung, daß der Richter die Argumente
der Frau wörtlich aufgreift267.
Das Problem des Nonsens wurde hier schon verhandelt: Diese Deutung ist zwar schwer falsifizierbar, aber gegen sie spricht, daß sie ziemlich nichtssagend ist.
Eine Leseweise als Schwank füllt einesteils die Leerstellen aus, die die oben ausgeführte ließ, andererseits verlagert sich das Verständnis in Richtung der literarischen Konvention268, wenn auch der niederen
Konvention volkstümlicher Literatur. Ein Anzeichen dafür ist der Sprachstand des Textes. Der Text (also die Rede der Frau Feuerheur) ist in Umgangssprache verfaßt, also in einem moderaten Kompromiß zwischen allgemeinverständlicher Hochsprache und realistischem
Dialekt. Auf die Umgangssprache weisen nicht nur einzelne Dialektmerkmale, wie sie in Schwitters' Heimat wohl zu finden sind – z.B. son
statt so ein
, Is nich
, Momang
, inner
statt in der
etc. –, auch nicht nur die grammatischen Figuren, die dialektunabhängig auf ein niederes
Sprachniveau verweisen (Der hat ...
; Liegt da ein Messer ...
; das kommt überhaupt nicht vor, kommt es
usw.), sondern auch die typischen Eigenheiten in der Redeführung der Frau: die Wiederholungen, die im Text grotesk gesteigert sein mögen, die aber durchaus realistisch wirken, die Alogik der Argumentation (Aber ich verlange meinen Schirm wieder in brauchbaren Zustand versetzt, denn früher da wurde noch alles solide gearbeitet
), nicht zuletzt auch die Gemeinplätze von der rüstigen Alten (mir merkt keiner meine siebzig Jahre an
), von der guten alten Zeit, von der guten Erziehung. Dies alles verweist uns auf einen Typ der Literatur, der sich auf wenige zentrale, realistische Merkmale beruft und diese dann zum überindividuellen Typus übersteigert mit dem Effekt derb-grotesker Komik – und die komische Wirkung ist dem Text sicher nicht abzusprechen.
Der Befund läßt sich sogar noch weiter abstützen: Typisch für diese Literaturgattung ist z.B. die Verwendung grotesk wirkender, möglicherweise durchaus realer Namen wie Feuerheur
oder Bienebostel
; typisch der Rückgriff auf sehr handfeste Komik (Und da hat der denn geflucht, Abraham Kanalgeruch will er heißen
) ebenso wie kalauerhafte Mißverständnisse, in denen sich die Protagonisten als geistig den Rezipienten unterlegen erweisen (Da sagt der Richter: (...)
). Schließlich könnte man als Belege noch die Handlungsführung (banaler Anlaß, Prozeß, karikaturistische Zeichnung der streitenden Figuren) und die pointenhaft zugespitzte Handlung begreifen – der Text läuft sogar in einer doppelten Pointe aus: zum Einen die ich werde Ihnen auf Gerichtskosten einen neuen Schirm kaufen und dedizieren.
(...) Is nich, ich will gar keinen dezimierten Schirm (...)
zitierende
Urteilsbegründung des Richters, zum anderen die Wendung des Ich-Erzählers an den Leser.
Fazit: die Belege für eine Lesart als schwankhafte Erzählung sind so stark, daß wir sie nicht ignorieren können.
Die Handlung des Textes legt eine Interpretation nahe, die auf die Hinfälligkeit des Alten, Überkommenen abhebt. Zwar ist die Redeweise der Alten sicher übertrieben dargestellt, doch ist sie wohl jedem aus dem Umgang mit älteren, etwas verkalkten Menschen bekannt. Nach der hier zu untersuchenden Leseweise hat Schwitters nun auf der einen Ebene den geistigen Verfall der Frau darstellen wollen – wie sie sich geradezu in einem Gefängnis aus immer gleichen Phrasen und überholten Ansichten bewegt, das ihr trotz ihres Redeschwalls Kommunikationsmöglichkeiten verstellt – und auf der anderen Ebene das Ende des Alten versinnbildlichen wollen, der sich in dem plötzlichen, völlig unerwarteten und als höchst schockierend empfundenen Bruch des Schirms symbolisiert. Die Wendung wenn einer die ganze Nacht in einem Bogen wandern will
stellt eine auffällige Verbindung zu und wenn ein Schirm fünfzig Jahre in einem Bogen hält
her – die Frau und der Schirm werden also gleichgesetzt. Beide erhalten auch ähnliche Attribute; so wird vom Schirm mehrmals gesagt, wie solide
er sei, während sich die Frau selbst als rüstig
bezeichnet.
Dem Lob der alten Zeit steht eine ebenso heftige Abneigung gegen das Jetzt gegenüber (die sich auch in der Abneigung gegen Eisenbahnen manifestiert). Der Gegenstand Schirm selbst ist von einiger Symbolkraft: von seiner Etymologie ebenso wie von seiner Funktion her von beschützendem Charakter, dient er der Frau als Stütze, als er bricht; darüber hinaus läßt sich in ihm ein typisches Attribut des Bürgers sehen, wie es Schwitters z.B. im Sturm-Bilderbuch
beinahe karikaturistisch festhielt. Das letztendliche Zerbrechen der Stütze des Altvertrauten durch natürlichen Verfall wird nicht realisiert: Heftig, als gelte es, den eigenen Verfall zu verhindern, schiebt sie die Schuld auf einen anderen. Daß sie damit recht bekommt, verwundert etwas, aber angesichts der seltsamen Urteilsbegründung handelt es sich dabei möglicherweise nur um einen Wunschtraum; denkbar wäre auch eine Auffassung als Rückfall moderner Vernunftkräfte (der Richter) in veraltete Denkschemata, wie er in der Entstehungszeit des Textes reale Parallelen hatte.
Diese Deutung auf der Inhaltsebene führt zu einigen bemerkenswerten Ergebnissen269, die dem auf den ersten Blick so harmlosen Geschehen eine andere Dimension verleihen. Dabei muß man sich aber im klaren sein, daß man dem Text Gewalt antun müßte, wollte man ihn auf eine solche Interpretation hinbiegen: Die schwankhafte Komik ginge dabei ebenso verloren wie man die vom Text offen zur Schau gestellte Banalität der Handlung künstlich überhöhen müßte. Wie zu zeigen sein wird und wie dies ja auch der Eindruck der Lektüre ist, stehen handlungsbezogene Kriterien nicht im Vordergrund; wo und insoweit sie betroffen sind, ist die hier entworfene Deutung aber zu beachten.
Mit den oben getroffenen Feststellungen könnte man die Interpretation abbrechen und sie als Beleg dafür heranziehen, daß Schwitters in späteren Jahren einen zunehmenden Hang zur Banalität der Konvention hatte. Bevor jedoch diese sicher nicht von der Hand zu weisende These wieder aufgegriffen wird, soll der Text noch auf eine andere Leseweise hin geprüft werden. Das Ungenügen an der Leseweise als Schwank wird sich vor allem an der extremen, so durch die Typisierungstendenz der Gattung nicht gedeckten Repetitivität festmachen lassen. Warum wiederholt sich der Text ständig? Wiederholungen in der Alltagssprache sind auf mehrere Weisen motiviert: 1. der Sprecher verdeutlicht einen zuvor als nicht verstanden geglaubten Sachverhalt; 2. der Sprecher legt Nachdruck auf einen Sachverhalt; 3. er will sich vergewissern, daß der Hörer den Sachverhalt nicht schon vergessen hat; 4. er hat selbst vergessen, daß er den Sachverhalt schon erwähnt hat.
Dazu kämen noch hier vernachlässigbare psychologische Gründe (Unsicherheit etc.). In der Literatur fallen diese Gründe allesamt mehr oder minder weg: (1) der Rezipient hat die Möglichkeit, das nicht Verstandene nachzulesen und zu überdenken; (2) und (3) ist durch kurze Rekurse abzudecken; und (4) sollte in einem überarbeiteten Text vermeidbar sein. Die Wiederholung ließe sich in diesem Text natürlich noch durch ihre mimetische Funktion begründen: der Text spricht so, wie Frau Feuerheur spricht. Aber was ist dann mit einem Text wie diesem anzufangen:
(...)
piss püss piss pass
piss puss piss pass
piss püss piss pass
piss puss piss pass
piss püse pise pass
piss puse pise pass
piss püsch piss pass
piss pusch piss pass
piss püsch piss pass
piss pusch piss pass
pesche pusch piss pass
pesche püsch piss pass
pesche pusch piss pass
pesche püsch piss pass (...)270
oder auch:
What a b what a b what a beauty
What a b what a b what a a
What beauty beauty be
What beauty beauty be
What beauty beauty beauty be be be
What a be what a b what a beauty
What a b what a b what a a
What a be be be be be
What a be be be be be
What a be be be be be be be a beauty be be be
What a beauty271.
Schon beim ersten der hier zitierten Texte wird man kaum noch von einer mimetischen Rechtfertigung der Wiederholungen ausgehen können, auch wenn eine solche durch den Titel Nießscherzo
angeboten zu werden scheint, aus dem einfachen Grund, daß niemand so nießt. Konnte man hier noch Zweifel geltend machen, so dürften diese durch den anderen Text ausgeräumt sein. Um allerdings Der Schirm
und diese beiden Texte einem direkten Vergleich zu unterziehen, muß eine Lücke übersprungen werden, die darin besteht, daß sich Der Schirm
eben auch als konventioneller Text lesen läßt, die anderen beiden nicht. Das Überspringen dieser Lücke wird durch einen Blick auf die beiden späteren Textfassungen erleichtert.
In der Fassung von 1928 sind die erzählerischen
Elemente deutlich zurückgedrängt, das Geschehen wird kompliziert. So heißt es nach den ersten Sätzen:
(...) und wenn der fufzig Jahre in einem Bogen hält, denn kann der doch nicht plötzlich auf einmal bumms abbrechen, das können Sie sich doch wohl selber sagen. Und bumms, bricht der ab – -. Das kann man sich überhaupt gar nicht vorstellen, das geht in meinen alten Kopf nicht mehr rein, da bleibt einem ja der Verstand bei stehen, da kann man ja verrückt von werden, der muß den angesägt haben, denn warum hätte sonst wohl das Messer da gelegen. Aber ich habe mir ja gleich gedacht, wenn ich nun zurückgehe, und dem das sage, daß der den angesägt hat, denn sagt der doch bestimmt:Das habe ich nicht getan, der hat da überhaupt gar nicht gestanden. Und wenn er da gestanden hat, denn hat da kein Messer gelegen, denn wir sind eine anständige Kneipe und bei uns liegen die Messers beis Besteck oder in der Tischschublade, denn wie leicht könnte das sonst Brand geben, denn schmilzt mich das ganze Messer zusammen. Und wenn da aber ja ein Messer gelegen hat, denn habe ich den doch nicht angesägt. Da können Sie mich ruhig drauf verklagen, da leiste ich jeden Meineid.Darum bin ich gleich zum Gericht gegangen (...)
Dieser Abschnitt ersetzt also den Teil, in dem die Frau die Vorgeschichte – wenn auch umständlich – erzählt. Das Geschehen wird aus dem Zusammenhang gelöst, statt dessen werden weitere Motive und Themen eingeführt. Auch die Szene, in der die Frau dem Richter das Verbrechen
schildert, ist nicht so sehr im Sinne einer lebendigen dialogischen Ausgestaltung zu verstehen, sondern zeigt die Tendenz, die Schwierigkeiten des Erzählens zu verschärfen. Durch diese Neigung zur poetischen Sprachreflexion entfernt sich der Text ebenso vom Schwank wie durch seine Lösung vom Realismus
, die sowohl mit der Preisgabe der erzählerischen Zusammenhänge als auch mit einigen real unerklärlichen Details erzielt wird: Als sich der Wirt verteidigt, greift er z.T. wörtlich die ihm unterschobene Verteidigungsstrategie auf. Zwar spielt sich dies innerhalb der Erzählung der Frau ab, doch tritt dieser Umstand im Lauf der Rezeption zurück, ist die Frau doch in der Lage, die sie entlarvenden Dialoge mit dem Richter wiederzugeben.
Erheblich verschärft ist diese Tendenz in der letzten Fassung, deren Anfang ich hier wiedergeben möchte:
Ich hab mir ja gleich gedacht, aber wer denkt denn auch gleich an sowas. Denn vierzig Jahre bin ich verheiratet gewesen, acht Jahre ist der nun schon tot, und zwei Jahre vor meiner Ehe habe ich mir den gekauft, und wenn der fünfzig Jahre in einem
BOGEN
hält, dann kann der doch nicht auf einmal abbrechen, und BUMMS bricht der ab!
Das geht mir ja nicht in den Kopf hinein,
Da kann man ja zuviel bei kriegen,
Da kann man ja verrückt bei werden,
Sowas ist mir ja in meinem Leben noch nicht passiert,
Und möge mir nicht wieder vorkommen,
Davor möge mich ein gutes Geschick bewahren.
Aber ich habe zu mir gesagt:Wenn ich nun zu dem zurückgehe und sage: Ich habs mir ja gleich gesagt, denn warum hätte sonst das Messer da gelegen; aber wer denkt denn auch gleich an sowas!
Wie besonders der letzte zitierte Absatz zeigt, ist hier die Logik stellenweise völlig aufgegeben, die Sprache unterläuft die Geschichte
. Unterstützt wird dies durch die bewußte typographische Gestaltung272 (die im handschriftlichen Manuskript nur angedeutet werden konnte), die scheinbar willkürlich und alogisch einzelne Worte und Sätze durch Großschreibung und Zentrierung hervorhebt: BOGEN (zweimal), BUMMS (zweimal, einmal im Textblock), HERR RICHTER!
, UND BUMMS BRICHT DER AB (dreimal, einmal ist nur UND
in Majuskeln), ICH BIN KEINE GUTE FRAU!
; eine Gestaltung, die über Absätze rhythmisch verfügt und die große Textteile z.T. refrainartig in Versen
präsentiert. -
Ich glaube, nachgewiesen zu haben, daß a) ein Verständnis des Textes als experimenteller möglich und angezeigt ist und b) die ständigen Wiederholungen primär nicht mimetischer Art sind. Aber wozu dienen sie dann?
Ein Verständnis des Textes kann nur erreicht werden, wenn von den Verfahrensweisen konventioneller Literatur abgesehen wird zugunsten derjenigen einer experimentellen Literatur. Wie ich in der Analyse oben gezeigt habe, ist der Text sehr bewußt durch eine geringe Anzahl immer gleicher Schemata strukturiert; ich habe diese Schemata Themen genannt.
thema 1:
Fümms bö wö tää zää Uu,
pögiff,
kwii Ee.
thema 2:
Dedesnn nn rrrrrr,
Ii Ee,
mpiff tillff too,
tillll,
Jüü Kaa? (gesungen)
thema 3:
Rinnzekete bee bee nnz krr müü?
ziiuu ennze, ziiuu rinnzkrrmüü, rakete bee bee.
thema 4:
Rrummpff tillff toooo?273
Den oben eingeführten Begriff Thema
fasse ich so auf wie Schwitters hier, nämlich im musikalischen Sinn. Meine Behauptung ist also, der Text Der Schirm
liest sich (zumindest insoweit man ihn nicht als Schwank verstehen will) grundsätzlich nicht anders als z.B. die ursonate
. In beiden Fällen sehe ich Sprache nicht im herkömmlichen Sinn als Mitteilungsträger verstanden, auch nicht in einem wie auch immer gedachten herkömmlich-poetischen Sinn, sondern – zunehmend radikalisiert – abstrahiert von der Bedeutungsdimension und nur nach den Erfordernissen künstlerischer Logik
(ein zentraler Begriff von Schwitters' Ästhetik, der an die Stelle herkömmlicher Sinngebung tritt) angeordnet, also vor allem Rhythmik und Klang, die, und das ist das Bemerkenswerteste an diesem Text, in eine interessante Beziehung mit der verstümmelten Semantik des Textes treten: Sprache wird also, um mit Scheffer (S.33-53) zu reden, als Material behandelt. Dieser gleichsam musikalische Charakter des Textes ist zwar nicht der einzige, wie in der ursonate
, so daß die Entfaltung der Themen noch semantischer Kompatibilität bedarf, aber daß auf dieser Seite die Dominanz liegt, dürfte nicht zuletzt der Vergleich der drei Fassungen gezeigt haben. Damit ist übrigens auch der scheinbar zufällige Umstand erklärt, daß sämtliche acht (Haupt-) Themen in den Eingangssätzen, vergleichbar der oben zitierten Einleitung der ursonate
, auftauchen: das sprachliche Material wird vorgestellt, bevor es zu einer durcharbeitung
274 kommt.
Der bemerkenswerte Schritt, den Schwitters in diesem und in einigen verwandten Texten unternimmt, ist weniger die rhythmische Anordnung des als solches vorgeführten Sprachmaterials, denn das hat er und andere progressive Dichter schon früher unternommen, bemerkenswert ist vielmehr, wie dieser Sprachgebrauch realistisch
motiviert wird: Elemente der Alltagswahrnehmung – z.B. eine verkalkte alte Frau, die wortreich von grotesken Banalitäten redet; oder eine andere Frau, die die tragikomische Geschichte der Liebe ihres verstorbenen Mannes zu einem Papagei erzählt275; oder auch Geräusche
wie Husten276, Nießen277, Vogelgesang278 – werden aus ihren banalen Alltagskonnexen gerissen und ganz im Sinne der Merzkunst entformelt
.
Trotz dieser theoretischen Kompatibilität mit den Merztheorien der frühen zwanziger Jahre ist ein erheblicher Unterschied mit den damals entstandenen Texten nicht zu übersehen:
Sieh nur, wie schön die Löwin mit ihrem Männchen!–Ja, der bleibt aber auch immer.Da kehrt einer der Boten auf schäumendem Pferde.Warum greifen die Hunde nicht?, tobt der General und wendet sich gemeinsam mit dem Adjutanten. (...)279
oder:
Ao 0,05 am 0,2 Merz I nach dem Ableben des großen Franz Müller frage ich sie, ob sie eine geneigte Seite haben?
Der offensichtliche Unterschied zwischen diesen kurzen, fast beliebigen Beispielen aus Schwitters Merzphase im engeren Sinn und dem konstruktivistischen
Spätwerk (denn als solche kann man wohl die Texte, die etwa ab Mitte der zwanziger Jahre entstanden sind, ansehen) ist, daß ein Text wie Der Schirm
, selbst in seiner radikalsten Fassung von 1946 noch Sinn
macht, verstehbar (in der trivialen Bedeutung des Wortes) ist. Ebenso wie in den eigentlichen Merztexten läßt sich eine Entformelung des Materials konstatieren, doch der entscheidende Unterschied ist, daß Schwitters nicht länger versucht, durch die künstlerische Anordnung dem Material sein Eigengift
, wie er es nennt, zu entziehen, sondern sich bewußt auf diese Eigendynamik einläßt; daß also das Material nicht einfach nur auseinandergenommen und neu angeordnet wird, sondern daß dessen ihm innewohnenden Qualitäten und Eigenschaften entfaltet werden, indem eine sekundäre, künstlerischmaterialbetonte Sinngebung über der dem Material ursprünglich innewohnenden Sinndimension errichtet wird (welche gegnüber den Merztexten neu hinzukommt), so daß beide in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen.
Die anhand des Textes Der Schirm
entworfenen Kriterien sind einer ganzen Gruppe von auf den ersten Blick äußerst heterogenen Texten gemein, die allesamt auf Schwitters' Spätwerk verweisen.
Ich knüpfe hier mit der Diskussion der theoretischen Schriften Schwitters' an, wo ich im vorigen Kapitel aufgehört habe, nämlich beim Abstreifen der dadaistischen Elemente von der Merzästhetik und beim ersten gescheiterten Versuch, dies umzusetzen in der i-Kunst. Weist die i-Kunst schon auf die Zeit vor der Dada-Tournee zurück, so ist die endgültige Wende erst in Holland eingetreten. Ein zur Jahreswende 1922/23 in Holländisch verfaßter Artikel De Zelfoverwinning van Dada
(DLW 5/120-123) legt als erster die neuen Ideen nieder. In dem Aufsatz führt Schwitters zuerst den hohen Rangwert der Kunst aus, der allein durch die abstrakte, d.h. nicht abbildende und nicht expressive Kunst281, gewährleistet werden kann. Dann spricht Schwitters von dem Kennzeichen der Kunst, daß sich jedes Teil auf jedes bezieht und auf nichts außerhalb des Werks:
Het werk bepaalt zich in en tot zichzelf en tot niets buiten zich. D.w.z. dat zich het werk uit zijn eigen deelen opbouwt. Het consequente werk is dat hetwelk het meest bepaald, het meest streng is. De belangrijkste kunstenaars van onzen tijd zijn zij die dit voortbrengen of nastreven. Ik herinner hier aan de kunstenaars der HollandscheStijl-groep, die het strengste en sterkste kunstwerk van onzen tijd voortgebracht hebben.
Auf dieses klare Bekenntnis zum Konstruktivismus stellt Schwitters zu Recht die Frage:
Maar ...wat ist nu Dada? Dada is niet speciaalkunstuitingmaarlevensuiting. Men is gewend de praestaties der zgn. dadaisten metDadate vereenzelvigen. Dada is meer. Dada is het wezen van onzen tijd. (...) Onze geheele tijd heet Dada. De dadaisten echter zijn nietdada, zij hebben het dadaisme overwonnen. De dadaist is een spiegeldrager. (...) Dada brengt alle groote spanningen van onzen tijd op hun grootst gemeenen deeler. Deze grootst gemeene deeler is nonsens. Niet Dada is nonsens maar het wezen van onzen tijd is nonsens. Dada is de zedelijke ernst van onzen tijd. En het publiek valt daarbij om van het lachen. Ook Dada. (...) De dadaïstische kunstenaar wijst den tijd den weg in de toekomst. Hij vereenigt in zich de contrasten: Dada en Konstructie. Slechts consequente strengheid is het middel om ons uit den chaos te bevrijden. Zoo overwint de dadaïstische kunstenaar zichzelf door Dada. Hij is door innerlijke consequentie verheven boven den compromitteerenden onzin dien hij bewust maakt. (...) Wij leven aan het einde van een ouden en aan het begin van een nieuwen tijd. De overgang is Dada.
Die schon in der Merzidee latente Distanz zum Dadaismus bricht sich hier endgültig Bahn. Schwitters spricht, und das ist der entscheidende Unterschied zu früheren Manifesten, aus der Perspektive des Postdadaisten, der das sehr reale Dáda
282 der Welt zu überwinden sucht. Dazu verfolgt Schwitters eine Doppelstrategie (und wir geraten in erhebliche Mißverständnisse, wenn wir diese beiden Pole nicht unterscheiden): Zum einen hält er dem Publikum einen Spiegel vor, so daß im Publikum die verschlafenen dadaistischen Instinkte
erwachen (DLW 5/127). Die Folge:
In 24 Stunden lernte ganz Holland das Wortdada. Jeder kann es jetzt, jeder weiß eine Nuance des Wortes, wie er es blöde schreien kann, so blöde wie möglich. Das ist ein enormer Erfolg. Der sonst so würdig scheinende Kulturmensch erkennt plötzlich, wie blöde er sein kann, und wie blöde er also im Grunde seiner Seele ist. Das ist ein enormer Erfolg. (DLW 5/131)
Die bewußte Provokation offenbart sich im Verständnis Schwitters' als aufklärende Tätigkeit über die enorme Stillosigkeit in unserer Kultur
(DLW 5/132), die ihn sogar von Dada als dem sittlichen Ernst unserer Zeit sprechen läßt283. Hier setzt nun der neue Stil ein – ein Stil, der sich von seinen dadaistischen Beigaben gelöst hat und das Chaos durch strengste Ordnung zu überwinden sucht. Der Künstler der Zeit hat ein dadaistisches und ein konstruktivistisches Gesicht284. Er ist Dadaist, weil er das Kind einer dadaistischen, wirren, unsinnigen Zeit ist, und er ist Dadaist, weil er sich einer dadaistischen Kunstäußerung bedient, um das Publikum durch extreme Stillosigkeit anzugreifen, es zu Dadaisten zu machen. Diese bewußte Barbarisierung dient dazu, den Rezipienten den Unwert der eigenen Kultur nicht nur zu zeigen, sondern auch fühlen zu lassen. Erst nach dieser kathartischen Behandlung erwacht im Rezipienten die Sehnsucht nach dem neuen Stil, der die Kunst wieder bei null anfangen läßt, bei den einfachsten Elementen – also z.B. den Grundfarben gelb, rot, blau, als Kontraste schwarz und weiß, als Formen nur sich in Rechtecke schneidende vertikale und horizontale Linien285. Diese Arbeiten sind nicht als endgültig gedacht, sondern als Grundlegung für eine eventuelle spätere Neuzusammensetzung dieser geläuterten286 Elemente zu komplizierteren Gebilden. Damit stellt sich jedoch ein schwieriges Problem: wie läßt sich dies auf die Literatur übertragen?
Banalitäten
Auch in der Merzidee wurde ein künstlerisches Gestaltungsprinzip auf die Literatur übertragen. Halten wir uns vor Augen, worin der Unterschied zwischen gesammelten Objekten und gesammelten Sprachbruchstücken besteht. Das Objekt ist ein begrenzter, einmaliger, nicht reproduzierbarer Gegenstand. Das Sprachbruchstück ist ebenfalls begrenzt, doch ist diese Begrenzung weniger deutlich als etwa bei einem Straßenbahnbillet oder einem angeschwemmten Holzstück. Die Sprache setzt gewisse Markierungen, an denen sie am leichtesten demontiert, ausgeschnitten
werden kann – Wörter und Sätze –, doch neigt die Sprache dazu, sich stärker auf sich selbst zu beziehen als Objekte auf andere Objekte287. Bestehen in diesem Punkt immerhin noch Analogien, so ist der Unterschied in der Reproduzierbarkeit grundlegend. Zwar ist jede Sprachäußerung ein Unikat, doch kann diese Äußerung wegen ihrer Flüchtigkeit nicht ins Kunstwerk aufgenommen werden (allenfalls mit einem Tonband, was aber technisch nicht möglich war).
Schwitters nimmt also in seine Dichtungen nicht die Dinge
auf, sondern die reproduzierbare Idee (im platonischen Sinn) der Sprach-Dinge. Das hat natürlich einige Folgen für den Umgang mit diesen Dingen. Zum einen verliert die Sprachäußerung von ihrer Einmaligkeit, verschiedene ähnliche Sprachäußerungen können in der schriftlichen Fixierung nicht mehr unterschieden werden; zum anderen unterläuft die Äußerung im Prozeß der Fixierung eine Änderung, indem nur das, was der Künstler für wesentlich hält, in die schriftliche Fixierung eingeht; schließlich kann der Künstler den Gegenstand verändern, und zwar nicht nur durch Übermalen
, Überkleben
, verfremdenden Kontext und verfremdende Zuschneidung, sondern der Gegenstand selbst ist beliebig formbar, bis er das vom Künstler gewünschte Äußere besitzt. Im Bereich der bildenden Kunst hat man es also mit Objekten zu tun; im Bereich der Dichtung mit der Konvention, und zwar im doppelten Sinn der sprachlichen Regelhaftigkeit (die ja auch dem Verstoß zugrunde liegt) und des Schematismus. Die einzelne Äußerung des Schemas behält bei ihrer Übertragung in die Dichtung eine mehr oder weniger starke Individualität bei, eine Unverwechselbarkeit, auf die auch die Merzidee abzielt; doch ist eben diese Singularität nur bedingt, die ihr zugrundeliegende Konventionalität tritt dabei nur mehr oder weniger stark zutage.
Ein Blick auf die von Schwitters mit Vorliebe gewählten Sprachbruchstücke bestätigt diesen Eindruck. Keineswegs handelt es sich im Regelfall um esoterische Verse (und wo diese verwendet werden, dann auf degradierende Weise), sondern um Straßenbahngespräche, Bonmots seiner Zugehfrau Thatje und seines kleinen Sohnes Ernst (Ernst Lehmann
), Reklameschildern und ähnliches: Sprachfragmente, die aus der Konventionalität kommen, prinzipiell von jedem Menschen stammen könnten, singulär in ihren sprachlichen (Dialekt, Umgangssprache, Rechtschreibfehler; auch Stottern, Nießen etc.) und sonstigen Defekten (Tautologien, Widersprüchlichkeit, Banalität) und doch wieder konventionell im Typischen ihrer Defizienz.
In seiner konstruktivistischen Phase hält Schwitters an der Merzästhetik fest und integriert weiterhin vorgefundene Objekte collagenartig in seine Werke – doch die Verfahrensweisen sind anders. Einerseits werden nun häufig Objekte gewählt, die eine relativ geringe Eigendynamik aufweisen, wie buntes Papier, das sich kaum noch von gewöhnlichen Farbflächen unterscheidet; wo Schwitters weiterhin Zeitungsausschnitte, Billets oder ähnliches verwertet, sind diese weniger verfremdet, weniger auffällig zugeschnitten, seltener überklebt oder übermalt; vor allem: die Heterogenität des Materials in einem Bild nimmt ab. Der Rhythmus wird getragener, die Anordnung der Objekte ruhiger, die Farbgebung tendiert zu den Grundfarben.
Übertragen auf die Literatur hieße dies, daß die wirre dadaistische Polyvalenz, die Stimmenvielfalt abnimmt. Die Auswahl der Konventions-Fragmente wird bewußter, selektiver, unauffälliger und stärker in die Komposition integriert. Die Konsequenz ist, daß das Werk nur noch von wenigen verschiedenen Konventionen
dominiert wird, so daß die Autonomie des formenden Künstlers stärker hervortreten kann288; andererseits aber führt dies dazu, daß das einzelne Material eine gewichtigere Rolle erhält als zuvor die sich in der Gesamtheit nivellierenden Materialien. Der – in Schwitters' Texten nach 1923 häufige – Extremfall ist, daß der Text nur noch aus einer einzigen Konvention besteht, mit zwei verschiedenen Varianten: entweder ist die Konvention als solche kenntlich, da sie aus einem nichtliterarischen Kontext stammt (wie beim Schirm
) oder da sie grotesk überzeichnet ist (dazu später); oder die Konvention ist nicht als solche erkennbar, der Text folgt schematisierten literarischen Mustern, ohne irgend eine Differenz oder Ambivalenz zu ihnen erkennen zu lassen. Besonders die überzeugende Integration dieser letzteren (quantitativ nicht kleinen) Gruppe von Texten in eine Gesamtdeutung von Schwitters scheint mir ein Desiderat der Schwitters-Forschung zu sein: da diese Texte literarisch belanglos sind, wurden sie bisher stillschweigend übergangen289. Die Banalität, das abwertend Konventionelle, muß in ihrer lebensweltlich-realen Unmittelbarkeit auf Schwitters zeitlebens eine Faszination ausgeübt haben – wie ja auch sein Leben eine höchst eigenartige Mischung von Konvention und Progressivität darstellte. Merz 4 war eigens dieser spezifisch Schwitterschen Kunstmanifestation gewidmet.
Banalitäten aus dem Chinesischen
Fliegen haben kurze Beine.
Eile ist des Witzes Weile.
Rote Himbeeren sind rot.
Das Ende ist der Anfang jeden Endes.
Der Anfang ist das Ende jeden Anfangs.
Banalität ist jeden Bürgers Zier.
Das Bürgertum ist aller Bürger Anfang.
Bürger haben kurze Fliegen.
Würze ist des Witzes Kürze.
Jede Frau hat eine Schürze.
Jeder Anfang hat sein Ende.
Die Welt ist voll von klugen Leuten.
Kluge ist dumm.
Nicht alles, was man Expressionismus nennt, ist Ausdruckskunst.
Kluge ist immer noch dumm.
Dumme ist klug.
Kluge bleibt dumm.
Der Text führt sich äußerlich zurück auf die seit einigen Jahren verstärkt rezipierte asiatische Kultur. In einer ironischen Reprise greift Schwitters die enge Verbindung von tiefer Weisheit (als die entsprechende Texte z.B. des Taoismus und Zen-Buddhismus gewöhnlich rezipiert werden) und Banalität auf und setzt sie zueinander in Spannung. Der Text baut sich aus anfangs isolierten Einzelsentenzen zusammen, von denen einige jedoch aufgegriffen, wiederholt und verbunden werden (zu denken wäre hier wiederum an den oben eingeführten Begriff des Themas
)290. Hauptsächliches Material des Textes sind Sprichwörter, die aber entweder vermerzt (Fliegen haben kurze Beine
, Eile ist des Witzes Weile
) oder überhaupt nicht mehr auf konkrete Sprichwörter zurückführbar sind, sondern den allgemeinen Gestus der Sprichwort-Konvention aufgreifen. Die Einzelsentenzen sind äußerst heterogen291; ein Satz z.B. wie Rote Himbeeren sind rot
ist eine schlichte Tautologie, die in ihrer Abgeschlossenheit und in der Umgebung bedeutenderer
Sätze jedoch eine gewisse Rätselhaftigkeit gewinnt, wie dies eben auch typisch ist für z.B. die Paradoxien des Zen-Buddhismus, die dazu dienten, die Rationalität zu überwinden. Andere Sentenzen wie Das Ende ist der Anfang jeden Endes
verstärken diese Tendenz, indem sie Tautologie und Oxymoron verschränken. Sätze wie Jeder Anfang hat sein Ende
können ebenso als totale Banalität wie als tiefempfundene Lebenserfahrung rezipiert werden, ähnlich verhält es sich mit Kluge ist dumm
, das seine Weisheit hinter grammatischer Defizienz verbirgt.
In einem Aufsatz dazu schreibt Schwitters:
Der reine Merz ist Kunst, der reine Dadaismus Nichtkunst; beides mit Bewußtsein. In Merz 2 habe ich von einer Spezialform von Merz:i, gesprochen; es ist das Auffinden eines künstlerischen Komplexes in der unkünstlerischen Welt und das Schaffen eines Kunstwerkes aus diesem Komplex durch Begrenzung, sonst nichts. Jetzt, in Merz 4, setze ich diesen logischen Gedankengang fort. Ich schreibe über die Banalität; sie ist das Auffinden eines unkünstlerischen Komplexes in der unkünstlerischen Welt und das Schaffen eines Dadawerkes (bewußte Nichtkunst) aus diesem Komplex durch Begrenzung, sonst nichts. (DLW 5/148)
Und im gleichen Heft:
Der beste Kampf gegen den schlechten Geschmack für die form- und gedankenlose Litteratur ist die i-Banalität. (DLW 5/151)
Damit verschweigt Schwitters jedoch die Anziehung der Banalität zugunsten einer oberflächlichen konstruktivistischen Ideologie. Die Banalität befindet sich an einer Wasserscheide zwischen bewußter Nichtkunst
zur Bekämpfung des schlechten Geschmacks – in diesen Kontext gehören die zahlreichen, meist auf konkrete Personen zurückführbaren Zitate wie z.B. Wie manches ist vergangen
von Platen292, z.T. durch Dekontextualisierung verfremdet wie bei Aber an den angetanen
293 – und der konstruktivistischen Elementarität in einem speziell Schwitterschen Zuschnitt294.
Schwitters' Leidenschaft für banale Konventionalität offenbart sich am stärksten in dem recht umfangreichen, aber mit Ausnahme der höchst bemerkenswerten Oper Der Zusammenstoß
295 und zwei frühen Mini-Dramen296 so gut wie gar nicht rezipierten dramatischen Werk. Die übrigen Stücke sind in oft jahrelanger Beschäftigung mit dem gleichen Stoff zwischen 1925 und 1940 (eines noch 1946) entstanden, manche sind nur bis zu knappen Entwürfen gediehen, viele brachten es nur bis zur ersten Szene, die wenigsten sind vollendet, aufgeführt ist bis heute keines, und auch ihre Erstveröffentlichung erfuhren sie erst 1977 im Rahmen der Werkedition.
Besonders frappierend ist dabei, daß Schwitters immer wieder an völlig konventionellen Lustspielen mit schwach satirischen Zügen arbeitet, so die beiden abgeschlossenen Dramen Totenbett mit happy end
und Es kommt drauf an
(DLW 4/141-156 bzw. 157-213), wie zugeschnitten auf die großstädtischen Unterhaltungsbühnen, deren reger Besucher Schwitters gewesen sein dürfte297. Beide Stücke sind im persönlichen Lebensbereich Schwitters' verankert: während das Totenbett
eine satirische Reprise auf Familienquerelen ist298, ist Es kommt darauf an
im Künstlermilieu situiert. Bezeichnenderweise allerdings handelt es sich um äußerst konventionelle Künstler – das Milieu ist eher aus der Konvention denn aus eigener Erfahrung gezeichnet. Ähnlich verhält es sich mit Das Irrenhaus von Sondermann
, das ebenso die konventionelle Gestalt des lebensuntüchtigen Dichterlings zur Hauptfigur eines Lustspiels macht. Mit Fragmenten wie Feuerschein
299 oder Der dritte Acker
(DLW 4/281-295 bzw. 271-276) wagte sich Schwitters auf die Konvention des naturalistisch eingefärbten Bauerndramas vor, und bei Eine Stunde Aufenthalt
(1934, DLW 4/255-270) versuchte sich Schwitters sogar an einem Schicksalsdramolett. Johanna Paulsen
(DLW 4/296f) gehört zu den wenigen dichterischen Werken Schwitters', in denen auf aktuelle politische Gegebenheiten eingegangen wird, nämlich auf die Judenverfolgung (es ist allerdings beim Entwurf geblieben), und Wahrheit
(DLW 4/299-307) schließlich ist ein bemerkenswert langweiliges Stück, dessen Thema (Toleranz und Religion) eher ins 18. als ins 20. Jahrhundert gehört.
Neben originär künstlerischen Versuchen in Der Zusammenstoß
, Oben und unten
300 und dem Filmentwurf Mitten in der Welt steht ein Haus
(DLW 4/85-88) trägt auch die Groteske Der Zoobär
(DLW 4/225-247) deutlicher die Handschrift Schwitters', ein befremdliches, düster wirkendes Fragment, thematisch Balls Flametti
nicht unähnlich. Komplexere Montagen aus mehreren Versatzstücken finden sich dagegen kaum, einzig in Spiel der Gefangenen im Kreise herum
(DLW 4/131-140) werden verschiedene Versatzstücke neben groteske Elemente gestellt und zu fiktionsbrechender Vielfalt verwoben. Das Stück beginnt:
Der Märchenprinz: Ach dieses Meer! Es gibt Weite. Weite im Herzen gibt das brausende Meer. Wo soll es die weite Sehnsucht geben? Wie ich sie liebe, diese brausenden Wogen, die mit wogendem Gebrause herangebraust kommen!
Fräulein Pipp Pipp [verborgen]: Ach, ist das schön!
Diese völlig überzogene Kitschgestalt trifft in ihrer weltfremden Naivität auf die berechnende Donna Isobalda und weckt ihr Interesse. Fräulein Pipp Pipp gibt aus dem Abseits weiter ihre auf Isobalda eifersüchtigen Kommentare zum Geschehen, man hört sie, aber entdeckt sie nicht; es kommt zu Verwirrungen, in deren Verlauf drei groteske Figuren (Herr Ungeschrieben, der lange Lulatsch und der Sehnsüchtige – die beiden letzteren umwerben Isobalda schwärmerisch in der zweiten Szene) auftreten, bis schließlich der König erscheint; Pipp Pipp zeigt sich:
Pipp Pipp: Bin ich etwa nichts? Bin ich etwa gar nichts? Ich bin Pipp Pipp, ein berühmter Filmstar.
König: Was heißt Filmstar?
Pipp Pipp: (...) Ein Filmstar ist eine Königin unter dem Filmvolk.
König: Das verstehe ich. Zum Märchenprinzen Also nun marsch aufs Schloß. Zu Fräulein Pipp Pipp. Und Sie, Fräulein Filmstar, kommen natürlich auch.
Ein seltsamer Antagonismus verschiedener fiktionaler Ebenen wird hier gezeigt: die Fiktionalität der Märchenwelt trifft auf die reale Welt der Filmstars, die allerdings in ihrer Idealisierung kaum weniger fiktional ist. Die letzte Szene des Fragments nimmt noch einmal das Motiv der ersten auf, daß sich Personen nur scheinbar in der Intimität befinden (es sind der König und Isobalda bei einem tête-à-tête), während alle anderen Figuren diese Intimität bespitzeln. Leben wir nicht alle im Leben auf dem Präsentierteller?
, hinterfragt Ungeschrieben die grotesk gezeichnete Rückseite der Berühmtheit. Es scheint nun zu einer Verschärfung des Konflikts Film-Märchen zu kommen, indem Pipp Pipp den Prinzen, dessen einst lyrische Sprechweise sich sehr gewandelt hat, für den Film gewinnen kann. – Es ist schwierig, sich diesem merkwürdigen, unvollendeten Text grotesker Inkohärenz zu nähern. Wie man vermuten darf, wollte Schwitters durch die Vermengung zweier Formen der Idealisierung des Menschen – eine überlebte und eine gegenwärtige – seine Kritik an dieser künstlichen Präsentierung des Einzelnen äußern, die ihn zum Gefangenen seines eigenen Scheins macht (wie der Titel nahelegt). Der Konflikt zwischen diesen Idealisierungsformen ist dabei handlungskonstituierend, seine Groteskisierung bringt umfangreiche fiktionsironische Komponenten ins Spiel.
Den größten Teil von Schwitters' literarischem Werk machen Prosatexte aus, die ebenfalls ein sehr unterschiedliches Bild bieten. Wie bei den Dramen finden sich zahlreiche ausgesprochen konventionelle Texte darunter; viele dieser Texte kreisen um die Themen Eitelkeit, Stolz und – zentral – das dadurch zerstörte Glück. Ein Text wie z.B. Das stolze Mädchen
(1925, DLW 2/234-236) ist so extrem schematisiert, daß der Handlungsablauf (das stolze Mädchen weist aus Überheblichkeit alle Freier zurück und bleibt im Alter einsam) völlig vorhersagbar ist. Schwitters bewegt sich hier in einem ähnlichen Bereich wie bei den Banalitäten
, indem das, was seine Lebensweisheit war, wegen seiner Trivialität völlig von elementaren literarischen Konventionen aufgesogen wird. Sind Texte dieser Art ironisch oder hinterfragen sie die Konvention, von der sie so ausgiebig Gebrauch machen? Man möchte es vermuten, doch in vielen Texten findet sich dafür nicht der kleinste Hinweis, so daß man umgekehrt dort, wo Schwitters durch einige wenige Eingriffe die Konventionalität des Geschriebenen deutlich macht, davon ausgehen muß, daß er sich auf diese Weise fast gewaltsam zu ihr Distanz verschafft.
Fast das gleiche Thema – das Glück – findet sich in komplexerer Gestaltung etwa in Der Schweinehirt und der Dichterfürst
(1925, DLW 2/203-206), wo die Konvention durch groteske Überzeichnung und durch die Verdoppelung der Fiktionsebenen mit dem Auftreten des Dichterfürsten
hinterfragt wird – eine ähnliche Konstellation, wie wir sie bei Punch von Nobel
finden (siehe unten). Vollends zur Groteske überzeichnet sind etwa Texte wie Emils blaue Augen
(1925, DLW 2/254-256), die auf ironische Weise die Scheinhaftigkeit des Lebens allgemein und die der Attraktivität im besonderen hinterfragen. Eine weitere Gruppe von Texten wären etwa die Burlesken in der Ich-Form wie Magische Kraft
oder Das geliehene Fahrrad
301, in denen das Ich in peinliche Situationen gerät ohne es zu merken oder an der Tücke des Objekts scheitert. Schwitters hat daneben auch noch experimentelle Texte (z.B. Der eine und der andere
, Und
(1925, DLW 2/249f bzw. 242-244) verfaßt, die sich in ihrem Verlauf der eigenen Sprachlichkeit vergewissern (Scheffer: reflexive Progression
– S.116-125), oder, schärfer formuliert, Texte, die überhaupt erst durch die Reflexion auf die Sprachlichkeit konstituiert werden, wodurch sich oft die Sprachebenen auf komplexe Weise vermengen. Und
beginnt:
Zunächst kamen sie zu dem Wort UND. Dann stießen sie sich daran, daß sie immer allein die Arbeit tun sollten, etwas hinzufügen zu müssen. Und so kam es, daß sie bei dem Worte UND zunächst stehen blieben. Ja, warum konnten das denn nicht ebensogut die anderen tun, die doch immer nur da herumstanden.
Der Text macht einen äußerst verwirrenden Eindruck, indem in seinem Verlauf immer unklarer wird, wo und wie weit er sich auf die Sprache und wie weit auf die Handlung
bezieht, verwirrend auch, weil die beiden namenlosen Gruppen nicht referentialisierbar sind, Leerstellen bleiben. Mit der Ambivalenz zwischen diesen verschiedenen Sprachebenen bewirkt Schwitters eine gelungene Verunsicherung des Lesers, eine Ambivalenz, die auf der für Schwitters typischen Hinterfragung der Konvention (hier: der Sprache überhaupt) im Lauf ihres Gebrauchs als Thema des Textes (nicht etwa nur als eine zusätzliche Dimension des Textes) basiert.
Zwei weitere Gruppen von Texten sind noch zu erwähnen, die insbesondere im Spätwerk eine gewisse Bedeutung beanspruchen: zum einen autobiographische Prosa, wie sie in der Fixierung von Reiseeindrücken etwa auch schon in Rundfahrt im Hamburger Hafen
oder Profane Worte über der ewigen Stadt
302 vorzufinden ist. Dabei steht auf der einen Seite die stilistisch klare Erzählung aus den Kriegszeiten Der Mann in der Maschine
(DLW 3/260-265), auf der anderen der verspielte, völlig handlungslose Text Ich sitze hier mit Erika
(1936, DLW 3/101-124), in dem Schwitters spontan die Stimmung eines frohen Tages in bedrückender Zeit einfängt.
Die im engeren Sinn fiktionale Prosa dagegen verstärkt ihre Neigung zur Konventionalität – einerseits im oben beschriebenen Sinn des (wie ich meine) unhinterfragten Konventionsgebrauchs, andererseits in den verschiedenen Verfahren, Konventionalität als solche sichtbar zu machen. Radikalisiert ist diese Tendenz etwa in Konrad Hull
(1935, DLW 3/80-100), der ausschließlich aus fiktionalen Konventionen besteht – etwa Bohème-Roman, Gangstergeschichte, Science-Fiction, Horror- und Märchenelemente –, die übergangslos und willkürlich aneinander und ineinander montiert sind, wodurch eine grotesk-wirre Handlung entsteht, die sich zunehmend von der Alltagswelt ablöst. Die Lösung der wirren Handlungsstränge erfolgt durch einen wahren Deus ex machina, nämlich durch ein Umschalten
der Geschichte in ihr Gegenteil, wodurch ein künstlich harmonisiertes happy-end303 herbeigeführt wird, das in seinem Verfahren an den allerdings wesentlich stärker reflektierten Text Punch von Nobel
erinnert, der unten noch zu untersuchen sein wird.
Zuvor jedoch möchte ich noch einen Text aus der Übergangsphase von 1922 zeigen, nämlich das Hauptstück von Memoiren Anna Blumes in Bleie
. Schon der Titel ist nicht ganz unproblematisch, denn der Text beginnt:
Das Thema!
T
H
E
M
A
!
Das Thema heißt einfach Bleie
. Überschrift:
DIE ERDBEERE.
Personen: |
Der Rote, Der Grüne, Der Braune. (DLW 2/61-65) |
Ich bezeichne den Text hier als Erdbeere
, da der Titel Das Thema
(wie Lach es gewählt hat), mehr die Kapitelüberschrift in der in sich recht geschlossenen Publikation darstellt.
Der Braune begann:Der Ofen hat eine Tür zum Aufschütten der Kohlen, eine Tür zum Stochern der Glut, eine Tür zum Herausnehmen der Asche, ein Rohr zum Hinausleiten des Dampfes in des Schornstein und einen Bauch, der die Wärme aus den Kohlen begierig aufsaugt, um sie ins Zimmer auszustrahlen.Der Rote und der Grüne lauschten. Plötzlich sprach der Rote:Und wenn der Ofen die Wärme nicht ausstrahlt?–Er strahlt sie aus!sagte der Grüne. –Und wenn er es doch nicht tut, sagte der Rote. –Er muß es tun!–Warum muß er es tun?fragte der Rote. –Weil er so gebaut ist, antwortete der Grüne. –Weil er wie gebaut ist?fragte hingegen der Rote wieder. – Da räusperte sich der Braune, spuckte dem Roten ins Gesicht und begann:Der Ofen hat eine Tür (...)
Der Braune beginnt mit einer Beschreibung des Ofens, die rational304 und völlig einsichtig ist; seine Sprache schwankt dabei zwischen der einer trockenen Gebrauchsanleitung und der eines Kinderbuches, das seine plane Rationalität mit einer etwas lebendigeren Sprache (begierig aufsaugt
) versüßt. Wer aus dieser didaktisch-überlegenen Warte spricht, erwartet keinen Widerspruch, so daß der Braune die Fragen des Roten zuerst überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt. Erst mit der Frage des Roten nach dem Bau des Ofens fühlt sich der Braune an seine stereotype Belehrung erinnert und beginnt von vorn. Der zweite Durchlauf offenbart jedoch schon eine erhebliche Verunsicherung:
Hinter der Tür zum Stochen der Glut sitzt die Roste. Die Roste besteht aus Gußeisen.– Der Rote stöhnte leise.Hinter der Tür zum Entfernen der Asche sitzt der Aschenkasten. Der Aschenkasten besteht aus Blech, die Roste hingegen aus Gußeisen. Der Aschenkasten hat einen Knopf zum Anfassen, man kann ihn herausholen und in ein beliebiges Knopfloch stecken.Der Rote begann zu wimmern.Übrigens dient der Aschenkasten zum Aufnehmen der Asche. Asche ist Brennmaterial, vermindert um Bleie.(...)Deshalb wärmt der Ofen, sagte der Grüne.Ich verstehe nicht, wieso, wimmerte der Rote.
Der Braune in seiner Rolle des Lehrers ist ähnlich verunsichert wie Erwachsene, denen Kinder auf jede Antwort aufs Neue ein warum?
entgegenhalten. Er versucht, durch eine stärkere Detailliertheit seiner Beschreibung die Frage zu beantworten, offenbart dabei aber selbst eine Tendenz zu Nonsens-Erklärungen, die sich im weiteren Textverlauf noch verschärft. Seine Ausführungen verlassen immer weiter die Basis der Rationalität und kreisen um bestimmte Motive, die keinen rationalen Sinn mehr aufweisen:
Und wenn der Ofen aus Samt wäre, (...) dann würde er sich selbst verbrennen. (...) Und wenn der Ascheneimer aus Sammet wäre (...), dann wäre er ein Sack. (...) [Der Rote:] Aber ich begreife immer noch nicht, weshalb er [der Ofen] sie [die Wärme] nicht nach innen weiterleitet?– [Der Grüne:]Weil er doch kein Spiegel ist.–Ja, wieso denn? Warum ist er denn kein Spiegel?–Weil er der Bauch eines Ofens ist.-Aber warum kann denn der Bauch eines Ofens kein Spiegel sein?–Weil er auch kein Sack ist.–Ist denn ein Sack kein Spiegel?–Nein, Säcke sind selten Spiegel.–Warum ist denn ein Sack selten kein Spiegel?–Weil er nicht aus Samt ist.
Mit den beiden vom Braunen eingeführten Motiven Samt und Sack und noch mehr mit dem Spiegel des Grünen entfernt man sich immer mehr von dem eigentlichen Problem, die Komplikationen nehmen zu, die Motive lösen sich zunehmend aus jeder rationalen Verankerung und überfrachten das Gespräch. Nach einer ersten grotesken Einlage beginnt der Braune mit dem dritten Durchgang.
Der Rote wimmerte stärker. Hier entstand eine etwas schwüle Pause. // Um die Pause anzudeuten, beginne ich zu zählen: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 15, 14, 13, 12, 13, 12, 7, 9, 6, 8, 3, 2, 1, 0, 0, 0, 0, 0, 0. Der Ofen begann zu rauchen. Da fragte der Rote:Warum raucht der Ofen?, und die Pause begann zu wimmern, und es breitete sich eine Luft aus.Weil es zieht, sagte der Grüne. Da machte der Braune sein Maul so groß auf, daß der entstehende Zug den Qualm in den Ofen zurückblies.Nun zieht es, sagte die Fliege.
Die Motive – der Zug und die Fliege waren zuvor schon aufgetaucht – beherrschen jetzt den Text völlig, sie werden willkürlich einander zugeordnet. Nach weiteren Komplikationen beginnt der Rote, den Ofen zu erklären auf völlig groteske Weise, worauf der Braune im Zorn seine Erklärung vom Anfang wiederholt; nach einer erneuten Anfrage des Roten tötet er diesen, gleich darauf sterben auch die anderen beiden. Nach einer grotesken Merzeinlage folgt:
Hier hätte die Erdbeere ihr Ende haben können, aber sie hat es nicht (...) Nun saßen die drei Farbigen wieder zusammen am Tische, neben dem Ofen. (...) Sie hatten einander so lieb, und der Ofen wärmte sie, und der Braune begann:Der Ofen hat eine Tür zum Auffüllen der Asche, eine Tür zum Stochen des Eises (...) Mittels eines vierkantigen Hauses wird das Eis in den Schornstein geleitet und fällt in Form von Hagel auf dein Häärchen.
Man vergleiche hierzu das Zählen
von Schwitters: zuerst beginnt seine Zahlenfolge ganz rational, dann jedoch kreist er um einzelne Motive der Zahlenfolge herum, bis er sich dann in willkürlichen Sprüngen in der entgegengesetzten Richtung auf den Nullpunkt zubewegt, wo er dann verharrt. Der Logozentrismus zerstört sich selbst, denn auch der Rote in seiner Frage nach dem Warum gehört ihm an. Die Beseitigung der Rationalität wird zuerst als destruktiv empfunden im lakonisch erzählten Ende der drei Protagonisten. Dann jedoch befreit sich Schwitters von der letzten Form der Logik, nämlich der Logik der Geschichte – und nun können die Drei in friedlichem Wahnsinn zusammen sein.
Schwitters verspricht also nicht zuviel, wenn er als Untertitel seiner Veröffentlichung Eine leichtfaßliche Methode zur Erlernung des Wahnsinns für Jedermann
wählt305. Ganz ähnlich dem fast gleichzeitg entstandenen Text Auguste Bolte
werden hier das reflexive Potential zur Selbstdestruktion des Rationalen und seine oft gleitenden Übergänge zum Wahnsinn vor Augen geführt. Nun erst fragt niemand mehr danach, warum der Ofen wärmt, niemand erklärt es: und der Ofen wärmte sie
. Die Rationalität entlarvt sich als Fiktion, die vor dem wirklichen Leben steht: Ich nenne sowas Blei-Analyse. Hier erlebt der Leser ein erschütterndes Grubenunglück. Das Klosett stürzt ein, und der Leser stürzt in die Grube. So aber ist das Leben. Man meint auf einer blumigen Wiese zu sein und sitzt auf dem Klosett.
(DLW 2/60) – Schwitters' Reflex auf die Zeitströmung des Irrationalismus und Vitalismus, die paradoxerweise mit konstruktivistischen Verfahren realisiert ist.
Damit komme ich zu Punch von Nobel
(1925, DLW 2/172-203), ein hochinteressanter Erzähltext, der über dem epochenfixierten Forschungsinteresse lange Zeit unberücksichtigt geblieben ist und erst bei Homayr eine angemessene Würdigung erfahren hat.
Punch von Nobel
Es war ein Mann, der hieß Punch. Der hatte einen karierten Rock, rot kariert und weiß kariert und rot kariert und wieder weiß kariert. Und die Kinder hatten ihn gerne, weil er einen karierten Rock anhatte, rot kariert und weiß kariert und rot kariert und wieder weiß kariert. Und seine Hose war gerade umgekehrt, weiß kariert und rot kariert und weiß kariert und wieder rot kariert; ganz große Karos, mal rot, mal weiß.
Der Titel verweist ebenso wie die kindlich umständliche Sprache auf das Kasperltheater (Punch = Kasperl); doch auf diesem Rahmen wird schon hier das Ineinander der Konventionen praktiziert und thematisiert. Die Beschreibung der Karos, in sich selbst schon redundant, wird wörtlich wiederholt und dann, unter Gebrauch der schon stereotypen Formel, ironisch in ihr Gegenteil verkehrt, das natürlich identisch ist; indirekt thematisiert ist der Umgang mit den Konventionen, da man die ineinander geschachtelten Karos als Metapher der verschiedenen, doch in ihrer Gesamtheit das Werk konstituierenden Versatzstücke auffassen kann. Schwitters schildert im ersten Drittel des Textes die Wandertruppe um Hanns Fleisch (Direktor), Punch (Clown), Elli (Klavierspielerin), Bugbear und Backside (Tänzer) und Erich Stöpsel (Helfer), sowie eine im Chaos endende Aufführung. Die Erzählung bewegt sich hier in dem gesteckten Rahmen zwischen der milieuhaft-realistischen, oft ins Idyllische, Poetische
überhöhten306 Schilderung der Ärmlichkeit einer volkstümlichen Wanderbühne (z.B. die Ausbeutung Stöpsels, die gestohlenen Stiefel, die Schmutzigkeit der Truppe – S.175f) und deren eigenen kindlichen Stil (Aber ich muß Euch erst mal die ganze Truppe vorstellen
– S.173; man vergleiche auch den Anfang des Textes); wobei diese Wanderbühne damit ihrerseits ebenso auf das Kasperltheater verweist wie auf dessen realen, ungezügelt-derben Vorläufer in der Hanswurstiade307.
Bei der Schilderung der Aufführung in einem kleinen Dorf geht Schwitters zur dramatischen Wiedergabe des Bühnengeschehens über. Das groteske Verfallsprodukt von Historienspektakel und Burleske geht im darstellerischen Dilettantismus unter – weder Akteure noch Publikum können zwischen Schauspiel und Wirklichkeit unterscheiden:
Backside: Ich bin das Mädchen vom Lande, seid Ihr der große Kaiser? (...) (geht auf Napoleon zu) Ich muß jetzt den großen Feldherren lieben, das ist meine Rolle.
Im Publikum wird es jetzt sehr unruhig, wegen der Sittlichkeit.
Die Magd: Lose Dirne, was fällt Dir ein, er liebt mich doch! (...)
Backside (hat vor Scham einen roten Popo bekommen): Ich bin doch nur aus Beruf nackt. Und ganz nackt bin ich sowieso nicht, sonst würde ich von der Zensur gestrichen. (S.180)
In dem bäuerlich-groben Milieu des Dorfgasthauses findet die Verwechslung von Wirklichkeit und Fiktion schließlich ein blutiges Ende. Doch nun geschieht etwas überraschendes:
In diesem Augenblick erscheint der Autor selbst. Er erkennt, daß hier eine Situation geschaffen ist, die zu keinen Resultaten führt (...) [die mögliche Fortsetzung der Handlung wird schlagwortartig angerissen] Alle Figuren nämlich, die ein echter Dichter selbst schafft, sind aus Pappe. Aber Pappe hat 2 Seiten. Daher dreht der Dichter seine Figuren einfach um, sobald es ihm gefällt. (DLW 2/181f)
Und nun beginnt Schwitters tatsächlich umzudrehen
– die Figuren, sogar die Kulissen:
Und von nun an bleibt Herr Direktor Fleisch verdreht, er ist und bleibt bis auf Widerruf Frieda Meier. (...) Und Sie staunen, was auf der Rückseite des Saales ist: es ist weiter nichts als der bekannte Badestrand von Heringsdorf. (...) Aber hier beginnt der Autor zu streichen. Das alles paßt ihm noch nicht. Ich streiche der Einfachheit halber zunächst die Umgebung einfach durch, kreuz und quer durch, und sage nureinstundirgendwo, an Stelle vonHeringsdorf.
Nichts von der ursprünglichen Erzählung ist mehr geblieben: keine einzige der Figuren mehr, die Umgebung nicht, nicht einmal das Milieu (die nun folgende Geschichte von Fritz und Frieda Meier spielt sich im Bürgertum ab), sogar der Darbietungsstil hat sich gewandelt (Sie
statt Euch
als Anrede an den Leser) Die massiven Eingriffe des Autors
kommen überraschend, wenn auch nicht völlig unvermittelt. Schon im bisherigen Erzähltext war der Autor
sehr präsent und lenkte mehr oder minder deutlich das Geschehen – doch war bislang kein Bruch mit der verbreiteten Tradition auktorialen Erzählens zu spüren, allenfalls eine Ausdehnung des Verfahrens. Nun jedoch ist eine andere Dimension erreicht: der Autor stellt sein Werk innerhalb von dessen Verlauf als work in progress vor, an dem während der Abfassung noch gebastelt und gefeilt werden muß, um den Anspruch des echten Dichters
, des gewissenhaften Autors
(S.182) einzulösen. Der auktoriale Erzähler arbeitet, und das ist die paradoxe Neuerung, gegen seine eigene Erzählung. Die dabei anzutreffende Vermischung der Fiktionsebenen ist radikalisiert, aber im Text nicht neu – dies zeigt nicht nur die ständige Verwechslung während der Aufführung der Truppe, sondern auch, daß die Magd, die zum Publikum gehört, plötzlich in der Dramenform (Die Magd:
) spricht (siehe oben), daß überhaupt die Grenzen zwischen Aufführung und realem Geschehen unlösbar verwirrt scheinen, und noch allgemeiner auch, daß vom auktorialen Erzählen plötzlich auf dramatische Darbietung geschaltet wird. -
Die nächste Geschichte ist eine kleine Groteske: Fritz (1) und Frieda Meier, ein voneinander gelangweiltes Bürgerehepaar, werden besucht von Fritz Meier (2), der allen dieses Namens die Gründung einer Kolonie zur Pflege des Meierismus vorschlägt. Dabei entwickelt sich eine Rivalität zwischen (1) und (2), die, nach einem zwischenzeitlichen Exkurs ins Reich der Meerschweinchen mit satirischen Anspielungen auf das konventionelle Dichten, in dem unsterblichen Streitgespräch zwischen einem Schwerhörigen (1) und einem Stotterer (2)308 gipfelt. Nach zwei Seiten qualvoller Kommunikationsverhinderung309 greift der Autor
erneut ein, um aus diesem Di di di di di dilemma wieder herauszukommen
(S.192), und dreht Meier (2) um, auf dessen Rückseite sich Punch befindet – allerdings nicht identisch mit der Gestalt des ersten Teils, sondern ein Doppelgänger. Der ebenfalls umgedrehte Fleisch gründet eine neue Truppe, es kommt zu einer abgewandelten Reprise des ersten Teils310 – doch sind nun die Fiktionsebenen vollends im Wanken:
Außerdem, wer konnte es wissen, wo und wann er wieder umgedreht werden würde (...)? (S.194)
Was meinst Du
, sagte Punch, soll ich mal das Böckchen mit den roten Augen rumdrehen? Wir sind doch selbst auch umgedreht
(S.195)
Gerade als die höchst groteske Aufführung der Truppe den Beifall des Publikums zu finden scheint, erscheint Punch (1) und gerät in Streit mit Punch (2). Munter wird nun weiter umgedreht, der Text versinkt im Chaos, der Dichter
führt ihn gewaltsam zu Ende311:
Er erklärte sich daher selbst für verdreht und drehte sich selbst um. Auf der Rückseite aber stand, Sie werden selbst staunen, kein geringerer als KURT SCHWITTERS. Und der hatte kein Interesse daran, PUNCH VON NOBEL weiter zu bedichten. Er schrieb seinen Namen darunter und das Datum (S.203).
Die Grenzen von Realität und Fiktion sind mithin nicht nur innerhalb der Fiktion verwischt, sondern auch für den Text selbst. Natürlich ist der Autor
nicht der Autor Kurt Schwitters, sondern eine Figur, und zwar die eigentliche Hauptfigur, wie Schwitters ja selbst zeigt in diesem Zitat. Der Text handelt nicht von einer Wanderbühne und nicht vom Meierismus, sondern vom gescheiterten Versuch des Autors
, eine Geschichte zu erzählen – ein Scheitern, das den Text zusammenhält, weil er nicht selbst scheitert, sondern das Scheitern zeigt. Das impliziert verwirrende Komplexe von Fiktionsironie buchstäblich bis zum letzten Satz: Ist es nun wirklich KURT SCHWITTERS
, der seinen Namen darunterschrieb
? Nein! Schon das epische Präteritum zeigt die Fiktionalität an, ebenso wie das Sprechen in der dritten Person: es ist dies die letzte und tückischste Falle
der Fiktionsironie – in immer verwirrenderen Selbstverdoppelungen entwischt der echte Autor dem Leser.
Homayrs Deutung zielt im wesentlichen darauf ab, daß Schwitters durch die Einbeziehung avantgardistischer (bzw. die Radikalisierung traditioneller) Verfahren nicht nur ein eigenständiges narratives Werk schaffen wollte, sondern durch die degradierende Entlarvung des Autors als stümperhaften Bastler die Idee des organischen, hinter seiner Fiktionalität zurücktretenden Kunstwerks ad absurdum zu führen. Er stellt den Text dabei in eine Linie mit Franz Müllers Drahtfrühling
, in welchem er ähnliche Tendenzen der Karnevalisierung ausmacht – exemplarisch an der Umdrehbarkeit der Figuren, die diese nicht als komplexe psychologische Gestalten, sondern als zweidimensionale, bunt-karikaturistische Schießbudenfiguren zeigt.
Ich denke, daß sich gegen diese Interpretation wenig vorbringen läßt, doch daß sie durch eine Einbeziehung des Begriffes der Konventionalität eine höhere Tiefenschärfe gewinnen würde. Weniger die literarische Tradition des organischen Kunstwerks selbst als vielmehr ihre Konventionalität ist das Ziel des Spotts. Die an der Entwicklung des Erzählverlaufs wie an der Psychologisierung der Figuren vorgebrachte Kritik ist natürlich ins Karnevaleske verzerrend, da sie sich an der als Konvention erkannten natürlichen
Erzählweise stößt und die Eindimensionalität dieser Konvention grotesk überzeichnet, wie dies eben auch bei Schießbudenfiguren, Karnevalsmasken etc. der Fall ist. Die Verfahren der Kritik ähneln sich, doch die Intentionen sind verschieden: ich meine, daß Schwitters der Tradition/Konvention weniger das karnevaleske Vertauschen von Oben und Unten gegenüberstellt als vielmehr die von ihm (in diesem Text) praktizierte Reflexion über den eigenen Gebrauch von Konventionen.
Eine letzte Frage: worin bestehen die zentralen Unterschiede zu einem Text wie Franz Müllers Drahtfrühling
, was, außer seinem Entstehungsdatum weist ihn einer späteren Schaffensperiode zu? Die demonstrative Willkür scheint ja gegenüber Franz Müller
, der eine konventionell verständliche Geschichte erzählt, nur mit ungewöhnlichen Verfahren, noch gesteigert. Das Unterscheidungskriterium ist, daß in Punch
eine wesentlich stärkere und nachvollziehbarere Motivierung der Textelemente festzustellen ist, und dies gilt gerade für die Willkür. Franz Müller
ist auch ohne den zweifach wiederholten Anfang, ohne die Vermerzungen und die kurzen Wechsel in den Wortkunst-Stil denkbar; Punch
dagegen ist durch die Zerstörung der Geschichte konstituiert – es ist eine logische Darstellung der Willkür, die ja auch der Kritik unterzogen wird312. Diese paradoxe Verbindung macht die Stärke des Textes aus, in dem sich die dadaistischen Reste in einem konstruktiv angeordnetem Text synthetisiert finden.
Zuerst einmal ist darauf zu verweisen, daß konsequente
Lautgedichte313, wie sie im vorigen Kapitel untersucht worden waren, nicht zu der hier interessierenden Gruppe gehören: Diese Texte mit ihrem fast völligen Verzicht auf sprachliche Verweisfunktion stellen die Sackgasse dar, die Schwitters mit dem Rückgriff auf die Banalität
zu überwinden hoffte. Wie dort gezeigt worden ist, weist aber auch von dort der Wille zur Gestaltung auf den Konstruktivismus, der ja insbesondere am Abstrakt-Elementaren interessiert war. Die systematische Anordnung der Textelemente in der ursonate
ist eine Möglichkeit, den rein reflexiven Charakter des Lautgedichts zu überwinden; hier soll jedoch eine andere diskutiert werden. Gerade nämlich die als mimetische Lautgedichte verstandenen und deswegen häufig kritisierten Texte wie die oben erwähnten Husten Scherzo
, Nießscherzo
, Obervogelsang
sind auch Ausdruck konstruktivistischer Dichtungsauffassung im oben formulierten Sinn. Liest man z.B. das Nießscherzo
(s.o.), dann sollte sich eigentlich der gelegentlich vorgebrachte Einwand, daß diese Texte real vorgegebene Geräusche mit phonetischen Mitteln zu imitieren versuchen
und damit ein zwar aufschlußreiches, aber im Hinblick auf eine konsequente phonetische Dichtung auch mißverstandenes Unternehmen
314 darstellten, erübrigen: Insbesondere in den beiden Scherzi ist die Systematik der Verfahrensweisen so dominant, daß die mimetische Dimension damit zwar nicht aufgehoben wird, daß ihr aber in der künstlerischen Überformung die schwerwiegendere Komponente gegenübersteht; insofern haben diese Texte wesentliche Gemeinsamkeiten mit dem oben untersuchten. Bezeichnend ist, daß auch hier wieder Sprachdefizienzen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Wie fließend hier die Übergänge sein können, zeigt folgender Text:
Kleines Gedicht für große Stotterer
Ein Fischge, Fisch, ein Fefefefefischgerippe
Lag auf der auf, lag auf der Klippe.
Wie kam es, kam, wie kam, wie kam es
Dahin, dahin, dahin?
Das Meer hat Meer, das Meer, das hat es
Dahin, dahin, dahingespület,
Da llllliegt es, liegt, da llllliegt, llliegt es
Sehr gut, sogar sehr gut! (...) (4. Fassung, 1934, DLW 1/118)
Schwitters gibt zu diesem Gedicht eine Art Selbstinterpretation. In seinem Prosatext Ich sitze hier mit Erika
von 1936 heißt es gegen Ende:
Man kann sich das Leben gar nicht lustig genug machen. Denn was ein Röslein werden will, das rötet sich beizeiten. Röslein, Röslein, Röslein rot; Röhöslein auhauf der Heiden! (...) Ühübrigens kohomme ich jehetzt mit eihenem Mahale deher Lyhyrik behedeuheutend näher (...) Aber (...) Man kann doch nicht wegen der Melodie die Dichtung verhuhuntzen. Wenn schon die Melodie stottern will, so muß das Stottern schon in der Dichtung begründet sein. (DLW 3/120)
Die Schwitters eigene exzentrische Rationalität wendet sich wieder einmal spöttisch gegen die Hochkultur
– in einer ähnlichen Wendung wie z.B. sein Vorwurf des Betrugs an die abbildende Malerei (Der Schein
DLW 3/12f). Das sprachexperimentelle Interesse erforscht davon ausgehend eine neue Möglichkeit zu dichten:
Ich wollte ein lyrisches Gedicht über die einsame Insel und ihr Fischgerippe schreiben. Ich habe immer so einen Hang ins Lyrische gehabt.
Da kam mir plötzlich der Gedanke: Wie nun, wenn ein Stotterer das Fischgerippe gefunden hätte, er könnte es noch nicht einmal in den Mund nehmen, wenigstens nicht im Ganzen, er würde es etwa Fefefefefefefischgerippe nennen.
(DLW 5/120)
Ebenso ironisch, wie Schwitters über seine eigene Sentimentalität schreibt, thematisiert er auch sein Mitleid mit den Stotterern (und den Wunsch, durch diese Idee berühmt zu werden) – in einer Weise, die diese Ironie als Schutzhaltung vor der eigenen Emotionalität offenbart. Schwitters stellt nun drei Fassungen des Gedichts gegenüber: seine ursprünglich gestotterte
(DLW 5/121), eine bereinigte
Fassung (ohne zu stottern wäre das Gedicht nichts, gar nichts, rein gar nichts (...) Immerhin klingt es so ähnlich, wie eine Übersetzung von Laotse
– DLW 5/122) und schließlich eine tatsächlich
gestotterte (DLW 5/123) von einem Stotterer, dem Schwitters im Text begegnet (die obige Fassung ist etwa in der Mitte zwischen der ersten und der dritten).
Schwitters selbst begründet sein Sprachexperiment also mit seinem typischen ironischen Understatement: Seine Behauptung, er habe aus Mitleid für die Stotterer geschrieben, ist ähnlich trügerisch wie sein Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich den Unsinn
(DLW 5/77). Hinter dieser Haltung steht ein antiautoritäres Originalitätsbedürfnis, verbunden mit Kritik an der tradierten Kultur und mit einem geradezu auf das 18. Jahrhundert verweisenden Rationalismus315. Schwitters behauptet ganz selbstverständlich seine mimetischen Interessen bei dem Stotterer-Gedicht – ist damit meine obige Interpretationsthese widerlegt? Ich meine nicht:
Fischers Fritz ...) eine vorzügliche Basis für das zu erprobende Verfahren.
Daß Schwitters' Experimente in dieser Richtung als wegweisend eingeschätzt werden müssen, beweist das Interesse der konkreten poesie (zu denken wäre an die Wiener Gruppe und hier insbesondere an Jandl) daran; das sich im Anschluß an diese Texte stellende Problem der Tragfähigkeit solcher Techniken über den einmaligen Innovationswert hinaus ist in diesem Zusammenhang von nachgeordneter Bedeutung.
Materialgedichte
Auf ähnliche Weise stellt sich eine Gruppe von Texten dar, für deren Zusammengehörigkeit einige Indizien bestehen, für die es aber keinen Terminus gibt. Ich meine damit Texte wie Cigarren (elementar)
(1922, DLW 1/199), wo z.B. das Wort Cigarren
zuerst in seine Silben, dann in seine Buchstaben zerlegt wird; dann folgt diese Passage:
Ce
CeI
CeIGe
CeIGeA
CeIGeAErr
CeIGeAErrEr
CeIGeAErrErr
CeIGeAErrErr
ErrEEn
EEn
En
Nun wird das Wort wieder Vers für Vers, Buchstabe für Buchstabe zerlegt, schließlich wieder zu Silben zusammengesetzt, der letzte Vers
lautet: Cigarren (Der letzte Vers wird gesungen)
. Mit Ausnahme dieser Klammerbemerkung ist das Gedicht also völlig symmetrisch aufgebaut: die Folge A (ganzes Wort) – B (Silben) – C (Buchstaben) wird im dritten Teil zu C – B – A umgekehrt. In diesem symmetrischen Rahmen steckt der oben zitierte Mittelteil. Wer sich durch das seltsam wirkende Schriftbild nicht irritieren läßt, sondern die Lautlichkeit realisiert, wird rasch das System der Anordnung begreifen; eine konsequente Weiterführung wäre nach der bisherigen Regelhaftigkeit um so mehr zu erwarten. Doch gerade hier zeigt sich die künstlerische Leistung Schwitters': der Kunstcharakter geht bei mathematischer Systematik ebenso verloren (bzw. verkommt zum einmaligen Demonstrationsobjekt) wie bei völliger Willkür. Schwitters begreift das Wort gewissermaßen wie ein Melodie und behandelt es entsprechend, indem er den Höhepunkt, das doppel-R, retardiert und dann in zwei gleichen Versen auskostet. Dann schreitet das Verfahren wieder systematisch fort, jedoch unter dem Vorzeichen des Ausklingens: nun wird in jedem Vers ein Buchstabe weggenommen. Mit einfachsten Eingriffen in die mathematische Konsequenz hat Schwitters auf diese Weise künstlerische Bewegung in den Text gebracht. Der Schluß ist nur folgerichtig: Die Zerlegung des Wortes setzt seine Kunstqualitäten wieder frei, die vorher von einer dicken Schicht der Konvention überlagert waren: das Wort kann wieder gesungen
werden.
Dieses Gedicht ist gewissermaßen der Ahnherr einer Reihe von Texten, die konkret
sind, aber offenbar nicht als Lautgedichte verstanden werden können. Ich schlage den Terminus Materialgedicht
vor mit folgender Definition:
Ein Materialgedicht ist ein Text, der begrenztes, identifizierbares sprachliches Material durch Zerlegung, Repetition und ähnliche Verfahren – mit allenfalls im Hintergrund mitschwingender semantischer Dimension – als Material zu erkennen gibt.
Wie aus dem obigen Text hervorgehen dürfte, beinhaltet die Dekonstruktion auch konstruktive Momente (sonst wäre es schwer, den Text überhaupt als künstlerischen anzusehen). Die Abgrenzung gegen Lautgedichte besteht in der Identifizierbarkeit und engen Begrenzung der dekonstruierten Sprachbestandteile, oft nur ein einziges Wort. Wesentliche Gemeinsamkeit zur Lautdichtung ist das weitgehende Abstrahieren von der als arbiträr kritisierten Semantik, was freilich bei der Hartnäckigkeit
dieser Funktion nicht ganz möglich ist. Gerade dies verleiht dem Text jedoch eine positive Qualität, wie z.B. Doof
oder Wand
:
Wand
Fünf Vier Drei Zwei Eins
Wand
Wand
WAND
WAND WAND WAND
WAND WAND WAND
WAND WAND WAND WAND
wände
wände
Wände
WÄNDE WÄNDE WÄNDE
WÄNDE WÄNDE WÄNDE WÄNDE
WAND
WAND WAND WAND
WAND WAND WAND
wand wand wand
wand
wand
wand
wand (1921, DLW 1/203)
Bei diesem Text wird das Wort nicht zerlegt, doch wird seine Materialität durch semantisch nicht faßbare Wiederholungen aufgezeigt. Rhythmik und Steigerung sind durch Groß–, Klein- und Initialgroßschreibung, durch Anordnung in Versen, verschiedene Wortabstände und Schriftgrößen und den Wechsel zwischen Singular und Plural hergestellt; in der Systematik, in der dies geschehen ist, wäre ein Verständnis als bloße Vortragsanleitung zu einseitig, vielmehr wird dem typographischen Erscheinungsbild eine Eigenqualität zugesprochen.
Eine Frage ist zentral für das Verständnis des Gedichts: ist Wand
die bloße Lautfolge [vant], ist also das Gedicht ein Lautgedicht, oder spielt seine Semantik eine Rolle? Dagegen spricht die Ansicht Kandinskys, daß ein Wort durch ständige Wiederholung seine Bedeutung verliert. Ein Indiz, daß die Semantik nicht bedeutungslos ist, ist das Alternieren mit der (grammatisch korrekten) Pluralform, d.h. daß zumindest im grammatikalischen Sinn über die Lautfolge zum Wort hinausgegangen ist. Machen wir eine Probe, spielen wir das Gedicht durch mit lautlich ähnlichen Wörtern wie Wald
, Hand
oder Band
: Das Gedicht verändert sich wesentlich (über den einen ausgetauschten Laut hinaus) und liest sich z.B. im Fall von Hand
anders als bei Wald
, wo es zum parodistischen Nonsens verkommt. Das Wort verliert durch Wiederholung und Entformelung
seine Bedeutung nicht, aber es stellt sie in den nur halbbewußten Hintergrund, tritt zurück, um in die Suggestion seiner durch typographische – die wie eine Wand untereinander geschriebenen Wörter, die durch längere Zeilen beunruhigt werden – und lautliche Mittel – dem gleichsam dumpfen Schlag, mit dem die Sprache an die Wände des Gedichts rennt – neu konstituierten, nun nicht mehr willkürlichen Bedeutung einzugehen.
Komplexer ist das Verhältnis des Terminus Materialgedicht
zu den Buchstaben- und Zahlengedichten wie Z A (elementar)
(1921, DLW 1/205) oder Gedicht 25 (elementar)
(1922, DLW 1/204). Man vergleiche z.B. folgenden Text mit obiger Definition:
Z A
(elementar)
Z Y X
W V U
T S R Q
P O N M
L K I H
G F E
D C B A316
Der Unterschied zu den obigen Gedichten ist, daß hier die Dekonstruktion schon von Anfang an vollzogen ist. Es ist nach dem oben gesagten klar, daß eine Berufung auf Schwitters' Neigung zum Unsinn hier nicht weiterhilft; ganz im Gegenteil ist der Text in die Reihe seiner Versuche einzuordnen, durch Rückbesinnung auf das Elementare der Sprache ihre Verbindlichkeit und Dignität zurückzugeben317. Ähnlich wie andere Texte, die in diesem Abschnitt untersucht worden sind, synthetisiert Schwitters vorgegebenes, minimales Material mit einer künstlerischen Strukturierung; im Unterschied etwa zu Wand
tritt hier die künstlerische Gestaltung noch weiter zurück, sie beschränkt sich auf die rhythmische Anordnung des ansonsten unveränderten Materials in der Typographie (und sicher auch im Vortrag) und auf die Überschrift, die jedoch ähnlich zurückhaltend die Eigendynamik des Materials wirken läßt und ihr nicht ironisch eine Sinngebung aufdrängt wie bei Louis Aragons Suicide
. Die Radikalität Schwitters' in diesem Text führt ihn wieder in die Nähe von i, wobei hier allerdings die zentrale Bedeutung des ausgewählten Materials (nicht nur als allgemein bekanntes, sondern auch als Basis der Sprache überhaupt) und der sich auf den Akt der rhythmischen Präsentation beschränkende Verzicht auf eine Sinngebung überzeugender wirkt.
In diesem Sinne sind auch die Zahlengedichte zu verstehen: als rhythmische Präsentation von elementarem Material, ganz im Sinn des Bekenntnisses, daß das Zentrale am Kunstwerk sein Rhythmus sei und daß Alles Unwichtige (...) die Konsequenz des Wichtigen
stört (DLW 5/133) beschränken sich die Zahlengedichte auf den reinen Rhythmus, der wohl unmöglich noch abstrakter gefaßt werden kann. Hier eines dieser Zahlengedichte:
12
1 2 3 4 5
5 4 3 2 1
2 3 4 5 6
6 5 4 3 2
7 7 7 7 7
8 1
9 1
10 1
11 1
10 9 8 7 6
5 4 3 2 1 (DLW 5/123)318
Verschiedene Eigenheiten in Schwitters' Denken verbinden sich hier zu einer originären Kunstäußerung: Das Bedürfnis nach rhythmischer Abstraktion und elementarer Vereinfachung verbindet sich mit einem spielerischen Umgang mit der Rationalität (die Obsession für Zahlen äußert sich bei Schwitters z.B. auch in Auguste Bolte
), der Wunsch nach Allgemeingültigkeit des Ausdrucks wird mit einer gelegentlich an Schrulligkeit grenzenden Originalität vorgetragen. Die Abstraktion geht soweit, daß man 12
kaum noch als Text lesen kann, daß man eher von einer sich über die Gattung hinwegsetzenden – besser gesagt, alle Kunstgattungen unterlaufenden – allgemeinen Formel eines Kunstwerks sprechen sollte, die auf verschiedene Weise realisierbar wäre. Im Zahlengedicht realisiert sich unter Rückgriff auf elementares, nicht literarisches Material die Utopie des Gesamtkunstwerks am allen Kunstgattungen gemeinsamen Nullpunkt des rein rhythmischen künstlerischen Ausdrucks.
Die eingangs vermutete Verschiedenheit der beiden Autoren hat sich bestätigt; teilweise läuft sie auf kontradiktorische Entwicklung hinaus, teilweise auf eine noch nicht einmal in griffigen Gegensatzpaaren faßbare Differenzen. Einzelne Begriffe wie Vernunft
, Material
, Ideologie
und Originalität
haben bei Ball und Schwitters extrem unterschiedliche Bedeutungen. Schon die Biographie ist dafür repräsentativ: während Ball heftig gegen sein kleinbürgerliches Milieu revoltierte und den Kontakt zur Bohème und zur Avantgarde fand, blieb Schwitters noch jahrelang in der Konventionalität des akademischen Malers verhaftet. Fast exakt zu der Zeit – 1917 –, als sich Ball von dort zurückzog, begann Schwitters, sich mit der Avantgarde zu assoziieren. Wo Ball eine weitläufige Ausbildung hatte, mit einem gewissen Dilettantismus auf verschiedenen geistigen und künstlerischen Feldern arbeitete und sein Betätigungsfeld nach und nach einengte, erhielt Schwitters eine gezielte, lange Ausbildung, die ihm das Selbstverständnis als professioneller Künstler vermittelte, und wandte sich anderen Ausdrucksformen zu, die sich in der Utopie des Gesamtkunstwerk bündelten. Unterschiedlich sind Ball und Schwitters schließlich im Hinblick auf den verschiedenen Verlauf der Entwicklung, denn Ball weist (trotz aller festgestellten Kontinuität) eine in deutliche Phasen getrennte Biographie auf, bei Schwitters zieht sich der Riß mehr zwischen künstlerischer und bürgerlicher Existenz sowie (obwohl auch bei ihm besonders von 1917-1923 eine deutliche Entwicklungslinie zu verfolgen ist) zwischen konventioneller und experimenteller Ausdrucksweise.
Gemeinsamkeiten finden sich dort, wo es um die Öffentlichkeitswirksamkeit ihrer beider Sprachexperimente geht – beide blieben in dieser Hinsicht unbeachtet: Während Ball das Dichten fast gänzlich aufgab und mit politischen, religiösen und philosophischen Werken reüssierte, schrieb Schwitters nach einer kurzen Phase der Beachtung fast nur noch für die Schublade (ca. 70% seiner Dichtungen blieben zu Lebzeiten unveröffentlicht) und lebte von seinen Bildern. Ähnlich verhält es sich mit der allmählichen Vereinsamung beider, die allerdings bei Ball (der eine beeindruckende Liste führender Künstler und Denker zu seinem Bekanntenkreis zählte) im großen und ganzen selbstgewählt war, während Schwitters vor allem an den politischen Umständen litt und im Exil nicht wieder Fuß faßte. Die biographische Verschiebung von Ball und Schwitters sowie ihre Randstellung innerhalb des Dadaismus gibt einen wichtigen Hinweis: Können die Differenzen beider auf den Umstand zurückgeführt werden, daß sie Anfang und Ende des Dadaismus sind?
Der Vorwurf einer spielerischen, ans Alberne grenzenden Harmlosigkeit soll hier nur am Beispiel Schwitters' untersucht werden; die Unangemessenheit einer Rezeption, die das ba-umf
von Balls Karawane
einem kindlich gezeichneten Säugling auf einer Geburtsanzeigekarte in den Mund legt319, ist bei dem der Kindlichkeit nachstrebenden, aber keineswegs selbst kindlichen Hugo Ball so offensichtlich, daß ich hier kein weiteres Wort darüber verlieren muß320. Anders dagegen, wo die Bewegung als ganze angesprochen ist: rasch sind hier die Attribute spielerisch
, clownesk
oder Nonsens
zur Hand321, ohne daß präzisiert würde, warum der Dadaismus z.B. spielerischer als irgendeine andere Art von Kunst sein sollte. Mehr noch trifft dies im Fall Schwitters' zu, dessen Liebe zum Unsinn (wie er selbst es formulierte) postum mit den Geistreicheleien des nach ihm benannten Almanachs bestraft wurde; und angesichts von Versen wie
Meine süße Puppe,... scheint auch außer Ablehnung einzig augenzwinkernde Sympathie als Rezeptionsmöglichkeit übrig zu bleiben. Schwitters kannte diese Situation schon zu Lebzeiten:
Mir ist alles schnuppe,
Wenn ich meine Schnauze
Auf die Deine bautze. (Schnuppe– 1926 –, DLW 1/101)
Dada is de zedelijke ernst van onzen tijd. En het publiek valt daarbij om van het lachen. (DLW 5/122)
Sei die Reaktion nun augenzwinkernd oder schenkelpatschend: der Unterschied zu einer ablehnenden Haltung ist in beiden Fällen ein fast rein subjektiver, ein Geschmacksunterschied. Von daher kann also eine ernstzunehmende Kritik an Schwitters, wie sie Rex Last vorgebracht hat, nicht abgewehrt werden. Dieser argumentiert, Schwitters habe sich aus einer verletzten Sensibilität heraus fluchtartig vor der Realität zurückgezogen in eine abstrakte, absurde, narzißtische und oft etwas schmuddelige Exzentrikerwelt, ein Privatkosmos, bevölkert mit Phantasiewesen wie Anna Blume; die Verbindungen zum Rezipienten sind zerstört. Das Kunstwerk diene ihm nur als Mittel persönlicher Befriedigung und sei damit ohne Relevanz. Einzig in formaler Hinsicht könnten die Werke Interesse beanspruchen, inhaltlich seien sie belanglos. Dagegen läßt sich allerdings einiges einwenden.
Tran-Schriften zu verteidigen) – kann sich offenbar keine andere Relevanz vorstellen als einen möglichst direkten, politischen Gesellschaftsbezug. Hätte er z.B. das
Manifest Proletkunst(DLW 5/143f) rezipiert322, hätte er aus dieser wie aus zahlreichen anderen Schriften entnehmen können, daß es sich bei Schwitters' Kunst nicht um ein ängstliches Verstecken vor der Realität handelt, sondern daß die Ausgrenzung der Politik wie der
Realitätdurchaus bewußt und künstlerisch konsequent erfolgt. Die Kunst wird über und jenseits des Tagesgeschehens situiert, sie, nicht die Einmischung in
aktuelleFragen, gilt ihm als wahrer Aus- und Abdruck der Zeit. Es ist darüber hinaus klar, daß Schwitters mit dieser Haltung zwar innerhalb des Dadaismus (besonders des deutschen) relativ isoliert ist, aber in der Literatur- und Geistesgeschichte an die unübersehbare, bis heute wirksame Traditionslinie bürgerlicher Kultur anknüpfen kann. In der Architektur, in der Typographie und auch in anderen Kunstäußerungen offenbart sich darüber hinaus ein (auch ausdrücklich so formulierter) Wille, aus der Kunst heraus das Leben umzugestalten.
Solche Mißverständnisse kommen jedoch nicht nur von einem falsch rezipierten Nonsens. Zum einen nehmen sich Schwitters' versöhnliche Gesten, Menschen egal welcher Fahne sollten sich bei der Kunst ausruhen für ihre tägliche Arbeit, im Kontext des Dadaismus, wo man Bürgerlichkeit nicht vermuten würde323, offenbar so befremdlich aus, daß die Verbindung zu den Traditionen dieser Haltung nicht sofort herstellbar ist; die fast provozierende Harmlosigkeit von Schwitters' Formulierungen scheint denn auch eher zu putziger Kitschmalerei und Groschenheften als zu einem der avanciertesten experimentellen Künstler zu passen.
Zum anderen ist die Sicht Lasts einseitig, das heißt aber auch, sie ist nicht völlig unzutreffend. Es ist richtig, daß Schwitters' Dichtungen Züge eines in sich geschlossenen Privatkosmos haben mit immer wiederkehrenden gleichen Elementen, richtig, daß er sich vor der Realität in sich selbst zurückzieht. Was Last dabei aber verschweigt: Abstraktion, um die es hier geht, ist eben nicht der Rückzug in private Beliebigkeit, sie ist – so die Intention – die allgemeine Aufarbeitung des Kontingenten ins in sich ruhende Kunstwerk, also genau das Gegenteil von harmloser Spinnerei
. Aus der Abstraktion heraus wirken die Werke wieder auf den Betrachter, lösen Reaktionen aus, die oft sehr heftiger Natur sind – man sehe dazu die Berichte von den Merzabenden oder die Heftigkeit der (künstlerisch mannigfach aufgearbeiteten) Anfeindungen zahlreicher Kritiker. Aus dem Verstoß gegen die Konvention ergibt sich eine Befreiung, aber die Willkür ist geformt zum Neuen, zu einer neuen Ästhetik. Und Ästhetik ist kein bürgerliches Hobby und kein Narzißmus, sondern eine organisierte Umgestaltung des menschlichen Lebens aus der Kunst heraus (was man schon bei Schiller lesen kann). Es ist diese schon mehrfach angesprochene, fast schizophrene Ambivalenz zwischen artifiziell-konstruierender und volkstümlicher, lebensfroher, unpathetischer, auch bürgerlich-tüchtiger Lebenseinstellung, die – im günstigen Fall!324 – durch eine den Nonsens nicht scheuende Ironie vermittelt wird.
Was diese Kritik Lasts so interessant macht, das ist der Umstand, daß Reizworte wie Flucht
oder Privatkosmos
Dauerbrenner in der Hugo-Ball-Rezeption sind. Und hier zeigt sich, daß die Harmlosigkeit
eben doch auch auf Ball bezogen ist, wenn auch mit etwas anderen Symptomen: Nicht der spielerische Unsinn, der bei Ball kaum auszumachen sein dürfte, sondern seine Fluchten
liefern die Munition für eine Kritik der Harmlosigkeit – Philipp übernimmt geradezu die Argumentation Lasts und überträgt sie auf Ball. Daß das überhaupt durchführbar ist (wenn auch im einzelnen zweifelhaft), verweist auf eine bemerkenswerte strukturelle Parallele beider, deren Allgemeingültigkeit für den Dadaismus in einem weiteren Schritt noch zu prüfen wäre: Was bei Last bzw. Philipp325 unter dem negativen Vorzeichen eines Regresses in eine verabsolutierte Privatwelt steht, läßt sich unproblematischer und ohne wertenden Akzent als ein Rekurrieren des vereinsamten Künstlers auf die individuelle Basis beschreiben. Folgt man dieser Linie weiter, so erkennt man, daß dieses innere Exil des schöpferischen bzw. reflektierenden Individuums unter dem Vorzeichen einer Erneuerung aus dem Individuum heraus steht, daß also nach einer Phase läuternder Sammlung das verlorene Territorium zurückgewonnen werden soll; daß ferner dieses Exil
durchaus gelebt wurde, das Wiederausgreifen des Einzelnen auf die Allgemeinheit jedoch bis auf geringe Ansätze Utopie blieb. Von hier aus läßt sich auch der Unterschied zwischen Ball und Schwitters (auf eine mögliche Weise) prägnant fassen: Während Schwitters die Kunst als Basis zugrundelegt und von dort aus auf das Leben ausgreifen will, gibt Ball künstlerisches Schaffen auf und versucht auf das Leben direkt (aber auf das eigene als repräsentatives Individuum und erst in zweiter Linie auf das der Allgemeinheit) einzuwirken.
Damit ist das problematische Verhältnis zwischen dem Einzelnem und der Gesamtheit angesprochen – der menschlichen Gesellschaft ebenso wie ihrer kulturellen und künstlerischen Traditionen. Bei Ball ist das Problem komplex: Nicht nur stehen sich anarchistisch-individuelle und totalitäre Lösungsansätze gegenüber, sie sind auch miteinander verschränkt, wenn anarchistische Ideen als alles übergreifendes Welterklärungsmodell funktionalisiert werden und wenn andererseits das isolierte Individuum im Sinne des Totalitarismus rebelliert. In seinem Kandinsky
-Aufsatz wurde die Destruktion des Subjekts halb festgestellt, halb beklagt; der spätere Rekurs auf eine individuelle Basis sucht die Verschmelzung mit dem objektiven Geist Gottes, die als höchste Vollendung des Individuums dessen gleichzeitige Auslöschung als solches bedeutet – hier sei wiederum an die sprachgewaltige, aber bedenkliche Darstellung dieses Umschlags in BC erinnert. Um den Problemen der Gegenwart zu entkommen, wählt Ball den für sie typischen Weg des Individualismus, der sich schließlich selbst aufhebt; der ewige Rebell Ball lehnt den Akt der Rebellion als destruktive, typisch deutsche Originalitätssucht ab und gerät gerade dadurch zwischen die Stühle. Ball verbindet so Irrationalismus und Antiindividualismus zu einer politisch explosiven, dem Faschismus durchaus analogen Mischung.
Schwitters vertrat, wie schon mehrfach erwähnt, im Politischen die Position des bürgerlich-liberalen Demokraten, der sich für die Wahrung der Rechte des Individuums und für Toleranz einsetzt – eine Toleranz, die im Alter zu einem resignierten Agnostizismus wurde (Alles stimmt, aber auch das Gegenteil
– Briefe S.159, 26.2.1940, an Käte Steinitz). Das ist allerdings hier nicht entscheidend, da politisch-philosophisch-religiöses Denken bei Schwitters und bei Ball nicht den gleichen Stellenwert einnimmt; ein angemessener Vergleich kann nur durch die Gegenüberstellung von Balls Denken mit Schwitters' Ästhetik erzielt werden. Ein oberflächlicher Blick scheint dabei zum gleichen Ergebnis zu kommen: Die Vermerzung des Heterogenen zu einer neuen Einheit, dem Kunstwerk, unter Wahrung des individuellen Charakters der Gegenstände scheint Schwitters' politische Ansichten allegorisch wiederzugeben. Diese Sichtweise bedarf jedoch einer Präzisierung. Es war eines der wichtigsten Ergebnisse des 2. Kapitels dieser Untersuchung, daß Schwitters um 1923 eine keineswegs dramatische, aber deutlich spürbare Akzentverschiebung in seinen ästhetischen Positionen und Verfahren durchgemacht hat. War die Ein-Mann-Bewegung Merz bis zu diesem Zeitpunkt eher als (proto-) konstruktivistisch gefärbter Dadaismus individueller Prägung zu beschreiben, so wandelte sie sich allmählich zu einem (post-) dadaistischen Konstruktivismus von nach wie vor höchst individueller Prägung. Die Zuwendung zum Objektiven, die Faszination einer abstrakten Sachlichkeit und das Aufgehen in der Konstruktionslogik lösen die sprunghafte, freirhythmische Gestaltung der ersten Merzphase ab, ja, es kommt sogar zu Ansätzen einer rigiden Normästhetik; der Künstler tritt hinter dem Werk zurück. Diese stärkere Objektivierungstendenz ist nicht hervorgerufen durch die stärkeren Sachzwänge in Typographie, Reklame und Architektur, sie kommt vielmehr in der Verlagerung der Interessen auf diese Gebiete zum Ausdruck.
Modifiziert man die Frage nach der Individualität dahin, daß man diese nicht der Objektivität, sondern der kulturellen Tradition gegenüberstellt, so stoßen wir auf das Problem des Neuschaffens. Auch hier scheinen Ball und Schwitters diametral verschieden: Lehnte Ball das Überkommene so sehr ab, daß er nicht einmal die überkommene Sprache gelten ließ, so provozierte Schwitters die Kunstszene durch Verwertung von Abfällen in Bild, Plastik und im übertragenen Sinn auch in der Dichtung. Biographisch hat dieser Umstand eine Parallele darin, daß Hugo Ball als Erfinder des Dadaismus, Schwitters dagegen von den Dadaisten als Epigone gesehen wurde. Letzteres ist natürlich eine problematische Einschätzung: Schwitters wurde deswegen anfangs als Epigone rezipiert, weil er unter ausgiebigem Rückgriff auf den Dadaismus einer der ersten postdadaistischen Avantgarde-Künstler war – durch diese Schnittstellenposition erklärt sich auch der Widerspruch zu einer anderen Rezeptionslinie, in der er als bedeutender Neuerer verstanden wird. Andererseits ist die Neigung Schwitters' zur Aneignung fremder Gedanken bekannt (so z.B. profitierte er sehr durch die Bekanntschaft mit Arp und Hausmann) – positiv formuliert, eine geradezu postmodern anmutende Offenheit, die auf den von Ball als destruktiv beklagten raschen Ideenverschleiß reagiert. Der Widerspruch einer Kunstauffassung, die alles neu schafft, und einer, die aus Abfällen schafft, reduziert sich auf die Frage, auf welchem Weg (und nicht ob oder ob nicht) das Neue geschaffen werden soll. Was sich psychologisch in den Gegensatz zwischen einer gelegentlich an Fanatismus grenzenden Selbstreinigung und einem sentimentalen Mitleid mit dem Unbrauchbaren fassen läßt, ist in erster Linie Ausdruck eines anderen Zeitverständnisses, das durch den historischen Wandel in den kurzen drei Jahren zwischen 1916 und 1919 hervorgerufen wurde: die expressionistisch-dadaistische Destruktion des Alten (die sich später gegen sich selbst wandte) war von der Realität nachvollzogen worden, ein dadaistisch-konstruktivistischer Neubeginn versuchte eine (zunehmend objektbewußte, von künstlerischer Logik
diktierte) Läuterung des sinnentwerteten Materials. Schwitters' Merzkunst ist die historisch adäquate Reaktion auf die Situation Deutschlands im Jahr 1919.
Die Grundtendenz lautet bei Ball wie bei Schwitters: Die Bewegung aus der unruhigen, von gestalterischer Willkür geprägten Dadaphase ist von einer im Extremfall dieser kontradiktorisch widersprechenden Zuwendung zum Objektiven bestimmt. Dabei zeigt sich im Biographischen, daß das sich isolierende Individuum nicht mehr ohne weiteres in eine größere Gemeinschaft zurückfindet: Schwitters' Beziehung zu den Konstruktivisten war zwar keineswegs so konfliktreich wie die Balls zu den Katholiken, doch ist er unter ihnen nur teilweise angenommen und nie als einer von ihnen gesehen worden. Eine Parallelisierung von Balls Religiosität und Schwitters' Kunst erwies sich als tragfähig – in beiden wird das wertlose Einzelne in einen höheren Zusammenhang integriert, beide sind das zentrale Anliegen ihrer Träger, genießen eine ebenbürtige Dignität und greifen nach außen hin aus. Die mehr individualistische oder mehr objektivistische Akzentuierung entscheidet darüber, ob das Ganze eher einen sich anarchisch-frei anordnenden oder eher einen von der Suprematie einer höheren Ordnung geprägten Charakter annimmt326. Im übrigen sammeln sich noch zu verdichtende Indizien an, daß Ball und Schwitters nicht nur historisch Anfangs- und Endpunkt des Dadaismus markieren – eine These, durch die die Fragestellung dieser Untersuchung in einem anderen Licht erschiene.
Ein irrationales Weltbild spielt offenbar eine gewisse Rolle für den Dadaismus; was diesen Punkt hier besonders interessant macht, ist der fast diametrale Gegensatz von Ball und Schwitters darin: Eine, wenn nicht die wesentliche Konstante in Balls geistiger Entwicklung ist seine Opposition zum Rationalen, zur Verwendbarkeit, zum Bürgerlichen. Der im Unterschied zu dem reflektierten Ball sich so verrückt
gebende Schwitters blieb dagegen der liberalen, urbanen Tradition des gehobenen Bürgertums mit Zentralwerten wie Toleranz verhaftet, basierend auf einer vernunftgeprägten Weltordnung. Die Eigenwerbung, der Bluff
, die kommerzielle Fähigkeit, als künstlerischer Außenseiter in halbwegs gesicherten Verhältnissen zu leben – diese durchaus dadaistischen
Eigenschaften von Schwitters sind ausgesprochen rational unter ihrer grellen Maske. Daraus ergeben sich Fragen:
hochbegabten Kleinbürgers, mit bürgerlicher Vernunft, Ästhetik und Geschäftssinn mit einer radikal irrationalen Lebensauffassung zu flirten, in sich brüchig, an Schizophrenie grenzend, die Vernunft verhöhnend und den Irrationalismus verharmlosend? Der Vorwurf hat eine gewisse Berechtigung, zu offensichtlich ist die Zwiespältigkeit bei Schwitters. Er relativiert sich jedoch, wenn man Schwitters nicht mehr als Dadaisten sieht, sondern seine theoretischen Schriften ernst nimmt und Merz als die Überwindung des Dadaismus mit dessen eigenen Mitteln, aus sich selbst heraus also, auffaßt.
Dem konsequenten Irrationalismus und Antimaterialismus, dem Ball als Kind seiner Zeit anhing, scheint bei Schwitters eine Spaltung rationaler und irrationaler, materialistischer und idealistischer Ideen gegenüberzustehen. Im letzten Abschnitt des Schwitters-Kapitels deutete ich jedoch die Möglichkeit an, in ihm einen konsequenten
Rationalisten zu sehen, eine Konsequenz, die aus dem Rationalismus herausführt, wie Schwitters sehr anschaulich in der Erdbeere
oder in Auguste Bolte
vorgeführt hat. Rationalistische Methoden werden konsequent angewendet, um das rationalistische Weltbild zu zerstören, und der Materialismus wird ebenfalls wörtlich genommen, indem das Interesse nicht einer philosophischen Idee oder dem sehr immateriellen Geldbesitz gilt, sondern dem individuellen Gegenstand. Während sich Ball also dem Irrationalismus näherte, wandte sich Schwitters einem Rationalismus zu – beide auf ihre Weise isoliert, kehrten sie in das zurück, was als ihre geistige Heimat angesehen werden muß.
Ich setze das Wesen des Dadaismus als Negativität. Dies ist nur scheinbar ein Widerspruch zu der auch von mir akzeptierten Differenztheorie Homayrs, da sie sich auf die literarische (und künstlerische) Praxis, nicht aber auf das theoretische Verständnis des Dadaismus, das hier interessiert, bezieht; dadurch erhält meine eingangs dargestellte Annahme sogar eine Bestätigung, da es plausibel erscheint, das innovative Potential in der Theorie, die Momente der Kontinuität als aus der Praxis herrührend zu situieren. Dadaismus wird somit nicht als Epochenbegriff (Avantgardebewegungen 1916-1923
), sondern als idealer Grenzwert verstanden, der von den Dadaisten tangiert wurde und der zugleich ihren wichtigsten (einzigen?) Verbindungspunkt darstellte. Historisch ist die Entwicklungsgeschichte des Dadaismus so vorzustellen, daß sie von einer Zeitkritik ausging, die immer umfassendere Züge annahm und die sich schließlich zur prinzipiellen Negativität verdichtete.
Aus dieser Proposition heraus ergibt sich aber ein schwerwiegendes Problem: reine Negativität führt zum Selbstwiderspruch. Denn nicht nur, daß das Nichts als solches vorgestellt bereits zum Etwas wird, zumindest zu einem Begriff; schwerwiegender ist, daß die Verneinung selbst bereits eine Position ist, die wiederum der Verneinung zu unterliegen hat, und so fort. Die Idee absoluter Negation reißt damit den Abgrund eines unendlichen Regresses auf. Eine Befreiung aus diesem Regreß ist nur auf eine Weise möglich, nämlich durch die Negation nicht der vorangegangenen Negation, sondern des negativen Prinzips selbst, Selbstwiderspruch und Konsequenz zugleich. Die elementare (und als solche willkürliche), positive Setzung durchbricht den Teufelskreis, und sie vollzieht sich für einen Künstler durch die Schaffung des Kunstwerks. Das dadaistische Kunstwerk ist also in diesem Sinn eine contradictio in adiecto, ein Paradox: das Kunstwerk ist die Überwindung des Dadaismus aus sich selbst heraus, mag es auch Staat, Gesellschaft, Religion, Kunst, auch seinen Schöpfer oder sich selbst angreifen, verhöhnen und der Lächerlichkeit preisgeben. Negativität ist eine Paradoxie, die ihre Überwindung in sich selbst trägt, und insofern war der Dadaismus notwendig eine kurze Übergangsperiode. Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein
327 – die von sich selbst abverlangte kontinuierliche Revision eigener Positionen und der Selbstwiderspruch auf höherer Ebene der Fortsetzung künstlerischen Schaffens führten bald zu einer Aufreibung und Zuwendung zu weniger komplexen Denkmustern, der Ismus drängt Dada zurück.
Der Schluß des Prozesses ist die bewußte Neusetzung. Die anfangs kritisierten Instanzen werden nun uminterpretiert zu den eigentlichen destruktiven Negativa, denen eine neue Position (und als solche wird post festum nun auch der Dadaismus
verstanden) entgegengesetzt werden mußte, ausdrücklich bekämpft man nun das Dáda
der Zeit. Damit schließt sich das Bild vom Dadaismus als ambivalenten Kulturwendepunkt, in dem die negative Destruktion des Alten und die positive Neuschöpfung in spannungsreichem Verhältnis zueinander stehen; eine Spannung, die bis heute ungebrochene Faszination auf den Rezipienten ausübt, da bislang weder ihr negativer noch ihr positiver Aspekt gänzlich ausgelotet zu sein scheinen, so daß von hier aus durchaus nach innovativem Potential für die weitere Entwicklung von Literatur und Kunst gesucht werden kann.
Es bliebe also abschließend noch zu klären, wo und wie die beiden besprochenen Autoren in diesem Modell anzusiedeln wären. Die oben ausgesproche Vermutung, daß Ball und Schwitters Anfangs- und Endpunkt des Dadaismus nicht nur in historischer, sondern auch in logischer Hinsicht sind, erklärt nicht nur eine gewisse Randstellung beider innerhalb der Bewegung, sondern auch eine äußerst verschiedene Entwicklung, deren Parallelen sich erst auf den zweiten Blick erschließen. Hugo Ball käme also die Rolle zu, den Dadaismus aus der Quintessenz der europäischen Avantgardebewegungen, also dem Expressionismus, dem Futurismus und dem Kubismus, auf den Weg gebracht zu haben. Eine Untersuchung von Balls Frühwerk zeigte denn auch eine zunehmend verallgemeinerte Negativität und Aggressivität, die bereits vor dem Dadaismus die Grenzen des Expressionismus sprengte; ja, wirft man einen Blick auf die Baley-Texte und hält sich ihre ungeheure Destruktivität vor Augen, so erhält man den Eindruck, Ball habe seine logische Dada-Phase bereits abgeschlossen, als seine historische begann; denn 1916/17 sind die Äußerungen Balls von einem latent mystisch-freireligiösem Ton durchsetzt, der sich als expressionistischer Rest ausnimmt und der in späteren Schriften akut wurde. Zwar wurde festgestellt, daß Balls Literarisches Manifest
von 1915 die Paradoxien der Negativität noch nicht reflektiert, doch ist es einerseits als erster Schritt logisch, die Position der Negativität vorerst einfach zu vertreten, und andererseits ist bei Ball nur sehr sporadisch – etwa im Ersten dadaistischen Manifest
oder in Tenderenda
328 – die dem Dadaismus wesentliche Reflektion auf die eigene Negativität erkennbar. Daß Ball offenbar Schwierigkeiten hatte, die dadaistische Negation in vollem Maß mitzutragen, beweist sein frühes Ausscheiden aus der Bewegung; abgeschreckt von ihr, wandte er sich einer rigiden Hierarchie zu. Balls Biographie sehe ich also als den Weg eines radikalen Expressionisten, der über die Grenze seiner eigenen Bewegung hinaus auf Neuland vorgedrungen ist, sich dort jedoch nicht zurechtfinden konnte und fortan heimatlos zu seinen Wurzeln zurücksuchte.
Schwitters dagegen dürfte der letzte bedeutende Dadaist sein, der zu der Bewegung gestoßen ist; im Jahr 1919 erreichte der Dadaismus zumindest in Deutschland seinen Höhepunkt, um schon bald darauf niederzugehen. Der Dadaismus war somit für ihn bereits eine feste Bezugsgröße, als er Kontakt mit der Avantgarde bekam, und wenn er über ihn schreibt, dann ist bereits jene gelegentlich verklärende historische Distanz zu spüren, die in der späteren Literatur zum Thema noch mehr zum Tragen kam. Aus dieser Situation heraus konnte er den Weg zum Dadaismus sehr rasch abschreiten. Auch bei Schwitters erleben wir das Phänomen, daß frühe Arbeiten wie Undumm
am nächsten an die Destruktivität eines idealen
Dadaismus herankommen; Späteres dagegen weist schon deutlicher seine positiven Ideen auf. Die Merzästhetik war von Anfang an ein Versuch, das durch den Dadaismus herbeigeführte Vakuum auszufüllen; schon seine ersten programmatischen Schriften beziehen klar diese Position. Die durch die geistige und physische Destruktion zu sinnlosen Trümmern entwertete Welt wird mit Logik und Kreativität neu zusammengesetzt, ein Verfahren, das die Negation des Dadaismus mitreflektiert und zugleich überwindet. Der Wille zum Neubeginn nimmt im Einfachen Gestalt an – in der doppelten Bedeutung des mathematisch Elementaren und des Schlichten, Naheliegenden. Die zunehmende Distanz zur Destruktion drängt die dadaistischen Reste zurück, die gestaltende Position drängt nach stärkerer Geltung und nähert sich dem Konstruktivismus an: auf diese Weise überwindet Schwitters die dadaistische Krise, während Ball, im Bemühen, sie möglichst grundlegend zu besiegen, weit hinter die Moderne zurückfällt.
Die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten dieser Wege, die von zwei verschiedenen Seiten der Geschichte den Neubeginn, die elementare positive Setzung suchten, stecken das Terrain der tiefgreifendsten geistigen Krise des 20. Jahrhunderts ab.
Sturm-Kreises. (= UTB 527). München 1980.
Nietzsche in Baselund
Tenderenda der Phantast]
Als Enthusiast wurde ich geboren. Zu Hugo Balls Herkunft. Anläßlich seines hundertsten Geburtstags. Siegen 1986 (= Vergessene Autoren der Moderne 18).
Verfügbar waren für mich nur Texte, die mit einem vertretbaren Aufwand zu erhalten waren – was bei der äußerst benutzerunfreundlichen Fernleih-Praxis nur ein Bruchteil des zugänglichen Werks war, zumal ich keine Möglichkeit hatte, das Hugo-Ball-Archiv in Pirmasens aufzusuchen. Diesen Einschränkungen fallen neben zahlreichen verstreuten, auch postum veröffentlichten Texten insbesondere die in Zeit im Bild
und Freie Zeitung
publizierten Aufsätze zum Opfer, soweit nicht in Der Künstler und die Zeitkrankheit
abgedruckt.
Sonnenuntergang)]
Aktion, zusammen mit 28 anderen Unterzeichnern]; Zwei Briefe [Offener Brief an Karl Kraus, zusammen mit Klabund]; Die Sonne. In: Die Aktion 3 (1913) Sp.646, 811f; Die Aktion 4 (1914) Sp.2f, 56f, 185f, 532f, 538f, 478f.
Totenredevon Hugo Ball als Nachwort. Hrsg. v. Karl Riha und Franz-Josef Weber. Siegen 1985 (= Vergessene Autoren der Moderne 7) [= Leybold]. S.28-36. [ursprgl. veröff.: Baley-Gedichte: Die Aktion 4 (1914); Totenrede: Die weißen Blätter 2 (1915).]
Weitere Briefe, Texte, Zeugnisse und Dokumente Balls werden kontinuierlich im Hugo-Ball-Almanach veröffentlicht.
Inneren Klang. Anmerkungen zum Material–, Künstler- und Werkbegriff bei Wassily Kandinsky und Hugo Ball. In: Hugo-Ball-Almanach 7 (1983). S.17-55.
neuenoder Nachträge zu der
altenLegenda Aurea? Zu Hugo Balls nachdadaistischer Lyrik. In: Hugo-Ball-Almanach 9/10 (1985/86). S.321-373.
Phantastenromanim kulturgeschichtlichen Kontext zwischen 1914 und 1920. (= Marburger Studien zur Literatur 6). Marburg 1992.
Literarisches Manifestvon Hugo Ball und Richard Huelsenbeck. In: Hugo-Ball-Almanach 9/10 (1985/86). S.63-180.
Flucht aus der Zeit? Anarchismus, Kulturkritik und christliche Mystik – Hugo Balls
Konversionen. (= Analysen und Dokumente. Beiträge zur Neueren Literatur 21). Frankfurt/Main / Bern / New York (Diss.) 1985.
Bürger und Idiot. Beiträge zu Werk und Wirkung eines Gesamtkünstlers. Mit unveröffentlichten Briefen an Walter Gropius. Hrsg. von Gerhard Schaub. Berlin 1993.